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Filmmagazine

Adrian Martin und Cristina Álvarez López

In der Dokumentation «For the Love of Movies» über die Geschichte und Krise der amerikanischen Filmkritik berichtet der Bostoner Filmjournalist Gerald Peary über Entlassungen von Kollegen, den Bedeutungsverlust der Filmkritik und die Kluft zwischen Print und Internet. Seitdem sind die Dinge, auch in Europa, nur noch schlimmer geworden. Doch gibt es auch neue Möglichkeiten?

Text: Michael Ranze / 04. Juni 2014

Ich würde Sie zunächst bitten, sich vorzustellen. Wann begannen Sie, sich für Film zu interessieren, was machen Sie nun?

Cristina Álvarez López Ich interessiere mich seit langem für Film, schon als Teenager ging ich viel ins Kino. Vor zehn Jahren begann ich, Filmgeschichte und -kritik zu studieren. Mich interessierte das Kino und das Schreiben, und so brachte ich beide Dinge zusammen. Vor fünf Jahren gründete ich zusammen mit drei Freunden «Transit», ein spanisches Onlinemagazin. Wir wollten einen Raum schaffen, bei dem sich Kritik mehr mit Bildern und Tönen beschäftigt. Die Idee dahinter: audiovisuelle Essays ins Netz zu stellen, in dem wir Bilder und Töne beispielhaft herausstellen können. Um audiovisuelle Essays geht es auch bei dem Seminar, das wir, Adrian und ich, in diesem Jahr an der Goethe-Universität in Frankfurt geben.

Adrian Martin Auch ich interessierte mich schon als Teenager fürs Kino und begann bereits sehr früh, über Film zu schreiben. Mit neunzehn Jahren wurden meine Texte in Filmmagazinen in Australien veröffentlicht. Ich habe fünfzehn Jahre lang für die Tageszeitung «The Age» Filmkritiken geschrieben. Ich habe auch immer an Universitäten gelehrt, vor allem an der Monash University in Melbourne, wo ich als Senior Research Fellow für die Film- und Fernsehwissenschaften tätig bin. 35 Jahre schreibe ich jetzt schon als Filmkritiker, da kommt eine Menge zusammen. Ich habe auch mehrere Bücher veröffentlicht, zum Beispiel über Raúl Ruiz oder die Mad-Max-Filme. Darüber hinaus bin ich Herausgeber mehrerer Magazine. In den letzten zehn Jahren habe ich das Onlinemagazin «Rouge», jetzt vor allem aber «Lola» kuratiert.

Ich möchte gern mit Ihnen über die Krise der Filmkritik sprechen, die schon seit einigen Jahren andauert. 2009 erschien die Dokumentation For the Love of Movies über Geschichte und Krise der amerikanischen Filmkritik. Gerald Peary, Filmjournalist aus Boston, berichtet darin über Entlassungen von Kollegen, den Bedeutungsverlust der Filmkritik und die Kluft zwischen Print und Internet. «Filmkritik ist heute ein bedrohter Beruf. Variety zufolge haben 28 Kritiker in den letzten Jahren ihre Jobs verloren.» Mit dieser Schrifttafel beginnt der Film. Seitdem sind die Dinge, auch in Europa, nur noch schlimmer geworden.

Adrian Martin Ich habe sehr ambivalente Gefühle gegenüber diesem Problem. Meiner Meinung nach arbeitet ein grosser Teil der Filmkritiker gar nicht professionell – im Sinne einer bezahlten Tätigkeit. Nehmen Sie nur als Beispiel das wichtige französische Filmmagazin «Positif», das es seit 1952 gibt. Niemand ist jemals bezahlt worden für irgendetwas, was in der Zeitschrift steht. Es ist in diesem Sinn, wenn Sie so wollen, eine Amateurzeitschrift, und das ist sie immer geblieben. Viele wichtige Bewegungen sind dadurch entstanden, dass sich Freunde zusammentaten und gemeinsam etwas auf die Beine stellten, was sie nirgendwo anders fanden. Sie taten es einfach, sie stellten eine Öffentlichkeit her. Damals musste man noch eine Zeitschrift drucken, heute stellt man die Texte online – was sehr viel billiger ist. Ich glaube, dass der Professionalismus innerhalb der Filmkritik, also für Texte, Radiobeiträge oder TV-Sendungen bezahlt zu werden, nur eine kurze Episode war, so eine Art Interregnum. Bezahlt zu werden, um zu schreiben, ist nicht mehr der Kern der Filmkritik. Es wäre natürlich schön, wenn wir alle bezahlt würden für das, was wir machen. Aber wahre Filmkritik wird immer eine marginale Aktivität sein, sie hat innerhalb der Medien eine Aussenseiterposition. Es gab natürlich in vielen Ländern das goldene Zeitalter, wo jemand als Filmjournalist bei einer Tageszeitung sogar festangestellt war. Das allerdings ist vorbei oder wird nicht mehr lange andauern. Man kann Filmkritik nicht mehr dadurch definieren, dass man bezahlt wird. Viele unterstützen Filmkritik durch andere Aktivitäten. Ich habe Kritiker getroffen, die sogar als Zahnärzte arbeiten, als Lehrer, Bibliothekare. Filmkritik ist ihr Hobby, und ich meine das jetzt nicht in einem abwertenden Sinn. Es ist ihre Leidenschaft, es ist das, was sie eigentlich tun wollen. Die anderen Berufe sind nur dazu da, um den Lebensunterhalt zu verdienen und diese Leidenschaft so zu unterstützen. Was meinst du?

