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Gabriel and the Mountain

Einer, der auszog, sich selbst zu verlieren. Faszinierend zwischen Fiktion und Dokument changierend, zeichnet Fellipe Barbosa die letzten Spuren eines jungen Mannes nach, der am Lebenshunger starb.

Text: Patrick Straumann / 09. Jan. 2018

Gabriel and the Mountain beginnt mit einer fünfminütigen Plansequenz, die zwei Bauern beim Mähen in einer blühenden Weidelandschaft verfolgt und mit der Entdeckung eines Leichnams endet. Der Film, der darauf folgt, ist als Rückblick konzipiert: Gabriel Buchmann, ein Jugendfreund des Regisseurs, hat sich 2009 nach einem erfolglosen Versuch, in Harvard ein Doktorandenstipendium zu erhalten, zu einer Weltreise entschlossen, die ihn nach einem Aufenthalt in Indien ins «Herz Afrikas» und schliesslich auf jenen Mount Mulanje im Grenzgebiet zwischen Malawi und Moçambique führte, auf dessen Hängen er nach einem unvorbereiteten Aufstieg an Kälte und Erschöpfung gestorben ist.

Die Reiseszenen liefern Fellipe Barbosas Kamera die zentralen Motive zu einem tropischen Roadmovie, das bisweilen die Konturen eines Werner-Herzog-Films annimmt. Kenia, Tansania (mit einem Abstecher auf den Kilimandscharo) und Sambia sind die Stationen, die der junge Brasilianer vor seinem Tod im Bergmassiv durchlaufen wird. Im kenianischen Hochland erhält er im Rahmen seiner Initiation als Massai einen neuen Namen: Lemayan oder «der Meistgesegnete». Fortan kleidet er sich in traditionelle Stoffe (obschon sich die Dorfjugend am liebsten im Sportdress zeigt) und setzt in den Städten auf die Gastfreundschaft von Zufallsbekanntschaften, um Hotelkosten zu sparen. Auch seine Obsessionen erinnern bisweilen an die Protagonisten von Fitzcarraldo und Aguirre, der Zorn Gottes — so etwa sein (stets ironisch heruntergespielter) Mystizismus, der in Panik umschlägt, als er am Strand von Sansibar seinen «Hirtenstab» verliert, sowie (später) seine Anflüge von Megalomanie, die ihn schrittweise von seinem Umfeld isolieren und ihn schliesslich, als er den Bergführer seiner letzten Expedition dispensiert, das Leben kosten.

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Eine spezifisch brasilianische Thematik streift der Film, als Gabriels Freundin Cristina während einiger Wochen zu ihm stösst, um ihn auf seiner Reise zu begleiten. Die Spannungen, die ihre zunächst harmonische Paarbeziehung allmählich belasten, sind vor allem ihrem Stand als Weisse geschuldet: Während Gabriel seinem Status als Ausländer mit einem an Naivität grenzenden Idealismus zu entkommen versucht, scheint Cristina ihre diesbezüglichen Privilegien sichtlich zu geniessen. Offen tritt der Konflikt schliesslich bei ihren politischen Disputen zutage, die sich rasch an den gesellschaftlichen Bruchlinien orientieren, die Brasilien durchziehen: Cristina glaubt an eine staatlich regulierte und auf Umverteilung abzielende Ökonomie, wogegen Gabriel die Zukunft ihrer Heimat in einer marktorientierten Wirtschaft sieht.

Mit den Diskussionen, die das Paar während einer Busreise führt, knüpft Fellipe Barbosa an die Problematik seines Erstlings, Casa Grande, an, der sich mit Feingefühl und Intelligenz den fliessenden Konturen der heimischen Klassengesellschaft angenommen hatte. Mehr als einer erneuten Erörterung der nationalen Missstände scheint sich der Film hier jedoch der Vergegenwärtigung von deren Ursprung verschrieben zu haben: Sowohl Cristinas soziales Engagement als auch Gabriels Versuch, sich in Afrika bis zur Selbstaufgabe zu verlieren, gründen in erster Linie auf ihrem latenten Schuldgefühl gegenüber dem Kontinent, der Brasilien während dreier Jahrhunderte ein millionenstarkes Kontingent an Sklaven geliefert hat.

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Dass sich das Bewusstsein dieses Erbes auch im ethischen Anspruch der Regieführung niedergeschlagen hat, zeigt sich unter anderem in der Subtilität, mit der die inszenierten Szenen mit dokumentarischen Momenten kollidieren. Die Rollen von Gabriel und Cristina werden mit João Pedro Zappa und Caroline Abras von Schauspielern verkörpert, die Nebenfiguren jedoch – der Truckfahrer, der Schullehrer aus Sambia, der Safari-Guide – sind von jenen Männern und Frauen gespielt, die dem echten Paar während seiner Reise begegnet sind (auch die Drehorte entsprechen ausschliesslich den Originalschauplätzen). Die Idee, den fiktionalen Raum auch der Wirklichkeit gegenüber zu öffnen, erinnert nicht zuletzt an die Arbeiten von Jean Rouch und scheint auch von dessen politisch-ästhetischem Kredo einer «geteilten Anthropologie» geprägt, in der es nicht einfach darum geht, Vorgänge angeblich objektiv abzubilden, sondern die porträtierten Menschen selbst den Film mit- und umgestalten zu lassen. Wie bei Rouch ist es auch hier die Symbiose von Re-Inszenierung und Authentizität, Ins-Bild-Bringen und Abwesenheit, die dem Film seine faszinierendsten Momente verleiht.

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Wie effizient diese Methode sein kann, beweist die Sequenz, in der der Protagonist gleich zu Beginn seiner Reise beim Familienmahl in Kenia einem Kind begegnet, das von dessen Vater «in Erinnerung an seinen brasilianischen Freund» Gabriel getauft wurde: Spurensuche und Beschwörung finden hier zusammen, die Realität abbildende Funktion der Filmsprache ist ebenso zentral wie deren magische Kraft, Unfassbares zu evozieren. Die «Schatten» der Vergangenheit werden die Figur denn auch bis ans Ende begleiten – und sei es nur, weil sich die Nebendarsteller von der Kamera öfter zur Erwähnung ihrer persönlichen Erinnerungen an Gabriel Buchmann verleiten lassen.
Man kann die entsprechenden Echoräume in Gabriel and the Mountain als eine ästhetische Bereicherung empfinden, allerdings stehen sie stets auch für eine tiefer greifende Überzeugung: Wie der Bergführer in seiner Verzweiflung über das Hinscheiden seines Kunden eloquent zum Ausdruck bringt, pflegen die Toten in der Welt der Lebenden einen ausufernden Platz einzunehmen. Faszinierend ist, dass Fellipe Barbosa dieses Glaubensbekenntnis offenbar auch zum Regieprinzip erhoben hat.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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