Brüssel, 6. Juni 1950 / Paris, 5. Oktober 2015. Zwischen diesen Eckdaten erstreckt sich das 65-jährige Leben der Filmkünstlerin Chantal Anne Akerman, die diesem selbst vor einem Jahr ein Ende setzte. Ihr filmisches Œuvre zeugt von einer Sehnsucht nach dem Alltag. Denn Alltag ist nicht selbstverständlich – dies machen ihre Filme deutlich. Gleichförmige Abläufe, Muster, erkennbare Rhythmen, lange Weilen, Wiederholung und Routine bestimmen deren Struktur und Inhalt. Und die Filme handeln von der Störung dieser Rhythmen, sie agieren diese Störung aus. Subtil wird ein Gleichmass ins Wanken, ein Rhythmus ins Stocken gebracht, eine Monotonie entgleist allmählich oder eine Ordnung explodiert, ganz plötzlich. Offen bleibt die Frage nach dem Grund.
Wiederkehrende Strukturen und lange Weilen zeigen sich in Akermans Filmen als jeweils persönliche Formen des Widerstands – je nach Kontext gegen ein Erinnern, gegen ein Vergessen, gegen einen Abgrund, einen Sturz in eine Tiefe, gegen eine autoritäre Macht und gegen Ohnmacht. Filmische Form und existenzielle Fragen, Ästhetik und erzählerischer oder dokumentarischer Inhalt verschmelzen auf verblüffende Weise.
Chantal Akerman hat jüdische Wurzeln – ihre Mutter Natalia ist mit ihren Eltern während des Zweiten Weltkriegs von Polen nach Brüssel geflohen und von da nach Auschwitz deportiert worden. Im Gegensatz zu den Grosseltern hat die Mutter das Lager überlebt. Sie ist die unsichtbare Heldin in Akermans Filmen. Über ihre Geschichte spricht die Mutter nicht. Auch nicht, wenn sie die Tochter in ihrem letzten und intimsten Film No Home Movie (2015) mit ihrer kleinen Kamera erstmals direkt konfrontiert. Ihr schwindendes Leben zeichnet sich ab. Und dazwischen immer wieder Bilder aus der Wüste.
Im berühmten Pyjama-Interview (2011) spricht Chantal Akerman kurz nach ihrem Aufenthalt in Kambodscha vom 4. Buch Mose und den vierzig Jahren, die das jüdische Volk in der Wüste verbracht hat, um die Folgen der Sklaverei nicht mehr tragen zu müssen. Sich Zeit nehmen, um zu vergessen. Im Falle der Lager brauche es dafür, wird gesagt, drei Generationen.
Die geografischen Stationen von Akermans Leben entsprechen den Drehorten und Schauplätzen ihrer Filme. Zum Schluss ihres ersten Films, dem Kurzfilm Saute ma ville (1968), sprengt sie ihren Geburtsort mitsamt sich selbst in die Luft, nachdem sie – noch unter dem Schock von Godards Pierrot le fou – als eine Art Chaplin in ihrer Küche mit Esswaren und Küchenutensilien auf exzessive Weise Unfug getrieben und in der Raserei den Gasherd angezündet hat. Die Explosion oder auch der Ausbruch aus der Enge wird durch einen Brief verursacht, der Flammen fängt. Der Brief wird Leitmotiv in ihrem Schaffen, er ist auch ein Trick: Er bringt einen Anderen oder eine Andere von anderswo ins Hier und Jetzt hinein und schafft im begrenzten Raum und im kadrierten Filmbild eine Öffnung, eine Lücke, ein geheimes Schlupfloch in die Weite. (Auszug aus «Alltag als Form des Widerstands. Oder: Vom Haushalt mit den Bildern», Essay von Eva Kuhn in Filmbulletin 6.16)
Ein Jahr nach ihrem Tod sind die Filme von Chantal Akerman im Rahmen einer Retrospektive im Stadtkino Basel zu sehen. Ausserdem widmemn SNF-eikones sowie das medien- und kunstwissenschaftliche Seminar der Universität Basel Akermans Kino vom 20. bis 22. Oktober ein dreitägiges Symposium, das auf die «Schwierigkeit des Vergessens» fokussiert.
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