Cristina Álvarez López Ich hatte zwar einige Jobs als Kritikerin, sehr gelegentlich und unregelmässig. Ich musste aber nie vom Schreiben leben, ich hatte immer andere Brotjobs. Darum betrifft mich auch die Krise nicht so sehr. Filmkritik war immer etwas, was ich gerne, was ich zusätzlich getan habe. Das gibt einem auch eine gewisse Freiheit, weil man nicht über jeden Film reden und schreiben muss. Wenn man hauptberuflich als Filmkritikerin arbeitet, kann man nicht selbst bestimmen, worüber man schreibt. Man ist vom Tagesgeschäft abhängig. Ich möchte aber nur über das schreiben oder ein audiovisuelles Essay erstellen, was mich wirklich interessiert. Es ist natürlich schade, dass man für solch eine Arbeit nicht bezahlt wird. Das wäre ideal. Viele meiner Kollegen, die als Filmjournalisten arbeiten, machen noch andere Dinge, arbeiten als Dozenten oder Lektoren. So verdienen sie ihren Lebensunterhalt, nicht viel, doch eins kommt zum anderen, und so reicht es irgendwie.

Wie kommt es denn, dass die Filmkritik in den letzten Jahren so rasant an Bedeutung verloren hat, vor allem im Gegensatz zu den anderen Künsten wie Literatur, Theater, Oper, Musik und Bildende Kunst, über die Tageszeitungen noch immer ausführlich berichten?

Adrian Martin Ich kann jetzt nicht für jedes Land und jede Zeitung sprechen, aber meiner Erfahrung nach nehmen Herausgeber und Redakteure Film als Kunst nicht ernst. Und es ist empörend und skandalös, das so sagen zu müssen. Wenn ein Redakteur vor der Wahl steht, über eine Oper oder einen Philippe-Garrel-Film zu berichten, wird die Oper immer gewinnen. Literatur wird das Kino immer ausstechen. Das hat auch damit zu tun, dass Filmverleihe grosse Anzeigen schalten. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der ich jede Woche eine halbe Seite zur Verfügung hatte, wo ich über alles schreiben konnte – von der DVD-Neuerscheinung bis zu einem seltenen Film in der Kinemathek. Bis die Verleihe anfingen, sich zu beklagen, weil ihre Filme – trotz geschalteter Anzeige – nicht berücksichtigt wurden. Das Ende vom Lied: Sie zogen ihre Anzeigen zurück, die halbe Filmseite verschwand. Es geht vor allem um das Abdecken des kommerziellen Kinos. Da ist der kommerzielle Faktor und die Tatsache, dass Film nicht als Kunst anerkannt wird. Empörend, aber wahr. Es geht nur um Hollywood, die Oscars, Stars. Und mit dem Aufkommen des Internets gibt es noch eine andere Haltung: Jeder ist ein Filmkritiker. Warum sollte ein Filmkritiker wichtiger sein als 6000 Menschen, die über einen Film im Netz gebloggt haben? Bei Oper und Literatur gibt es immer noch einen Sinn für Autorität. Wenn Tom Wolfe über Literatur spricht, müssen wir ihm zuhören. Er ist eine anerkannte Autorität. Wenn wir, Sie und ich, über Film sprechen, sind wir nur zwei von sechs Milliarden Filmkritikern auf der Welt. Eine Haltung, die natürlich albern ist. Für mich war irgendwann klar: Es ist Zeit, aus den traditionellen Medien auszusteigen. Ich arbeite nicht mehr für Tageszeitungen oder fürs Fernsehen, wenn es nur auf diese oberflächliche Art geht. Ich sagte mir: Mach dein eigenes Ding, mach deine eigene cinephile Kultur. Nur so kann das Nachdenken über Film noch weitergehen. Und so habe ich ein Internetmagazin gegründet.

