"Mit zwei Pausen und Verpflegung an der Bar." Dieser Hinweis findet sich auf der Website des Xenix unter der Ankündigung des Screenings von Dead Souls am 24.11. um 12 Uhr. Aus gutem Grund: Wang Bings Epos dauert über acht Stunden. Eine Extremerfahrung, der sich auszusetzen sich lohnt.
Die Geschichte vor ihrem Verschwinden zu bewahren: Um nichts weniger geht es dem neuen Film von Wang Bing. Im Verlauf seiner epischen acht Stunden Laufzeit versammelt Dead Souls eine Reihe von Erzählungen, die sich ähneln, weil sie von einer geteilten historischen Erfahrung handeln, die eine ganze Generation traumatisiert hat. Im Rahmen der sogenannten Anti-Rightist-Kampagne wurden in der maoistischen Volksrepublik China Ende der Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre hunderttausende Menschen inhaftiert, aus zumeist fadenscheinigen bis völlig willkürlichen Gründen. Die «Umerziehungslager», in welche die vermeintlichen Rechten – viele davon überzeugte, geradezu idealistische Kommunisten – verfrachtet wurden, verwandelten sich in Todesfallen.
Der chinesische Dokumentarist Wang Bing, seit Anfang des Jahrtausends der vielleicht wichtigste Protagonist einer chinesischen filmischen Gegengeschichtsschreibung von unten, hat für Dead Souls eine Reihe von Überlebenden der Lager vor seine Kamera geholt. Alle Zeuginnen und Zeugen erhalten ausgiebig Raum für ihre ganz persönliche Erzählung. Das macht Sinn, denn auch wenn sich die groben Umrisse der Schicksale ähneln, so lassen doch erst die Differenzen im Erzählen, die ganz unterschiedlichen Spuren, die die Schrecken der Vergangenheit in den Körpern hinterlassen haben, die Geschichte lebendig werden. Zwischen den Interviews durchstreift der Regisseur ehemalige Arbeitslager, wo man auch heute noch auf Überrreste von Massengräbern stösst. Ohne diesen Film wüsste man bald nicht mehr, was es mit diesen Skeletten, die ein paar hundert Meter von der Landstrasse entfernt offen herumliegen, auf sich hat.
Wang Bing hat über ein Jahrzehnt an Dead Souls gearbeitet. Entstanden ist ein einmalig intensives Seherlebnis und ein historiografisches Dokument ersten Ranges, das als chinesisches Gegenstück zu Lanzmanns Shoah gehandelt wird.
Mehr zu Dead Souls und Wang Bing auch in Filmbulletin 7/2019.

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