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Migros museum murer screening
© Bild: Swissmade

«Eigentlich bin ich ein Aussenseiter im schweizerischen Filmschaffen»

Ich bezeichnete meine Art Filme herzustellen als Cinéma privé – eine Bezeichnung, die man nicht allzu wörtlich nehmen darf. Sie deutet aber doch an, dass ich alle meine damaligen Filme sehr stark aus sinem privaten Kreis heraus entwickelte. lm Gegensatz etwa zu Yersin ist es nicht mein Ideal, möglichst breite, grosse und lange Filme zu drehen. (Ich möchte das nicht als Werturteil verstanden haben.) Meine Filme mache ich so, wie etwa ein Maler seine Bilder malt: im Einmannbetrieb.

Text: Walt R. Vian und Erich Fromm / 01. Mär. 1970

«... acht, vier.» – –

«Murer –»

«Ja. Guten Tag, Herr Murer! Wir ... wir möchten gern ...»

Das Atelier – so nennt man doch den Arbeitsraum eines Künstlers – befindet sich im Parterre eines alten, verwitterten Häuschens am verkehrsreichen Zeltweg in Zürich. So leicht allerdings findet man es nicht: leicht übersehbar, von der Strasse her beinahe verdeckt durch halbmannshohe Hecken, die eine kleine Grünfläche umschliessen: das kleine Häuschen liegt da, wirkt baufällig und passt so gar nicht in seine Umgebung. Über einen ausgetretenen Kiesweg, der – wie es zunächst scheint – ebensogut anderswohin führen könnte, wird die Haustür erreicht. Der Flur ist stockfinster, auch wenn es draussen erst einzudämmern beginnt. Im Schein der Flamme eines Feuerzeugs wird vorerst ein an der Tür befestigtes Ablagebrettchen sichtbar: «Zeitungen»; dann ein Namensschild: «Fredi M. Murer» – den Filmschaffenden dazu, kann sich jeder, der will, selbst denken.

«Ein Interview mit dem Filmregisseur Federico Fellini zu machen ist leichter, als Fredi M. Murer auszufragen.» Dies war unlängst in einer Illustrierten zu lesen – na denn ... Mit einem Tonbandgerät und einigen Notizen (Meiers kleinem Fragenkatalog «Dumme Fragen an grosse Leute – für den Hausgebrauch»), also recht gut ausgerüstet und vorbereitet, stehen wir vor Murers Tür – und haben gemischte Gefühle. Wir klingeln. Ein paar Geräusche – es kommt jemand! (Kein Wunder, wir sind ja «telefonisch angemeldet».) Vorsichtig, beinahe zaghaft öffnet sich die Tür. Licht fällt in den Flur. Fredi M. Murer – unter «Kennern» als «King Melchior of Schweizerfilm» bekannt – äugt aus seinem Bau hervor. Äugt ist treffend: Ängstlich und doch pfiffig ist sein Blick; er ist gewappnet, kann sich jederzeit bei der geringsten Gefahr zurückziehen.

Wir treten in einen langen, schmalen Raum; funktional getrennt – noch unterstrichen durch das Reststück einer, scheinbar einmal vorhandenen, Zwischenwand – in Arbeits- und Diskussionsteil: Murers Atelier. Im Arbeitsteil steht ein auffallend grosser Tisch: übersäht mit Papieren, Notizen, Zeitungsausschnitten ...; vom «Deckenanschluss» fällt ein Kabel zum Telefon; einige Blechbüchsen, Filmrollen liegen herum. Auch neben und unter dem Tisch, aufgeschichtet: stapelweise Zeitungen – Stapel, die vom Fussboden bis zur Tischplatte reichen. Ausserdem in diesem Teil des Zimmers noch ein Stuhl; etwas Platz – ein Gang, der noch als Zugang zum Gestell frei bleibt, welches die ganze, dem Fenster gegenüberliegende Wand ausfüllt. Es ist, wohl selbstgebastelt, äusserst einfach, aber wiederum prallvoll mit «Material», abgelegt in Registern – sie scheinen ihrerseits beinahe zu platzen! – die sehr praktisch und leicht zugänglich darin aufgehängt sind. Da und dort, an die Wand gesteckt, einzeln und in Gruppen: Bilder aus seinen Filmen, von sich und von – oder mit – seinen Freunden.

Im verbleibenden zweiten Teil des Ateliers gibt es mehr freien Raum. Im Zentrum ist Platz für eine Diskussionsrunde (oder ein Interview): ein altes Wrack von Kanapee (wohl aus dem Brockenhaus) zwischen zwei Fenstern an die Wand gestellt; andeutungsweise ein Tischchen, darüber baumelt nackt eine Glühbirne; ein wackeliger Stuhl und ein, mit einem einmal weissen Fell ausgelegter, Korbsessel. Auch hier steht und liegt allerlei herum. Etwa in einer Ecke der kleine Holzofen und darauf ein zerbeultes Blechkesselchen – so zum Leimanrühren?

An den Wänden grossflächig Graphiken, die sofort an Swissmade erinnern; einige Collagen – vermutlich von Murers Freund Renzo Schraner. Und an der langen, freien Wand ein Montageplan – wohl für einen Film, an dem King Melchior gerade arbeitet. Wir richten uns ein, hängen das Mikrophon auf und machen unser Tonband startklar; setzen uns umständlich, zünden noch eine Zigarette an – Ton ab!, Tonband läuft: das Gespräch kann von uns aus beginnen.


Herr Murer, angenommen, jemand sagt zu ihnen: «Ich möchte einen Film drehen.» Was raten sie ihm?

Welche Voraussetzungen bringt er mit? Hat er einmal geträumt, er wolle Filme machen und kommt nun zu mir? Wenn mir jemand diese Frage stellt, muss ich mit Gegenfragen antworten. Solange ich nicht genau weiss, was dieser Typ eigentlich machen will, kann ich ihm auch keinen Rat erteilen. Am besten: «Mieten sie eine Kamera!» Ob ihm dies wohl genügen wird ... ?

Nehmen wir an: Er hat gewisse Erfahrungen im Filmen, er hat vielleicht einen Filmkurs besucht oder selbst schon einige Filme gedreht. Nun «kommt er nicht ins Geschäft». Was soll er tun?