Aber war diese Haltung, dass jeder ein Filmkritiker sei, nicht schon einmal überholt, als viele Leser, zum Beispiel in überregionalen Tageszeitungen, anspruchsvoll über Film informiert werden wollten?

Adrian Martin Das sehe ich nicht so. Es gibt einfach keine Autorität der Filmkritik, und darum gibt es auch nur noch wenige Quellen anspruchsvoller Filmkritik. Das hat eine gute und eine schlechte Seite. Eigentlich gefällt mir die Tatsache, dass sich jeder im Internet ausdrücken kann. Warum nicht? Jeder kann eine eigene Website, einen eigenen Blog starten. Great! Ich bin ein grosser Fan der Demokratie. Natürlich sind einige Filmkritiker besser als andere. Und es gibt immer noch einige gewichtige Stimmen, denen ich Aufmerksamkeit schenke. Doch die Plattformen dafür verschwinden immer mehr, sowohl in den USA als auch in Grossbritannien. Dass sich Tageszeitungen noch eigene Filmkritiker leisten, die alles vom Interview bis zum Festivalbesuch abdecken – dieser Luxus rutscht weg, unabhängig von den Fähigkeiten der Journalisten. Ich möchte das aber nicht zu sehr beklagen. Wir sind alle Individuen, wir treffen Entscheidungen, worin wir unsere Energie investieren wollen. Da geht es um Zeit und Leidenschaft, und da fallen für mich die üblichen Medien aus dem Raster. Es wird ja auch immer schlimmer. Zeitungen sterben und landen im Mülleimer der Geschichte. Es hilft also nicht zu jammern. Man muss aktuell etwas tun, um zum Wissen, zur Diskussion über das Kino beizutragen – auch wenn wir dabei nicht so viel Geld verdienen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer sind vielleicht Anbieter wie «Fandor», die Filme online stellen und auch filmkritisch begleiten, mit Informationen und Einschätzungen. Die Autoren werden bezahlt, immerhin. Es ist ein neuer wachsender Markt. Und: Es ist Geld da. Die Betreiber haben die Wichtigkeit von Filmkritik erkannt. Bei einem Katalog von mehreren Tausend Filmen online muss man den Nutzern Kriterien an die Hand geben, mit denen sie auswählen können. In diesem Sinne erhält Filmkritik wieder eine Funktion. «Hier sind fünf Filme von Mario Bava, aus diesem oder jenem Grund solltet ihr euch die anschauen.» Vielleicht ist das ein Hoffnungsschimmer.

Cristina Álvarez López Man muss an andere Plattformen denken, in denen Filmkritik wirklich wichtig ist. Ich sehe das auch aus der Sicht des Zuschauers. Wenn ich mir auf «Fandor» einen Film herauspicke und anschaue, will ich auch etwas über den Film lesen und mein Wissen vertiefen. Die Betreiber nehmen Geld für eine Leistung, die sie durch zusätzliche Angebote noch attraktiver machen, und von diesem Geld müssen die Journalisten, die mit ihrer Leistung dazu beitragen, profitieren. Man muss als Kritiker diese Plattformen auch finden. In diesem Sinne ist Kritik immer noch wichtig und erfüllt eine Funktion. Ich stimme Ihnen zu: In Tageszeitungen hat Filmkritik mehr und mehr ihre Bedeutung verloren, auch in Spanien, wo – bis auf wenige Ausnahmen – die Texte ausgesprochen schlecht sind. Keine Argumente mehr, keine Begründungen – es geht nur noch um Geschmacksurteile. Die werden gedruckt und sogar bezahlt (seufzt ärgerlich). Ich hingegen werde oftmals nicht bezahlt für das, was ich tue, und nehme es trotzdem ernst.

Wird die Filmkritik nur noch im Internet stattfinden, mit Kommentaren, Blogs, personenfixierten Websites?

Adrian Martin Filmkritik findet ja jetzt schon in hohem Masse im Internet statt. Manchmal meinen die Leute in einer etwas naiven Art, dass die Schreiber morgens ihren Computer anschmeissen, drauflosschreiben, nicht redigieren, ins Internet gehen und ihre Worte auskotzen …

Cristina Álvarez López (unterbricht) Was wirklich passiert. Es gibt viele Autoren, die sich für das Schreiben nicht sehr viel Zeit nehmen und einfach nachlässig sind. Es gibt Websites, die sind kaum redigiert, mit vielen Fehlern. Natürlich gibt es auch das Gegenteil: gut redigierte, lesenswerte Websites. Man muss immer nach dem Bestmöglichen im Netz suchen.

