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Lisa faessler neu

Das eigene Weltbild auf dem Weg von hier nach dort

Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch! Ein westlich-zivilisierter Standardsatz. Ob ich hier Filme mache, oder ob ich weggehe, um Filme zu machen, das ist schliesslich einerlei.

Text: Lisa Faessler / 01. Nov. 1988

Wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch! Ein westlich-zivilisierter Standardsatz. Ob ich hier Filme mache, oder ob ich weggehe, um Filme zu machen, das ist schliesslich einerlei. Weggehen bedeutet immer auch hiersein. Ich organisiere mich hier, um wegzukommen. Ich kaufe ein. Zwischen meinem Mansardenzimmer in Zürich und dem Urwald von Equador sind keine Welten. Sie liegen zwischen dem Einkaufen und dem Urwald, denn das Organisieren einer Reise zur Filmarbeit lässt den Bruch erst offensichtlich werden. Das Mansardenzimmer wie der Urwald bedeuten eine Art Isolation, in der die Welt noch aufgehen kann. Ansonsten muss ich mich hier bestimmten Strukturen entziehen, um zu überleben.

Die Abgrenzung zur eigenen Welt, die mir vorschwebt, wenn ich mich auf eine Reise begebe, kann ich nur vornehmen, wenn ich auf Distanz gehe. Eine Motivation bleibt die Begegnung. Im Rahmen von Begegnungen möchte ich etwas verstehen, was ich selber nicht entwickeln kann. Ich möchte Argumente suchen von Übereinstimmung, die man gar nicht rational erfassen kann. Das kann auch hier geschehen, aber wenn ich hier auf die Hintergründe der Personen eingehe, so stosse ich immer auf den gleichen Kompromiss, der auch mein eigener ist: Wie kann man sich durchwursteln, ohne kaputtzugehen. Was ich suche, sind Utopien.

Bei den Secoyas geht es um Weltbilder und nicht um mehr Lohn oder weniger Arbeitszeit oder ein Delikt. Bei ihnen geht es darum, ob sie jenes Leben leben, das sie für sinnvoll halten, oder ob sie es aufgeben. Als diesen Gegensatz sehen sie das selber auch. Vielleicht gebe ich mich den Secoyas mehr und stärker zu erkennen als Dokumentarfilmer, die in unseren Breitengraden arbeiten sich ihren Personen zu erkennen geben. Es ist dort vielleicht auch einfacher. Wenn ich hier über die Leute einen Film mache, so muss ich mich auch damit auseinandersetzen, dass diese Leute mich nach ihren Kriterien genau einschätzen, und ich kann ihre Kriterien andersherum ebenfalls genau einschätzen. Ob man gottesgläubig ist oder m~izig, staatsgläubig wie fast alle oder was auch immer. Ich muss mich damit auseinandersetzen, dass ich anders denke als sie, will aber gleichzeitig von ihnen etwas erfahren für meinen Film. Wenn Filmschaffende, die Leute aus ihrer näheren Umgebung porträtieren, ihnen die ganzen Zweifel, die sie ihnen gegenüber haben, voll kundtun würden, so würden sie wohl oft keine Bereitschaft zum Mitmachen finden. Bei den Secoyas gibt es für mich das Grundanliegen, dass ich alles, was ich von mir vermitteln kann, vermittle. Wenn man über einen bestimmten Lebensweg sich einmal bestimmte Kriterien gesetzt hat, nicht abhängig sein will vom Konsum, von gesellschaftlicher Präsentation, vom totalen Sicherheitsgedanken, der uns hier besitzt, wenn man das lebt und nicht nur zum Dogma erklärt, so hat man eine andere Haltung zur Ersten Welt. Ein zurück in die Norm wird unmöglich.

Augen und Ohren gilt es offenzuhaben, im Umgang mit Menschen, keinen Druck auszuüben, neugierig sein, um verstehen zu können. Die Grundbedingung, in die Dritte Welt zu gehen, ist, die eigene Kultur in Frage stellen zu können. Die Vorurteile sind grösser, je weiter man weggeht; die Illusionen auch. Während der Vorbereitungen, während der Dreharbeiten zu einem Film ist für mich das schlechte Gewissen gegenüber der Dritten Welt nicht präsent. Das kommt bei der Montage, weil ich dann hier wieder verwickelt bin und mich im Arbeitsprozess damit auseinandersetze, was von mir an Vermittlung hineinkommt, unabhängig von dem, was auf mich zugekommen ist. Ich frage mich, weshalb ich die Begegnung filmen muss, wieso ich nicht begegne und danach etwa ein Buch über die Begegnung mache. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die sich in einem Buch nicht vermitteln lassen. Die Begegnung mit Menschen ist als Film eine andere Erfahrung als gelesen. Wenn man nicht nach wissenschaftlichen Kriterien arbeitet, werden Menschen nur in Verbindung mit ihrem Erscheinungsbild fassbar.

Die Secoyas-lndianer gehen unter. Sie haben eine Haltung zum Untergang, keine Panik. Der Untergang ist bei ihnen in der Kultur verwurzelt als etwas Gegebenes. Ich hoffe eine Verbindung herzustellen, denn ich gehe davon aus, dass wir auch untergehen. Mich interessiert das Bewusstsein für den Untergang. Nicht die Panik, aber der Punkt, an dem man feststellt, dass eine Kultur nicht mehr regenerierungsfähig ist. Ein Secoya, der in seiner Kultur untergeht, ist etwas anderes als einer, der als Kaffeeplantagenarbeiter untergeht, ein Sozialfall wird. Man fragt immer, wieso gehst du weg? Das lässt sich umdrehen: Wieso gehst du nicht weg? Wenn man sich rumhört, so erzählen doch alle von ihren Ferien, von der letzten Reise, vom Wegsein. Sich etwas entziehen, um auf eine andere Qualität zu kommen. Es geht darum, etwas zu schaffen, durch das man zu sinnvollen Fragestellungen gelangt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1988 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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