So einer kommt nicht zu mir. «Ins Geschäft kommen» ... Ich selbst bin auch nicht «drin». Eigentlich bin ich ein Aussenseiter im schweizerischen Filmschaffen, ein Einzelgänger. Meine Filme habe ich – von Swissmade einmal abgesehen – selbst finanziert; auch die Drehbücher sind von mir geschrieben worden. Lassen sie es mich so formulieren: Ich bin ein Vertreter des «Autorenfilms»: Projekt und Realisation sind sehr eng miteinander verbunden, ja gehen ineinander über. Ich gehöre also nicht zu jenen Regisseuren, die ihre Filme nach einem vorliegenden Drehbuch realisieren – was ja einer Theater-Inszenierung vergleichbar ist.


Beim Filmen gibt es – so glaube ich – kein Rezept, keinen eigentlichen Lehrweg. Man kann eine Filmschule besuchen und mit einer selbständigen Arbeit abschliessen ... Damit hat man vielleicht Chancen, in die Produktion zu kommen. Einen Rat erteilen? Ich kann bestenfalls meinen eigenen Weg schildern: Um etwas weit – vielleicht zu weit – auszuholen: Als ich in der vierten Klasse der Primarschule war, sah ich den Spielfilm von Chaplin The Kid. Die Folge: Ich identifizierte mich ein paar Wochen lang mit dem darin vorkommenden Kinderstar, was sich schliesslich auf meine Noten im Zeugnis auswirkte. Nach der Schule absolvierte ich die Fotoklasse der KGS Zürich (= Kunstgewerbeschule). Unsere Klasse musste an den Vorbereitungen für eine Filmausstellung in Zürich mitarbeiten. Auf diese Weise lernte ich die verschiedensten Filme kennen: Werke von Méliès, Flaherty und anderen Klassikern – insgesamt wohl über hundert Filme. Unsere Aufgabe bestand darin, mit dem Photoapparat einzelne Bilder direkt von der Leinwand zu «kopieren». Während dieser Arbeit hat es bei mir zum zweiten Mal geschaltet ...

An die Klassiker ranzukommen, ist bei uns sehr schwierig: In Zürich gibt es keine Cinémathèque. In Paris können die Cinéasten den Film «am Film» studieren. Wir dagegen müssen warten, bis ein Reprisenkino wieder einmal einen alten Film zeigt. Von amerikanischen Filmen kann man ungeheuer viel lernen. Aber nicht nur von den Klassikern: Gerade an Serienproduktionen lässt sich studieren, wie ein Film in bestimmter Weise aufgebaut wird. Das anspruchslose Thema, die banale Fabel, lenkt den Blick nicht vom formalen ab. Die Western mit dem immer gleichen Ritual: Clichés werden aufgebaut, verwendet und verbraucht. Gerade diese Filme beinhalten meist den Extrakt einer langjährigen Erfahrung in der Anwendung der Dramaturgie. Godard zitiert solche Clichés permanent. Er hat dabei auch entdeckt, dass es «Zweit- und Drittklassregisseure gibt, die zu Schöpfern von eigentlichen Filmgattungen geworden sind – ohne dass sie es allerdings selbst bemerkt hätten.


Wird aber nicht gerade von ihnen gesagt – und geschrieben – , dass sie sehr selten ins Kino gingen?

Ja, das stimmt schon. Trotzdem – diejenigen Filme, die mir als wichtig erscheinen, sehe ich mir an. Allerdings brauchen es dann nicht unbedingt Filme zu sein, die in den Bewertungen mit vier Sternchen versehen sind.

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Bild: The Kid


Sie sind gelernter Photograph. Glauben sie, ganz allgemein, dass dieser Beruf für einen Filmer oder Filmerin von Vorteil ist?

Sicher ist er keine notwendige Voraussetzung; im Gegenteil, ich sehe sogar eine gewisse Gefahr darin ... Allzuleicht klammert man sich an bestimmten formalen Vorstellungen fest: das schöne Bild, der richtige Ausschnitt, «goldener Schnitt». Ich verstehe, dass viele Leute, die Kameramann werden oder Filme machen wollen, im Moment aber keine Möglichkeit zum «Einstieg» sehen, sich sagen: Ich schlage zunächst den Weg eines Photographen ein. Mir ging es ähnlich. Ich habe schon während der Jahre an der Kunstgewerbeschule Filme gedreht, weil ich nach einer Möglichkeit suchte, «alles» miteinander zu kombinieren. Ich habe ein paar Jahre lang gearbeitet und gespart, um mir eine 16-mmKamera und Filmmaterial zu kaufen. Erst dann fing ich an, «richtig» zu filmen. Ich habe viel Kapital und Energie investiert – nie jedoch in der Hoffnung, etwas dabei «herauszuholen». Für denjenigen aber, der die ernste Absicht hat Filme zu drehen, lohnen sich solche Investitionen bestimmt. Er muss allerdings wissen, dass ihn sein «Vergnügen» rund Fr. 10'000.- kosten kann, etwa für einen Kurzfilm von zwanzig Minuten. Mein erstes (30-seitiges) Drehbuch stellt, auch wenn es nie verwirklicht wurde, in einer gewissen Weise das Inhaltsverzeichnis meines ganzen bisherigen Schaffens dar: Bis heute waren alle meine Filme Portraits. Sie stellen meine Freunde vor. Portrait-Filme – im Extremfall handelt es sich ja immer um ein Selbstportrait des Autors oder um eine «Reproduktion» desjenigen, der vor der Kamera steht. In der Praxis wird daraus aber meist eine Synthese von beiden Möglichkeiten, eine Synthese, die ich anstrebe.

Ich drehe also einen Murer-Film (von den Stilmitteln und der Gestaltung her) etwa über Luginbühl. Aber auch Chicorée und Pazifik sind Portraits meiner Freunde. Ich bezeichnete meine Art Filme herzustellen als Cinéma privé – eine Bezeichnung, die man nicht allzu wörtlich nehmen darf. Sie deutet aber doch an, dass ich alle meine damaligen Filme sehr stark aus sinem privaten Kreis heraus entwickelte. lm Gegensatz etwa zu Yersin ist es nicht mein Ideal, möglichst breite, grosse und lange Filme zu drehen. (Ich möchte das nicht als Werturteil verstanden haben.) Meine Filme mache ich so, wie etwa ein Maler seine Bilder malt: im Einmannbetrieb.