Adrian Martin Genau darin liegt die Zukunft. Schreiber, die sich Zeit nehmen, Gedanken zu formulieren, und ihre Sichtweise argumentativ begründen, vielleicht noch Clips, Töne, Szenenfotos, Bilder oder Videos (was Cristina und ich ja viel machen) dazustellen – das vergrössert natürlich die Möglichkeiten der Filmkritik weit über das geschriebene Wort hinaus. Man kann auch sehr gut mit den multimedialen Formen der Kritik experimentieren. In dieser kreativen Form des Nachdenkens über Film wandert die Kritik definitiv ins Internet. Das bedeutet aber nicht, dass Bücher oder Magazine tot sind. Filmbücher sind immer noch sehr wichtig. Aber auch das ändert sich. Als ich noch jung war, konnte ich in einen gewöhnlichen Buchladen gehen und das neueste Werk von Raymond Durgnat oder Pauline Kael erwerben. Diese Selbstverständlichkeit gibt es nicht mehr. Es erscheinen immer noch viele Universitätsbücher, aber der mittlere Markt ist weggebrochen. Ein normal kulturell interessierter Mensch, der mehr über Max Ophüls wissen will, wird in einem gewöhnlichen Buchladen nicht mehr fündig. Das spezialisierte Schreiben über Film findet mehr und mehr im Internet statt. Wenn ich einen 5000 Wörter langen Artikel über einen Rossellini-Film aus den fünfziger Jahren schreiben will – der «Film Comment» wird das nicht abdrucken. Zu lang. «Sight and Sound» – auch für sie zu lang. Tageszeitungen trauen sich eh an solche Geschichten nicht heran. Oder es muss einen Anlass geben – wie zum Beispiel eine Retrospektive auf einem Filmfestival. Doch wenn es um reinen Text geht, der sich nur durch sein Erkenntnisinteresse rechtfertigt, wird es schwierig. Cinephile Kultur bewegt sich auch ausserhalb von Grenzen, denen traditionelle Medien unterworfen sind. Manchmal hat es natürlich Vorteile, mit Einschränkungen und kommerziellen Vorgaben zu arbeiten. Aber man braucht auch einen freien Platz ausserhalb dessen. Im Internet kann man seinen eigenen Platz kreieren. Wenn niemand meinen Rossellini-Artikel drucken will, muss ich mein eigenes Magazin gründen. Darum geht es bei «Lola»: Endlich kann ich etwas lesen, was bislang noch nirgendwo zu lesen stand. Lange, ausführliche, tiefschürfende Texte über Film. Bevor ich zu jammern beginne, rufe ich lieber ein Onlinemagazin ins Leben. Als ich mit «Rouge» begann, bin ich auf Autoren, die ich wirklich bewundere, zugegangen und habe gefragt: Habt ihr etwas geschrieben, was niemand veröffentlichen will? Oder wollt ihr über etwas schreiben, wozu ihr sonst keine Möglichkeit hättet? So erhielt ich zahlreiche Artikel, die die Autoren aus den Schubladen zogen. Niemand wird bezahlt – aber der Artikel existiert.

Aber wie finde ich ihn? Das grosse Problem mit dem Internet ist doch seine Grösse und Unübersichtlichkeit, wenn nicht sogar seine Beliebigkeit.

Adrian Martin Da haben Sie recht. Man braucht natürlich auch verschiedene Sites, die als Wegweiser fungieren, wie ein Aggregat. Zum Beispiel betreibt unsere Freundin Catherine Grant die Seite «Filmstudies for Free». Wenn sie zum Beispiel einen Artikel über Vincente Minnelli online stellt, verlinkt sie auch Lesetipps zu anderen Websites. Nicht irgendwelche Tipps, sondern genau und gezielt ausgewählte. Das ist einfach toll. Man kann Minnelli ausführlich studieren. Es muss natürlich mehr Menschen geben wie Catherine Grant und auch mehr Funktionen wie das Verlinken. Man braucht schon Unterstützung. Wenn man etwas nur für sich macht, geht es in der Weite des Netzes verloren. Und auch die Google-Suche führt nicht immer zur besten Filmkritik. Man muss Sites kennen, die einem den Weg weisen, bis man selbst eine Idee davon bekommt, wo man hin will. Es wird noch mehr solche Initiativen geben.

