Im Zug des politischen Tauwetters in den 1960er Jahren erlebte das tschechoslowakische Kino eine kreative Blüte, vor allem junge Absolventen und Absolventinnen der Prager Filmschule FAMU machten ausgiebig vom freieren Klima Gebrauch und prägten jenes Kino, das bald als tschechische Neue Welle bekannt wurde und international von sich reden machte. Mit ihren Filmen wendeten sich die jungen Filmemacher radikal von den Stereotypien des staatlich verordneten Sozialistischen Realismus ab. Ästhetisch orientierten sie sich am Cinéma vérité, dem Surrealismus und dem (tschechischen) Absurden Theater, gemeinsam ist vielen ihrer Filme ein ausgeprägter Sinn für schrägen schwarzen Humor. Sie setzten sich kritisch mit gesellschaftlichen Fragen auseinander, wozu wie in anderen Ländern jener Zeit auch die Auseinandersetzung mit der Generation der Eltern gehörte, und wurden trotz Verboten und Zensur zu einer wichtigen Triebkraft der gesellschaftlichen Erneuerungsbewegung, die im Prager Frühling gipfelte und mit dem Einmarsch er Sowjets ein jähes Ende fand.
Das St. Galler Kinok zeigt im Oktober unter dem Titel «Prager Frühling» einige Schlüsselwerke der Bewegung, darunter das surreal-anarchistische Meisterwerk Die kleinen Margeriten (Sedmikrásky) von Věra Chytilová, die Nezwal-Verfilmung Valerie – eine Woche voller Wunder (Valerie a týden divu) von Jaromil Jireš und die schräge romantische Komödie Die Liebe einer Blondine (Lásky jedné plavovlásky) von Miloš Forman. Mit drei Filmen im Programm vertreten ist Jiří Menzel, einer der bekanntesten Exponenten der Neuen Welle, der eng mit dem Schriftsteller Bohumil Hrabal zusammenarbeitete und dessen Filme für ihren «trockenen Humor und die komisch-tragische Weltsicht» bekannt sind: Scharf beobachtete Züge (Ostře sledované vlaky), Ein launischer Sommer (Rozmarné léto) und Lerchen am Faden (Skřivánci na nití). Erhielt Menzel für ersteren einen Oskar, brachte ihm letzterer 1969 ein zwanzigjähriges Berufsverbot ein. Mit der schwarzen Komödie Der Leichenverbrenner (Spalovač mrtvol) schliesslich ist Juraj Herz vertreten.

Special Jaroslav Rudiš: Alois Nebel
In einer Spezialvorführung präsentiert das Kinok Alois Nebel, das Langfilmdebüt des tschechischen Regisseurs Tomáš Lunák. Es ist eine Verfilmung der gleichnamigen dreiteiligen Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Jaromír Švejdík, die das Rotoskopie-Verfahren nutzt, um die Erinnerungen des Alois Nebel an eine schicksalhafte Nacht im Juni 1945 zu verbildlichen, die ihn immerfort heimsuchen.
«Die Nähe zu Bildern des Holocausts, kombiniert mit dem unterkühlten Noir-Stil, öffnet einen interessanten Spielraum, in dem Popkultur und der Versuch authentischer Geschichtsannäherung nebeneinanderstehen. Eine Spannung zwischen Inhalt und Form, die mit der Auflösung des Traumas noch um eine provokante Pointe ergänzt wird. Entgegen den evozierten Holocaustbildern sind es hier nämlich nicht Opfer des Nationalsozialismus, sondern ist es das Schicksal vertriebener Sudetendeutscher – ein noch immer kontrovers diskutiertes Kapitel der Nachkriegsgeschichte –, das Alois Nebel Qualen bereitet.» Zur Besprechung des Films in Filmbulletin 5/2014
Im Anschluss an die Vorführung unterhält sich David Basler, Verleger der Edition Moderne, mit dem Comic-Autor Jaroslav Rudiš.
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