Greifen wir noch einmal zurück: Glauben sie nicht auch, dass ein Film, der zum eigenen «Vergnügen» hergestellt wird, leichter, gelöster wirken kann und gerade deshalb auch besser ist?

Ja, das ist wahr. Aber irgerdwie hab' ich dies auch so gemacht: Meine ersten Filme sind praktisch aus reinem Spieltrieb entstanden! Ich dachte am Anfang nie daran, meine Filme öffentlich vorzuführen. Mein erster grösserer Film wurde für mich beinahe zur Zerreissprobe: mein Talent musste sich bestätigen. In anderen freien Berufen mag dies ja ähnlich sein; wieviele Leute ändern ihre Tätigkeiten solange, bis sie gefunden heben, was ihnen wirklich entspricht. Gerade bei den Schriftstellern gibt es doch die verrücktesten Geschichten darüber, weshalb sie zu schreiben begannen. Jedoch, ihnen genügen Papier und Bleistift, um sich zu testen – ein Filmer braucht Geld ... Hinzu kommt noch: Die Chance, einen ersten abendfüllenden Spielfilm zur realisieren, wird von vielen Regisseuren verpatzt, weil sie den konmerziellen Erfolg suchen, deshalb ihren eigenen Weg verlassen und auf ausgetretenen Pfaden weiterschreiten. Jeder Filmer steht einmal vor diesem Problem, und nur durch ehrliches Auseinandersetzen mit sich selbst kann es Überwunden werden.

Sie sprachen einmal davon, dass sie mit Swissmade die erste Phase ihres Schaffens abgeschlossen hätten. Was wird sich nun ändern? Worin werden sich ihre künftigen Filme von den bisherigen unterscheiden?

Die bisherigen Filme sind eigentlich alle aus dem Cinéma privé heraus entstanden. Auch Swissmade hat – mindestens von der Form her, zum Teil sogar thematisch – eine sehr starke Beziehung zu Pazifik. Obwohl auch Swissmade nicht durchwegs nur gespielt ist, kommt bei diesem Film hinzu, dass nicht mehr allein die subjektiven Probleme der Darsteller behandelt werden; er hat ein übergeordnetes Thema, in das die einzelnen Spieler integriert sind. Ich glauhe, dass ich mich nun vom Cinéma privé löse, vom Subjektiven und Privaten wegehe und die Probleme allgemeingültiger behandle: so betrachtet, ist Swissmade eigentlich ein Bindeglied zwischen zwei Phasen. Zur praktischen Arbeit: Bisher habe ich alle Projekte selbst entworfen. Ich denke, dass ich in Zukunft vermehrt Mitarbeiter hinzuziehen werde: einen Schriftsteller oder Journalisten als Drehbuchautor; einen Kameramann ... Dennoch – meine Arbeit wird wahrscheinlich immer experimentellen Charakter haben, so dass das Endprodukt bei Drehbeginn niemals feststehen wird.

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Bild: Chicorée


Werden sie also allgemeine Probleme, die von aussen kommen, behandeln?

Bisher waren es persönliche Probleme; in Zukunft werden es wahrscheinlich gesellschaftliche Probleme sein.

Diese waren doch schon in Swissmade da!

Swissmade – das ist eine Schwelle. Ich weiss ...

Andersherum gefragt: Wie sieht ihr nächstes Projekt aus?

Ich weiss noch nicht, wie es konkret weitergehen soll. Verstehen sie mich richtig: es handelt sich nicht um Resignation – es ist dies vielmehr eine schöpferische Leere. Das ware mein Ideal: Filme zu machen, die, obwohl sie sehr privat sind, eine Verbindlichkeit besitzen, welche auch ein breiteres Publikum anspricht. Ich zweifle allerdings daran, ob zur Zeit das Filmbewusstsein schon so weit entwickelt ist, dass auch sehr eigenwillige Arbeiten akzeptiert werden und jenes Publikumsinteresse finden, welches dem Filmschaffenden erlaubt, weitere Projekte zu realisieren.

Damit haben sie uns wohl in groben Zügen ihren Weg geschildert, wie sie ihn auch einem Ratsuchenden ...

Ja, und nun müsste er selbst entscheiden: liegt ihm dieser Weg, will er Autorenfilme machen oder nach anderen Möglichkeiten suchen.

Konkrete Möglichkeiten – etwa für die Realisierung eines geplanten Projektes – können sie uns keine nennen?

Doch. man kenn beim Bund ein Exposé oder ein Drehbuch einreichen und um Produktionsbeteiligung nachsuchen. Von der Jury als gut befundene Projekte werden mit einem Beitrag, der bis zu 50 % der Produktionskosten betragen kann, gefördert – für unbekannte Leute dürfte es allerdings äusserst schwierig sein eine solche Unterstützung zu erhalten. Die ersten Gehversuche sollten eigentlich an einer Filmhochschule gemacht werden (können). Doch bei uns gibt es nur einen Ansatz dazu: Die Filmkurse an der Kunstgewerbeschule. Daneben – wie gesagt – gibt es praktisch nur: Selbststudium im Alleingang.

Wir haben in der Schweiz in letzter Zeit verschiedene Tendenzen. Von allen Seiten beginnen junge Leute, Filme zu machen – mit unterschiedlichen Voraussetzungen, verschiedenen Absichten und widersprüchlichen Ansichten «über Film». Doch gerade dies scheint mir richtig zu sein – persönlich bin ich weder gegen Papas noch gegen Bubis Kino – , ein jeder soll doch seine Filme machen, und Jeder, der Filme dreht, sollte sein Publikum finden. Dabei versteht es sich von selbst, dass derjenige, der billigere Filme macht, mit dem kleineren Publikum auskommt, als jener, der Monsterfilme ... Aufwendige Filme müssen nun einmal so gemacht werden, dass sie ein sehr breites Publikum erreichen. Aber eben, jeder kann einmal «über die Schnur hauen» ... , so dass der Film weniger einspielt, als er gekostet hat.