Cristina Álvarez López Das ist sicherlich sehr wichtig, besonders wenn man mit Filmkritik im Netz nicht vertraut ist. Man findet sehr viel, manchmal ist es interessant, manchmal nicht. Man kann aber seiner Leidenschaft frönen, indem man viele Texte liest. Aber auch Anbieter wie die bereits erwähnten «Fandor» wählen aus, indem sie einen Film der Woche vorstellen und somit durch ihr Angebot leiten. Das gilt für die englischsprachigen Länder, in spanischsprachigen Nationen gibt es so etwas leider noch nicht. Man kann auch seinen eigenen Blog, egal in welcher Sprache, verlinken lassen und so auf ihn aufmerksam machen. Über Facebook und Twitter lassen sich darüber hinaus auch Beziehungen zu Gleichgesinnten aufbauen, die helfen und einen weiterempfehlen. Das aber geht nur im Internet – nicht in der Presse. Man muss also die Verbindungen, die das Internet erlaubt, nutzen. Alles andere wäre dumm.

Adrian Martin David Hudson zum Beispiel, der in Deutschland lebt und für «Fandor» arbeitet. Jeden Tag stellt er eine Linkliste her, die von vielen Menschen gelesen wird. David nimmt diesen Job sehr ernst, er wählt aus, er übersetzt. Und wir geben auch wichtige Texte an David weiter. Individuen machen hier den Unterschied aus. Es gibt wirklich sehr gute Blogs, die auf die unterschiedlichsten Filme oder Bücher aufmerksam machen. Das wird von vielen Menschen gelesen.

Wir sprachen bereits über die Qualität im Internet. Es gibt auch in Deutschland Websites, die – mit Verlaub – nicht so gut sind, wo die Autoren den theoretisch unbegrenzten Raum nutzen, um viel zu schreiben, aber wenig zu sagen, wo Film sehr oberflächlich und geschmäcklerisch abgetan wird.

Cristina Álvarez López Das ist sicher richtig, aber auch wenn es sehr viel schlecht geschriebene Texte im Internet gibt, findet man immer noch genug, was einen interessiert. Diese Vielfalt gibt es im Print nicht, schon gar nicht in Tageszeitungen.

Ich würde gern mit Ihnen noch über einen anderen Themenkomplex sprechen, über die Ästhetik der DVD, über das, was der deutsche Professor Jan Distelmeyer das «flexible Kino» nennt. Hat die DVD unsere Wahrnehmung von Filmen verändert?

Adrian Martin Ja, ganz bestimmt. Ich war selbst in Australien zwischen 2006 und 2011 für die DVD-Firma Madman Entertainment tätig, die japanische Filme herausgab. Ozu, Mizoguchi, Kurosawa. Und dann ging es darum, wie man den Wert einer DVD steigern kann. Zusätzliche Information durch Audiokommentare wurde immer wichtiger, und so habe ich allein für 35 Filme Kommentare gesprochen. Das hat wirklich Spass gemacht und wurde auch gut bezahlt. Die Firma hat den Wert dieses zusätzlichen Angebots erkannt. Wenn Criterion in den USA und das BFI in England einen Mizoguchi-Film herausbringen, muss man sich in Australien etwas Neues zu demselben Film einfallen lassen. Dabei ist der Audiokommentar gar nicht einmal die wichtigste mögliche Form, um Filmkritik zu üben. Manche Leute machen es gut, manche schlecht. Er ist zum Beispiel gut geeignet für Filmstudenten, die viele Fakten erfahren und etwas lernen können. Dann gibt es Extras, Dokumentationen, entfallene Szenen – diese Dinge gehen aber nie so weit, wie sie sollten. Bei einer Brian-De-Palma-DVD, sagen wir Scarface, gibt es nur das übliche Making-of oder Interviews, in denen man Nützliches erfährt. Es ist aber nie so analytisch, wie es sein könnte. Das Problem neuerdings: Mit online gestellten Filmen fallen diese Errungenschaften wieder weg. Bei «Fandor» gibt es nur den reinen Film, das Bonusmaterial ist plötzlich schon wieder Geschichte. Doch es geht ja nicht nur um hörbare oder visuelle Extras. In der britischen Reihe «Masters of Cinema» gibt es zur DVD noch ein Booklet, das manchmal bis zu 70 Seiten dick ist. Es gibt Übersetzungen von seltenen Texten, Interviews, Essays, die man vorher so noch nicht gelesen hat.