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Bild: Swissmade


Also jeder sein Publikum ... aber, meinen sie damit ein anderes, oder werden sie sich vermehrt nach dem vorhandenen Kinopublikum richten?

An sich tendiere ich mehr auf die zweite Version. Ein Publikum muss man ja erreichen, aber ich möchte keine indifferente Masse, sondern Zuschauer, die ich auch ansprechen kann – ich möchte mein Publikum finden. Sehen sie, Godard ist das gelungen. Seine Filme werden als Godard-Filme gesehen. Man (sein Publikum) kennt seine früheren Filme, man kennt seine Weltanschauung und seine politische Haltung, man weiss, wie er denkt und was er in seinen Interviews sagt. Seine Filme werden als Produkt persönlicher Auseinandersetzung mit seiner Zeit, der Welt und ihren Problemen verstanden. Beim Filmen ist leider noch selten, was bei der Literatur selbstverständlich ist. Man kauft ein bestimmtes Buch und nicht einfach eines, das als Roman gekennzeichnet ist – man achtet auf den Autor. Der Autorenfilm- eine Tendenz, die sich übrigens schon mit dem «Neorealismus» in Italien abgezeichnet, vor allem aber mit der «Nouvelle Vagus» in Frankreich durchgesetzt hat. Und bei uns? – der grössere Teil des Publikums geht nur zur Unterhaltung ins Kino. Dabei gibt es doch nicht nur Unterhaltungsfilme! Welche Erwartungen stellt ein Kinopublikum an einen bestimmten Film? – diese Frage wird entscheidend, sobald man auf den kommerziellen Erfolg angewiesen ist. Gerade das Publikum ist wohl (wenigstens neben Produzenten und Verleihern) etwas vom schwierigsten, denn es ist ganz unberechenbar in seinen Reaktionen. Manchmal ist ein Film gerade «reif» – ein politisches Ereignis oder ein Zeitboom, wie etwa die Pop-Ära, macht ihn aktuell; ein anderer fällt ganz unvermutet durch. Ich versuche zur Zeit, das Debakel mit Swissmade zu analysieren und zu ergründen, weshalb er auf so widersprüchliche Reaktionen gestossen ist. ( ... dabei könnte mir die Filmkritik etwas helfen, schriebe sie nicht nur Dinge, die weder begründet noch fundiert sind. Die vorhandenen Ressentiments nützen niemandem etwas – sie vergiften nur die Atmosphäre.)

Wir (die Autoren von Swissmade) waren von Anfang an in einer Konfliktsituation: Kinobesitzer sowie potertielle Geldgeber erwarteten einen Publikumserfolg, das heisst einen finanziellen Erfolg. Kennt man aber die Wünsche des grossen Publikums, so müsste man einen sehr kommerziellen Film herstellen. Trotzdem wählten sie uns, drei Autoren die (besonders Yersin und ich) bisher nur eigenwillige und sehr persönliche Filme machten. Sollten wir nun einen Film drehen, wie er vor allem dem Publikum gefällt oder sollten wir – da der junge Schweizer Film langsam eine eigene Richtung, eine eigene Linie findet, – unseren Weg weitergehen, auch auf die Gefahr hin, dass Swissmade kein Publikumserfolg wird?

Vor Swissmade habe ich nur mein eigenes Geld auf's Spiel gesetzt – ich war niemandem Rechenschaft schuldig. Hier hatte ich Fr. 100'000.- zu verantworten, das spielt schon eine Rolle, und es brauchte einiges an Überwindung bis feststand; «Ich gehe keinen Kompromiss ein, zu dem ich nicht stehen kann.» Dies ist übrigens auch ein Grund, weshalb ich noch nichts Neues konzipiert habe. Ich schenke der Reaktion des Publikums auf Swissmade grosse Aufmerksamkeit, da sie mich zur Auseinandersetzung zwingt. Ich will studieren, wer das Publikum ist, was es will, wie es reagiert und empfindet. Manchmal wartete ich auch vor dem Kinoausgang, sprach die Leute an und befragte sie über ihren Eindruck, den ihnen meine Episode vermittelt hatte. Ich möchte einen eisern notwendigen Film machen, der die Zeitprobleme – mit den gestalterischen Elementen des Films – reflektiert. Deshalb ist ein Dialog, den ich mit meiner Generation, mit meiner Umgebung und meinem Publikum führe, für mich sehr wichtig. Vorerst einmal lasse ich die Ausstrahlung von Swissmade auf mich wirken. Ich lese auch die Kritiken, denn alle Reaktionen sind für mich wichtig: Ich bin kein Eisenpanzer, der einfach stur seinen Weg geht; stosse ich auf Widerstand, so muss ich ihn überwinden, weil ich ihn nicht ignorieren kann.

Kommen wir nun – wenn es ihnen recht ist – ausführlicher auf ihren bisher grössten Film, die Episode 2069 – oder dort, wo sich Futurologen und Archäologen gute Nacht sagen für Swissmade zu sprechen. Haben sie ihn nur aufgrund des einmaligen Angebotes der Bank gedreht, oder hätten sie diesen oder einen ähnlichen Film auch sonst geschaffen?

Ja und nein. Ich hatte – bevor ich etwas von der Bank wusste – einen Zukunftsfilm (eine Art Sience fiction, aber nicht im Hollywood-Sinn) geplant.

Sie hätten also auch sonst diesen Film realisiert?

Richtig ist, dass ich den Film gemacht habe, den ich sowieso einmal machen wollte. Vor Swissmade habe ich noch einen anderen Film abgedreht (Sad-is-fiction), den ich nun noch nicht montiert habe, weil das Angebot der Bank dazwischenkam. Der Film, den ich für die Zeit danach plante – obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wie ich ihn finanzieren sollte – wäre dieser futuristische Streifen geworden. Nun habe ich das latente Projekt mit der Aufgabe, welche uns die Bank stellte, zu kombinieren versucht. Grundsätzlich geändert hat sich nur, dass die Handlung, die sonst in irgendeinem Land, an einem imaginären Ort, abgelaufen wäre, sich nun in der Schweiz abspielt.

Da eine Bank den Film finanziert hat, drängt sich die Frage auf: Mussten sie ihr Drehbuch vorlegen, welche Bedingungen gingen sie ein – wurden sie direkt von der Bank beeinflusst?

Das nicht – das überhaupt nicht. Es war so: Die Bank verlangte einfach einen Beitrag zum Generalthema der Aktion «Die Schweiz nach uns». Gut, das ist eine gewisse Auflage; darüber hinaus war das Budget fixiert, die Dauer und das Format festgelegt, sowie bestimmt, dass es ein Farbfilm sein müsse. Dies war der vorgesehene Rahmen. Absolute Freiheit ist schwieriger zu überwinden als geringfügige Einschränkungen und – das ist ja selbstverständlich – wir waren nicht gezwungen, das Angebot anzunehmen. Die genannten Bedingungen waren mir bekannt. Obwohl ich sie nicht als Einschränkungen empfand, haben sie mich bestimmt beeinflusst. Negativ oder positiv ... meinen Stoff jedenfalls musste ich wahnsinnig kürzen. In der Kinofassung dauert meine Episode 40 Minuten; 30 Minuten lang hätte sie werden sollen – aber, als ich mein Projekt zum ersten Mal «tim-te» (die zeitliche Länge der einzelnen Einstellungen festlegte), ergab sich als Gesamtzeit eine gute Stunde. Ich musste deshalb verschiedenes streichen, kürzen. Dies hat die endgültige Fassung negativ beeinflusst: Es fehlen Querverbindungen; der Film wirkt gestutzt. Eigentlich ist dies ein Vorwurf an mich, ich habe falsch disponiert – mich «verhauen»: dazu stehe ich in jedem Fall. Dies ist mein Fehler, der auf mangelnde Erfallrung zurückzuführen ist. Ich habe an dieser Aufgabe viel gelernt. Etwa wie man einen Film überhaupt «timen» kann. Gerade bei meiner Arbeitsweise ist dies besonders schwierig, da ich nicht nach einem fixen Drehbuch filme, sondern nach einem Prinzip, das im Entwurf nur die einzelnen Themen festhält. Innerhalb dieser Themenkreise improvisiere ich frei. Trotzdem, ein mit demselben Geld hergestellter, in seiner Länge nicht festgelegter Film, wirkte wahrscheinlich viel geschlossener.

Die ganze Montage von Swissmade beruht eigentlich auf dem Prinzip der Ellipse. Ich erkläre ihnen an einem frei erfundenen Beispiel, was ich unter Ellipse verstehe: Gezeigt wird ein Rennauto, das durch eine Passstrasse heraufrast und um die Kurven quietscht. Nun ein Schnitt. Man sieht das Auto um einen Baum gewickelt, brennend, total zerstört, etwas Blut läuft herunter. Wie das Unglück geschieht, wird ausgespart. Ich zeige nur Voraussetzung und Resultat. Der Zuschauer muss diese Lücke mit eigenen Vorstellungen, mit seiner Phantasie ausfüllen. Diese Methode ist, sofern die Phantasie der Zuschauer mitmacht, viel wirkungsvoller als jene, die das ganze Geschehen dramatisch zeigt. Bei Swissmade arbeitete ich praktisch ausschliesslich mit dieser Methode; sobald eine seiner verschiedenen Ebenen wieder aufgenommen wird, hat sich die Situation um eine Nuance verändert. Eigentlich musste man bei meinem Film fast den Montageplan (der einer Partitur vergleichbar ist) vor sich haben, um ihn fortlaufend «lesen» zu können. Obwohl der Film eine ganz klare Konzeption hat, wird er wohl aus diesem Grund erst beim zweiten oder dritten Sehen richtig verstanden. Auf jeden Fall wird mir langsam klar, dass ich mit Swissmade das Erfassungsvermögen des ungeübten Kinogängers einfach überschritten habe. ln welchem Fall muss man die formalen Mittel zugunsten der Verständlichkeit des Filmes beschränken und in welchem den eigenen Stil durchsetzen? – diese Entscheidung richtig zu treffen, ist sehr schwierig.

Könnte dies auch ein Grund sein, weshalb ihr Film bei der Filmkritik so schlecht wegkam?

Es gibt, so scheint mir, verschiedene Gründe dafür. Da ist einmal die Vorreklame für Swissmade. – Sie hat bestimmt ganz falsche Erwartungen geweckt. Jede Erwähnung der Bank im Zusammenhang mit einem kulturellen Ereignis ist für sie natürlich Reklame. Wir Autoren von Swissmade hatten zwar alle Freiheiten inbezug auf diesen Film; wir hatten aber praktisch keinen Einfluss auf die Publicity. Ich meinerseits war äusserst zurückhaltend im Veröffentlichen von Informationen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – sickerte einiges durch. Die Gerüchte wurden zu immer grösseren Phantasieprodukten ausgebaut. So konnte ich Dinge hören und lesen, die ich weder gesagt noch gemacht hatte und die auch gar nicht in meiner Episode vorkommen.

Ein anderer Grund: Als wir noch kleine und billige Filme machten, nahm man uns und diese Filme noch nicht ernst. Die Filmkritik lobte oder tadelte – einmal mehr, dann wieder weniger; sie schrieb: «Der hat noch Talent!» oder: «Man sollte dem «mal eine Chance geben.» Vielleicht sind wir nun dadurch, dass wir es wagten «ins Kino zu kommen», zu Rivalen der Kritiker geworden; vielleicht halten sie uns noch nicht für würdig, um mit uns auf gleicher Ebene zu diskutieren.

Die etablierten Filmkritiker sind noch sehr für traditionelle Formen. Mir ist bewusst, dass ich auch in diesem Sinn keinen bequemen Film gemacht habe: er kann filmhistorisch nicht eingereiht werden! Verfolgt man aber meine Filme, so wird man doch eine Entwicklung und eine gewisse Linie feststellen – auch etwas, das in keiner Kritik registriert wurde.