Das Schauen einer DVD hat auch immer mit mir selbst zu tun: Sprache, Untertitel, Springen zu einem Kapitel – ich selbst bestimme, wie ich einen Film schauen will. Man hat so etwas wie die Illusion von Macht über den Film.

Adrian Martin Ja, aber man hat vor allem unterschiedliche Möglichkeiten, den Film zu entdecken. Wie teilt man zum Beispiel einen Film in Kapitel ein? In Maguerite Duras’ India Song von 1975 ist jede Einstellung ein Kapitel. So kommt es, dass die DVD 140 Kapitel hat. Eine sehr schöne Möglichkeit, um den Film zu studieren. Grossartig. Die Möglichkeiten, einen Film zu unterteilen, sind quasi unbegrenzt. Die ganzen Möglichkeiten der Extras einer DVD sind noch gar nicht erschlossen. Bei einer Brian-De-Palma-DVD könnte man ja theoretisch mit der Funktion «Tracking Shots» alle Kamerafahrten des Films nacheinander abrufen, dasselbe wäre für Close-ups denkbar. Es gibt viele Möglichkeiten, einen Film zu zerlegen und so seine verschiedenen Elemente zu sammeln und zu ordnen. Das ist bislang aber noch nicht versucht worden.

Cristina Álvarez López Ich habe viele Filme auf DVD und meinem PC gesehen, aber am liebsten gehe ich natürlich ins Kino, wegen der Grösse der Leinwand, wegen der Konzentration auf den Film, wegen des gemeinschaftlichen Erlebnisses. Aber es ist gut, beides zu haben, Kino und DVD. Den Film selbst zu besitzen und ihn immer wieder anschauen zu können, bedeutet ja auch, dass man ihn besser und näher studieren und analysieren kann. Man muss natürlich auch kinematografische Erfahrung haben, die man nur im Kino erwerben kann. Man sieht Dinge, die einem sonst vielleicht nicht aufgefallen wären. Und es passiert auch mit einem selbst etwas. Das wäre zu Hause vor dem kleinen Fernseher oder dem noch kleineren Computer so nicht möglich. Man muss sich halt immer aufraffen und das Haus verlassen. Doch ist man erst einmal im Kino, ist es immer eine besondere Erfahrung.

Adrian Martin Einige Filmemacher haben aber die DVD vorbehaltlos angenommen. Agnès Varda zum Beispiel überwacht die DVD-Produktion ihrer Filme. Sie überwacht die Digitalisierung von 35 mm und hat sogar das ganze Equipment in ihrem Studio. Sie kümmert sich auch um die Extras und spricht noch einmal mit den Menschen, mit denen sie vor über dreissig Jahren einen Film gemacht hat. Im Film selbst gibt es dann an bestimmten Stellen Icons, mit deren Hilfe man während des Sehens Informationen abrufen kann. Agnès Varda wiederbelebt ihren Film. Sie schreibt ihr Werk durch das Medium der DVD quasi neu und trägt so zu seiner Entdeckung bei. Einige Filmemacher sind in dieser Hinsicht sehr nachlässig oder distanzieren sich vom ganzen Prozess der Herstellung. Andere aber gehen sehr viel weiter, machen schon während der Dreharbeiten Videotests, die sich dann auch auf der DVD finden. Dinge, die man vorher noch nie sehen durfte, tauchen nun aus den Archiven der Filmemacher auf. Da sind phantastische und interessante Sachen dabei.

Man kann allerdings auch sehr dumme Sachen machen, wie zum Beispiel Christopher Nolans Memento in chronologischer Reihenfolge gucken … (Beide lachen.) Wie dem auch sei: ein neuer Themenkomplex, nämlich Videospiele. Haben Videospiele das Erzählen fürs Kino beeinflusst?

Adrian Martin Ich habe noch nie ein Videogame gespielt. Ich habe nichts dagegen, aber ich habe mich nie dafür begeistern können.

Cristina Álvarez López Ich habe früher einmal welche ausprobiert, sehr alte Spiele. Vielleicht kann man im Moment von einem Trend sprechen, dass Videospiele auf Filme Einfluss nehmen. Nehmen Sie zum Beispiel Elephant von Gus Van Sant. Dieser Film hat ästhetisch, erzählerisch und auch kameratechnisch etwas von einem Videospiel. Moderne Spiele haben dieses Gefühl für Raum, lange Korridore, Point-of-View-Perspektiven. Etwas, was es aber auch schon im Kino gegeben hat. Es ist eine Wechselwirkung. Das eine beeinflusst das andere und umgekehrt.