Es fielen Schlagworte. Eine richtige Auseinandersetzung war nicht zu finden.

Wirklich nur Schlagworte! «Bodenlos schlecht, nichtssagend ...» – das interessiert mich nicht, schon gar nicht bei einer Auflage von 100'000 Exemplaren. Aber auch das Gegenteil wäre schlimm gewesen: alle Zeitungen des Lobes voll – das wäre genau so unbegründet wie jetzt diese miesen Kritiken. Wenn man ein halbes Jahr an einem Film gearbeitet hat, der eine gute halbe Stunde dauert, und es kommt jemand, sieht sich den Film ein einziges Mal an und schreibt drei Stunden später innerhalb von zehn Minuten eine Kritik, so ist er einfach nicht kompetent zu urteilen – man sollte seine Kritik weniger ernst nehmen. Ich glaube, auch Filmschaffende dürfen etwas von ihren Kritikern erwarten – ein Film ist doch noch ein wenig wichtiger, als die Kritik, die nachher über ihn geschrieben wird. Und dies wäre das Mindeste: der Versuch einer objektiven Darsteilung. Seine persönliche Ansicht kann ja jeder trotzdem noch anbringen; aber, er soll doch wenigstens zu erklären versuchen, weshalb er diese, seine Ansicht vertritt – auch wenn es eine kleine Anstrengung im Kopf braucht.

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Bild: Swissmade

Da ihre Episode stellenweise hochpolitisch ist, glauben sie, dass bei der Beurteilung auch Fragen der Ideologie eine Rolle spielten?

Ich habe schon das Gefühl. Alles wird durchwegs so bagatellisiert ... Behauptet einer: «Das ist die letzte Idee, banal, so etwas ... », dann kann ich ihm das – die Texte liegen hier vor – einfach widerlegen: Wissenschaftler behaupten, sie sähen auf längere Sicht kein Hindernis mehr, ein selbständig denkendes Elektronengehirn zu konstruieren. Davon – «Ich, Robo(-ter) denke – also bin ich.» – gehe ich aus und stelle die Fragen: Sind wir imstande, eine solche Maschine zu unser aller Wohl zu programmieren, oder wird sie von einer Machtgruppe an sich gerissen und dazu missbraucht, die Gesellschaft zu terrorisieren? Ist die Menschheit in der Lage – also den Anforderungen gewachsen – Computer zu programmieren, welche quasi das Bundeshaus ersetzen? Auch wenn ich diese Fragen nicht allein beantworten kann, so löst doch das Bewusstsein, dass grundsätzlich solche Dinge möglich wären, ein Unbehagen bei mir aus – ein Unbehagen, das ich nur bewältigen kann, wenn ich mich damit befasse.

In meiner Episode wird zum Beispiel gesagt: «Jeder integrierte Staatsbürger wird geplant, ist dank einer biologischen Wachstumsbeschleunigung mit 7 Jahren volljährig und hat mit 41 Jahren die oberste Altersgrenze erreicht.» – eigentlich eine wahnsinnige Grausamkeit. Doch auf die Zuschauer scheint solches nicht zu wirken, Boshaft, aber nicht plump genug? Wahrscheinlich hätte man die Holzhammermethode anwenden sollen: Leute, wie sie auf Rollstühlen in die Gaskammer geführt werden, zeigen sollen – aber mir widerstrebt das.

Eigentlich ist doch die «feinere» Art – Hiebe beiläufig auszuteilen – viel gemeiner.

Klar, aber wenn es nur wenige bemerken? Einerseits habe ich mich viel zu stark auf die Phantasie der Zuschauer verlassen; anderseits habe ich ihnen vielleicht zu wenige Clichés geliefert, um ihre Phantasie anzukurbeln.

Unklar blieb etwa die Sequenz mit den «Schläuchen». Wie war das gedacht?

Dies wurde durch das Doppelkopieren nicht deutlich. Vielleicht hole ich am besten etwas weiter aus: der Humanoid, der da auftaucht – er ist nicht oft im Bild, aber alles, was durch das Oval gefilmt wurde, ist von diesem Wesen abhängig – nimmt Interviews auf und wird als ausserplanetarisches Wesen angesprochen. (Im Fernsehinterview, in Mäders Episode, spreche ich aber von einem wahrscheinlich ausserplanetarischen Wesen.) Stimmt die Spekulation – ausserplanetarisch –,so handelt es sich beim Humanoid um einen Wissenschaftler, der sich für unseren Planeten interessiert; stimmt die andere Spekulation – Wesen aus dieser Welt – so könnte ich der Erfinder sein. Die «Schläuche» sind Traumschläuche.M an sieht sie schon dort, wo die Familie in einer Reihe sitzt, um auf einen Spaziergang (Elektronen-Trip!) zu gehen – eine Erfindung, die es ermöglicht, sich im Wachzustand in eine andere Welt zu versetzen. Eine märchenhafte Erfindung – die wissenschaftlich richtige Erfindung interessiert mich in diesem Zusammenhang gar nicht so sehr. Am Anfang meiner Episode sieht man einen Typ, der an irgendetwas arbeitet; hinten an der Wand hängen Bilder, welche in ihrer Struktur mit dem Humanoid verwandt sind. Später setzt sich dieser Typ auf den Stuhl und schliesst sich an den Traumschlauch an. Aber am Ende dieser «Traumreise» sitzt ein anderer auf dem Stuhl. (Zwischendurch sieht man einmal die andere Konstellation, ein überkopiertes Bild in Blau mit H.R. Giger – effektiver Konstrukteur des Humanaids – also jenen Mann, den man am Pult mit einer Schmirgelscheibe arbeiten sah.) Man sollte H.R. Giger wiedererkennen – denn dies ist das Indiz dafür, dass der Humanoid eine geheime Erfindung eines integrierten Staatsbürgers ist, welcher damit die Verbindung zwischen den beiden in sich abgeschlossenen Menschengruppen («integrierte» und «nicht-integrierte») herstellt. Weil diesem Wesen am Ende von drei Integrierten die Optik – Optik verstehe ich hier als Objektivität! – ausgeschaltet wird, wird die letzte Verbindung zwischen der kleinen Minderheit der Individualisten und der grossen Mehrheit der vom «Brain Center» erfassten unterbrochen. Die gesellschaftlichen Beziehungen zu den Aussenseitern sind damit abgebrochen. Zurück bleibt ein Volk, dessen Individuen dermassen im Staat integriert sind, dass es keine Freiheit mehr gibt – Freiheit auch gar nicht mehr erwünscht wird, weil die Leute geistig tot sind. Ein ganz kleiner Beitrag zum Bewusstwerden – und in diesem Sinn habe ich meine Episode verstanden. Ob es mir gelungen ist, die möglichen Tendenzen und Probleme mit meinem Film bewusst zu machen? Wenn nicht, so muss ich die Unfähigkeiten dort suchen, wo sie sind: beim Publikum, weil es nicht vorbereitet ist, darauf einzugehen; bei mir, weil ich mich nicht klarer ausdrückte. Das Ganze erscheint mir wie ein neues Spiel: man muss abstecken, langsam die Spielregeln finden. Auch hier könnte die Filmkritik einen Beitrag leisten, kämen die Leute, welche sich nur gegenseitig die Augen auskratzen, an einen Tisch und zu einer gemeinsamen Zielsetzung. Jeder könnte seine persönliche Ansicht beitragen. Bekämpft man sich aber permanent, erschöpft man sich in Streitereien, so braucht es einfach zuviel Energie, bis man nur mit einer Arbeit beginnen kann. Das kommt bei uns noch zum ewigen Problem mit dem Geld hinzu – die Leute glauben, ich hätte an Swissmade verdient, dabei hab' ich mich verschuldet. –