Adrian Martin Ich habe manchmal den Eindruck, dass Videogames gewisse Erzählweisen, die es schon gibt, verfeinern und modernisieren. Filme von Alain Robbe-Grillet oder Raúl Ruiz kommen dem manchmal sehr nahe, weil man verschiedene Stufen durchläuft oder von einer Welt in die nächste geworfen wird. Man geht durch einen Spiegel und ist in einer anderen Welt. Ruiz hat wahrscheinlich noch nie in seinem Leben ein Videogame gespielt, aber seine ästhetische und visuelle Vorstellung bewegte sich schon in den sechziger und siebziger Jahren in jene Richtung, dass eine Erzählung nicht nur einer Welt entspricht. Was ihn interessierte: Wie kommt man von einer Welt in die andere, der Pfad zwischen ihnen, das verbindende Glied war ihm wichtig. Und das entspricht schon ein wenig der Videogame-Ästhetik. Sehr überrascht hat mich auch Roman Polanskis The Ninth Gate, ein übernatürlicher Horror-Thriller, in dem es um eine geheime Bibliothek und Geheimcodes in Büchern geht. Johnny Depp erlebt mit jedem weiteren Buch eine andere Stufe der Realität und muss sich in mehreren Welten zurechtfinden. Ein Regisseur, der schon seit den sechziger Jahren arbeitet, hatte also 1999 eine Vision davon, wie Videogames funktionieren. The Ninth Gate ist so etwas wie ein Rendezvous zwischen Film und PC-Spiel. Oder nehmen Sie Gravity, in dem Sandra Bullock minutenlang durchs All schwebt und sich von Station zu Station hangelt. Das hat auch einen Videogame-Effekt, den man in vielen Science-Fiction-Games findet.

Mittlerweile projiziert fast jedes Kino, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, Filme digital. Hat die Digitalisierung das Kino verändert oder ist die Festplatte nur ein anderes Trägermedium?

Adrian Martin Das ist ein grosse Frage. Wie jedermann habe ich gemischte Gefühle. Gestern Abend haben wir gemeinsam in der Brian-De-Palma-Retrospektive Raising Cain in einer guten 35-mm-Kopie gesehen. Ganz offensichtlich ist das ein Wert, ein körperlicher Kitzel, der wesentlich zum Vergnügen des Filmeschauens beiträgt. Aber ich bin nicht nostalgisch oder puristisch, was Zelluloid angeht. Vielleicht hat das autobiografische Gründe, wie für viele von uns. Als ich aufwuchs, habe ich Filme vor allem im Fernsehen gesehen. Ganz egal, ob Jerry Lewis oder Kenji Mizoguchi – als Teenager habe ich in Australien die Filmgeschichte im Fernsehen entdeckt, in Mitternachtssendungen auch ausländische, synchronisierte Filme. Es ist nicht so, dass das wahre Kino nur dasjenige ist, das projiziert wird. Es gibt mittlerweile viele Wege, in dem wir das Kino empfangen, mit vielen unterschiedlichen technologischen Formaten. Fernsehen, PC, digital, von Super 8 bis 35 mm – es wäre natürlich grossartig, wenn alle Formate gleichzeitig existieren könnten. Doch 35 mm kann der Digitalisierung nicht trotzen. Hinzu kommt, dass die digitale Projektion einer alten, rotstichigen Zelluloidkopie überlegen ist. Der Sound ist grundlegend besser bei digitaler Projektion. Wenn man einen alten Film anschaut, der digitalisiert wurde, hört man auf einmal Dinge, die vorher gar nicht da waren. Wir leben nun einmal in einer Zeit, in der viele Menschen gut klingende Soundsysteme zu Hause haben. Und ich will diesen Sound auch hören. Wie so oft bei neuen technologischen Erfindungen gibt es Gewinne und Verluste. Ich bin nicht supernostalgisch, was 35 mm angeht. Aber ich möchte auch nicht, dass es völlig verschwindet. Filmmuseen und Kinematheken sind wahrscheinlich die letzten Schreine, wo man noch alle Formate abspielen kann und auch 35 mm weiterhin existieren wird. Wenn dem so ist, bin ich damit zufrieden.

Sie erwähnten es schon: Wir können heutzutage Filme in den unterschiedlichsten Formen anschauen, vom grossen Kinosaal über Fernsehen und PC bis zum kleinen Smartphone. Das führt mich zu meiner nächsten grossen Frage: Wie sieht das Kino in der Zukunft aus?