Wie arbeiten sie eigentlich? Drehen sie einen ganzen Film in möglichst kurzer Zeit ab, oder arbeiten sie während der Drehzeit bereits an der Rohmontage und wiederholen einzelne Einstellungen verändert?

Swissmade habe ich während dreier Monate gedreht. Zwischenhinein wurden Drehplätze gesucht oder andere, notwendige Vorbereitungen getroffen. Eigentliche Drehtage hatte ich nur etwa dreissig – Drehzeit aber wie gesagt, drei Monate.

Dann habe ich ihn in zehn Monaten geschnitten und montiert – es gibt eben viel Kleinarbeit: sortieren, auswählen ... und dann vor allem den Synchronton. In diesem Fall war alles ein wenig neu für mich. Vorher hatte ich noch nie mit 35mm zu tun. Ich war auch manche Stunde in der Kopieranstalt, um zu lernen und zu sehen wie man dort arbeitet. Chicorée habe ich in 3 Wochen, Luginbühl in einer gedreht; es gibt da Unterschiede von Fall zu Fall.

Wird die Dreh- und Montagezeit nicht auch dadurch verlängert, dass sie viel improvisieren?

Bei Swissmade hatte ich ein Drehbuch, das heisst: ich hatte ein eigenes Konzept entwickelt, in welchem ich alle Figuren – was sie tun und was sie sprechen – sehr gut überblicken konnte. Nur waren in meinem Drehbuch nicht die Einstellungen registriert, sondern die Figur, ihr Text, die Umgebung und Atmosphäre. Meist war ich dann vor dem Drehen nur mit dem Sucher an den Drehorten bestimmte Kamerastandpunkte und Ausschnitte.

Folglich war die Montage weitgehend im voraus festgelegt?

Sie liess sehr vieles offen. Mit demselben Material hätte man auch einen ganz anderen Film zusammenstellen können – ja, jedes Thema, jede Gruppe für sich allein hätte ein kleines Filmchen ergeben. Ich habe den Film assoziativ gedreht und montiert; Schnitt und Gegenschnitt finden sich nur selten – man könnte auch sagen: der Gegenschnitt liegt in der Ellipse.

Diese «Handorgel», Kärtchen an Kärtchen, war mein Montageplan: jede Einstellung, habe ich, nachdem sie gedreht war, auf ein solches Kärtchen gezeichnet – in der Mitte eine Inhaltsangabe, oben eine Kennziffer, unten eine Skizze –, dann hab ich sie nebeneinandergelegt, hier am Boden, und verschoben ... bis mir ihre Anordnung gefiel. Für mich ist der Film absolut klar – aber wahrscheinlich weiss ich nur zuviel über ihn.

Ich gebe zu, diese assoziative Montage ist heute noch ungewohnt – in einigen Jahren aber, nachdem ich noch weitere produziert habe, werden sie vielleicht besser verstanden.

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Bild: Bernhard Luginbühl

Ihre Darsteller sind immer Ihre Freude oder Bekannten – hat dies tiefere Gründe?

Ja, sie spielen sich selbst. Ich lasse mich bereits beim Entwerfen meiner Projekte durch sie inspirieren – sie sind also massgeblich am Endprodukt beteiligt. Weil ich meine Darsteller kenne, kann ich sie auch improvisieren lassen und mein Werk wird doch etwa so, wie ich es mir gedacht habe. Wähle ich einen bestimmten Typ aus, so weiss ich genau: er hat lange Haare, einen Schnauz, trägt diese Kleider, macht solche Bewegungen ... – setze ich ihn ein, erspare ich mir damit die Umstände, einen Darsteller mit all diesen Attributen auszustatten.

Doch hier in Zürich sind diese Leute bekannt; das scheint sich eher negativ auszuwirken ...

Herr Murer, sie haben da noch ein Experiment durchgeführt. (Gemeint ist der Film: Vision of a Blind Man) Könnten Sie uns zum Abschluss noch darüber etwas berichten?

Ja, dies war im besten Sinne des Wortes ein reines Experiment. Diesen Film werde ich nicht öffentlich zeigen – obwohl er kein Privatvergnügen ist, sondern filmische Grundlagenforschung, die mir ein grosses Anliegen ist.

Sehen Sie: Bisher habe ich alle meine Filme optisch konzipiert und auch optisch geschnitten – also nach den Bildern, dem Bildrhytmus, wie beim Stummfilm. Musik oder Geräusche kamen erst nachträglich hinzu. (Bei Chicorée wurde der Ton von Musikern beim ersten Sehen frei improvisiert; bei Luginbühl haben sie so lange geprobt, bis sie den Film wie eine Partitur vor sich sahen. Wir diskutierten: zu diesem und jenem Bild – Klavier, dann hier Trompeten ...) Die Musik, der Ton, ist also ganz auf den Film zugeschnitten.