Cristina Álvarez López Die verschiedenen Möglichkeiten, die Adrian eben genannt hat, erlauben unterschiedliche Erfahrungen. Zunächst ist es wichtig, dass die Menschen überhaupt Filme schauen. Sie gehen nicht mehr so oft ins Kino wie früher. Sie verlieren allerdings dabei. Das Interessante, einen Film zum Beispiel auf einem Smartphone zu schauen, ist die unmittelbare Verfügbarkeit. Das Smartphone macht mir ein Angebot, der Film ist sofort abrufbar. Ich glaube nicht, dass das Kino sterben wird, denn es bietet mir etwas, das alle anderen Formen mir nicht bieten können. Regisseure müssen allerdings darüber nachdenken, dass ihre Filme nicht mehr zwangsläufig im Kino gezeigt werden. Für andere Formen muss man sich andere ästhetische Lösungen überlegen. Sie müssen etwas Neues anbieten, und davon wird auch abhängen, wie wir zukünftig Filme schauen. Ich weiss nicht, ob das die Zukunft des Kinos erklärt.

Adrian Martin Ich stimme dir zu. Die Zukunft des Kinos ist extrem divers – in all diesen unterschiedlichen technologischen Formaten und Hilfsmitteln. Das führt dazu, dass auch Filmobjekte immer unterschiedlicher werden, es wird unterschiedliche Erzählversionen geben. Für mich ist das aber keine schlechte Sache. Film ist nun mal nicht diese eine singuläre Form. Wir können nicht in die sechziger Jahre zurückkehren. Wong Kar-wai hat zum Beispiel überhaupt keine Probleme damit, unterschiedliche Versionen seiner Filme herzustellen. Da gibt es eine für China, eine für Amerika. So erhöht er vor allem die Aufmerksamkeit für seinen Film. Es gibt keine definitive alleinige Form. Die Diversifikation einzelner Objekte wird zukünftig bestimmend sein für den Vertrieb von Filmen.

Cristina Álvarez López Was man allerdings nicht vergessen darf, ist die Qualität. Wenn ich mir einen Film im Internet anschaue, ist die Bildqualität gelegentlich richtig schlecht. Verwaschene Bilder, schlechter Ton. Das ist natürlich nicht die Idee von Kino, aber manche Menschen lernen Filme nur so kennen. Sie sind zufrieden mit dem, was sie sehen. Sie konzentrieren sich nicht mehr auf den Film. Da wächst eine andere Generation von Zuschauern heran, deren Aufmerksamkeit schnell nachlässt. Sie gehen einfach nicht ins Kino, zumal die Eintrittspreise auch immens gestiegen sind. Vielleicht müssen Kinos zukünftig auch noch andere Wege finden und Angebote machen, so wie zum Beispiel Live-Übertragungen von Opern. Aber um Ihre Frage zu beantworten, passt vielleicht ein Graffiti, das wir in Prag gesehen haben: The future will be confusing.

Adrian Martin Dem kann ich mich nur anschliessen: The future will be confusing.

Das Gespräch mit Adrian Martin und Christina Álvarez López führte Michael Ranze am 5. April in Hamburg. Dank an Volker Hummel, der bei der Vermittlung und Durchführung des Interviews geholfen hat.

Der australische Filmwissenschaftler Adrian Martin und die spanische Filmkritikerin Cristina Álvarez López kamen Anfang April nach Hamburg, um anlässlich der Brian-De-Palma-Retrospektive im Kommunalkino Metropolis das Videoessay Count It Out: Motifs and Structures in the Cinema of Brian De Palma zu präsentieren, das sich mit zentralen Motiven und Strukturen in Brian De Palmas Werk beschäftigt.

Adrian Martin ist zurzeit Gastprofessor an der Frankfurter Goethe-Universität, er hat die Onlinemagazine «Rouge» und «Lola» initiiert.
rouge.com.au
lolajournal.com

Cristina Álvarez López ist Filmkritikerin, Künstlerin, Mitherausgeberin des spanischen Onlinemagazins «Transit» und unterrichtet ebenfalls an der Goethe-Universität.
cinentransit.com

Martin und López arbeiten gemeinsam an einem Buch zu De Palma und haben eine Reihe von audiovisuellen Essays zu verschiedenen Filmthemen und Regisseuren produziert, unter anderem zu Jean-Pierre Melville, Leos Carax und Philippe Garrel.
The Melville Variations
Screen and Surface, Soft and Hard: The Cinema of Leos Carax
All Tomorrow's Parties
filmstudiesforfree.blogspot.ch
fandor.com

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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