Nun kam der Punkt in meiner Entwicklung, da ich den Ton als ebenbürtige Ebene des Filmes nicht länger vernachlässigen wollte. Ein Anliegen dieses Blindenfilmes war es, das Problem umzukehren: ich verband mir die Augen und filmte nach dem Gehör – dazu rapportierte ich laufend, was ich filmen wollte oder zu filmen glaubte.

Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Auch die Bildausschnitte waren immer ganz vom Auge kontrolliert. Das ist ein Geschmacksterror. Das schöne Bild kommt wohl von der Malerei her, braucht also nicht unbedingt filmgerecht zu sein. Bisher hatte ich aus der 360-Grad-Umwelt einen Ausschnitt immer so ausgewählt, dass im Rechteck des Suchers ein Ganzes entstand.

Eigentlich ganz zufällig – ich lasse jeweils die letzten Meter einer Kassete, wie die Kamera gerade auch stehen mag, einfach noch durchlaufen – fand ich, dass Bilder denen etwa der goldene Schnitt fehlt, stärker wirken können. Die «neue Sicht» faszinierte mich. Im Film Vision eines Blinden sollten nun solche Bilder absichtlich – nicht mehr wie bis anhin bloss zufällig – entstehen. Also verband ich mir die Augen, liess mich an Drehorte führen, die ich nicht kannte und filmte; aufs Tonband schilderte ich, was zu hören war – ich versuchte ein Roboterbild zu entwerfen: hier muss eine Allee sein, eine lange, gerade Strasse, denn Autos fahren mit grosser Geschwindigkeit vorbei; hier muss eine Mauer sein, denn ich vernehme ein leichtes Echo der Stimmen; aus dem Rauschen zu schliessen, stehen hier Bäume; ich versuche nun den Vogel der da zwitschert ins Bild zu bringen ...

Die Spulen mit diesen Aufnahmen wurden einfach aneinander gehängt und auf der Leinwand sah ich dann zum ersten Mal, wo ich drehte. Manchmal filmte ich ganz exakt, was ich schilderte; manchmal fast das Gegenteil.

Damit betrieb ich Grundlagenforschung: ein Experiment, dessen Ausgang nicht feststand, das aber nicht Selbstzweck ist – ich werde das Resultat noch weiterhin studieren und sehen, was daraus abzuleiten ist.

Sowieso möchte ich längst auf 2 Ebenen arbeiten: Werkstattarbeit, also weitere Grundlagenforschung; sowie ganz bewusst konzipierte Werke, in denen die gewonne Erkenntnis Anwendung findet.

Sehen Sie für die Zukunft schon ganz konkrete Veränderungen in ihren Filmen, die sich aus diesem Experiment ergeben?

Bestimmt wird der Ton in meinen Filmen an Bedeutung gewinnen; ich werde weniger vom Bild her arbeiten. Bei Swissmade und Sad-is-Fiktion hat sich dies übrigens bereits etwas ausgewirkt.

Werden Sie in ihren folgenden Filmen auch etwa ganz andere Einstellungen wählen?

Das ist möglich. Bisher führte ich die Kamera immer selber, in Zukunft werde ich sie vielleicht einmal anderen überlassen. Es ist aber auch möglich, dass ich Bilder für einen Film, bei verklebtem Sucher und ohne Stativ, mit der Kamera «aus den Hüften schiesse». Doch alle diese Dinge werden vom konkreten Projekt abhänig sein.

Wieweit dieses Experiment von Allgemeinem Wert ist, vermag ich nicht zu beurteilen, mich aber hat es weiter gebracht: es kostete ja auch 6'000 Franken – und kommerziell auswerten kann ich es nicht. Zur Belohnung wird man als Formalrebell abgetan! Doch mich interessieren solch kurzsichtige Urteile langsam nicht mehr.

Glauben Sie nicht, man sollte Vision of a Blind Man wenigstens einem interessierten Publikum zeigen? Ja, dass er auch für das Publikum wichtig sein könnte?

Ich habe ja eine Vorführung gemacht, für Mitglieder des Werkbundes. Ein Psychologe sagte mir anschliessend: «Dies war ein ganz elementares Erlebnis. Mir ist durch diesen Film bewusst geworden, welchem Geschmacksterror wir ganz allgemein ausgeliefert sind; wie verfremdet die scheinbare Realität ist; wieviel stärker alles verfälscht ist, als man gemeinhin animmt.»

Doch, ich glaube schon, dass es Leute gibt, die sich für dieses Experiment interessieren. Aber ein Vergnügen ist es nicht, sich diesen Film anzusehen. Er dauert eine Stunde und ist fast eine Zumutung. man muss alles mit einem wachen Auge verfolgen – wie ein Fachbuch. An sich würde ich ganz gern Grundlagenforschung betreiben (lieber sogar als Kinofilme drehen!) – aber davon kann ich nicht leben. Zu einem Kompromiss-Dasein bin ich folglich verurteilt.

Es scheint aber doch, dass man solche Filme einem Publikum einfach einmal zumuten muss. Man kann doch das eine und andere aus solchen Streifen ersehen – auch Undergroundfilme sind ja, so gesehen, aufschlussreich, mögen noch so viele davon ganz einfach schlecht sein.

Diverse Leute wurden bereits bei der Werkbundvorführung «stocksauer und verstopft» – «uns soetwas zuzumuten!» Dabei erklärte ich im vornherein, dass es kein Schauvergnügen werden würde. Sobald es im Kino dunkel wird, sobald sich auf der Leinwand etwas bewegt, erwarten die Leute ein Vergnügen – da es sich nicht einstellte, waren viele frustriert. Aber vielleicht hat das Nachwirkungen: die Leute müssen so – auf unangenehme Weise dazu gedrängt – über elementare Probleme des Filmes nachzudenken.

Mit Fredi M. Murer unterhielten sich W. Vian und E.P. Fromm

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/1970 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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