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«Es wurstelt halt jeder vor sich hin»

«Was ich mir wünschen würde: Wieder einmal freies Feld zu haben, ohne äussere Zwänge arbeiten zu können, kontinuierlich und konzentriert, soviel Raum und Zeit zur Verfügung zu haben, wie das Werk verlangt, zum voraus nicht bestimmbar, nicht eingegrenzt.»

Text: Beatrice Michel und Hans Stürm / 01. Okt. 1993

HANS STÜRM 1966 in Paris, da es in der Bibliothek der Filmhochschule nichts über den Schweizer Film gab, bekam ich das Thema als Vorgabe für meine Lizenziatsarbeit aufgebrummt. Ich war von der Sache mässig begeistert, verspürte auch wenig Drang, nach meinem Studium zurückzukehren, um in der Schweiz Filme zu machen. Film in der Schweiz – die grosse Zeit der Praesens Film, Die letzte Chance, war längst vorbei, die Gotthelf-Filme Franz Schnyders, Kino der Nation, Hinter den sieben Gleisen und was es sonst noch so gab. Martin Schlappner machte mich darauf aufmerksam: da gibt's ein paar neue, junge Autoren, Alain Tanner, Claude Goretta, Walter Marti und Reni Mertens und Alexander J. Seiler, Rob Gnant und June Kovach: die haben einen Film gemacht, Siamo italiani, die Fremdarbeiter in der Schweiz. Siamo italiani, und ganz besonders die Kameraarbeit von Rob Gnant in diesem Film, war für mich eine Offenbarung, ein Versprechen: vielleicht der Ausgangspunkt eines «Schweizer Neorealismus», einer «Schweizer Nouvelle Vague». Als Alexander J. Seiler mir die Mitarbeit als drittem Kameramann in seinem nächsten Film Musikwettbewerb anbot, gab es kein Zögern. Und ich bin wahrlich nicht der einzige Filmemacher in der Schweiz, der Xandi Seiler als Geburtshelfer in seiner Filmographie nennen kann.

HANS STÜRM Dreissig Jahre später – worüber wollen wir reden? Alexander J. Seiler als öffentliche Person, als Kulturpolitiker, als Initiant und Ghostwriter in zahlreichen kulturpolitischen Initiativen, im Schweizer Filmzentrum, dem Verband der Filmgestalter, der Eidgenössischen Filmkommission, den immerwährenden Auseinander etzungen FilmFernsehen? Mindestens für uns in der deutschsprachigen Schweiz gibt es wohl wenig filmpolitische Errungenschaften, die nicht mit deiner Person verbunden sind.

ALEXANDER J. SEILER Weniger wäre vielleicht mehr gewesen, diese Arbeit frisst dich auf, heute mehr denn je! Das Missverhälrnis von Aufwand und Ertrag mach dich müde. Heute denke ich, ich hätte mich doch mehr auf meine eigene Filmarbeit konzentrieren sollen.

HANS STÜRM Wir, die Gesamtheit der Filmemacher, haben aber viel von dieser Arbeit profitiert und profitieren immer noch. Trotzdem, die damalige Euphorie ist verflogen, von Aufbruchstimmung ist nicht mehr viel zu spüren, die Zuversicht sehr gedämpft –was ist geschehen, woran liegt das – ist es einfach unser Alter, der Zeitgeist, hat sich das Klima so verändert – oder waren unsere Vorstellungen schon damals, von Anfang an eine Fata Morgana?

ALEXANDER J. SEILER Nicht nur, wir haben immerhin etwas sehr Entscheidendes erreicht, das vor uns nicht galt: dass das Filmschaffen auch in der Schweiz als ein Teil des Kulturschaffens anerkannt und öffentlich gefördert wird.

ALEXANDER J. SEILER Je mehr an äusseren Voraussetzungen, höheren Förderungsbeiträgen und damit höheren Budgets und so weiter erreicht wurde, umso weniger sind die Filme entstanden, von denen wir dachten, dass sie dann entstehen werden, es sind nur viel mehr geworden; mit Ausnahmen, sicher, aber im Ganzen gesehen – klar, je mehr Filme gemacht werden, desto grösser ist die Zahl durchschnittlicher, unbedeutender Filme – vielleicht muss es so sein, sind viele unbedeutende Filme die Basis für das Entstehen einiger weniger hervorragender.

Mitte der siebziger Jahre gab es einen Knick in der Entwicklung, an dem Punkt, als im Verband der Filmgestalter der Anspruch auf Qualität aufgegeben wurde. Seither wird jedermann, der einmal ein Filmchen gemacht hat, als Mitglied aufgenommen.

Damit verlor der Verband seine frühere Stosskraft, die Diskussion, das gemeinsame Engagement verflachte, übrig blieb nur noch die «gemeinsame» Forderung nach mehr Geld. Ein sehr bezeichnendes Beispiel wäre das Rahmenabkommen Film-Fernsehen, in dem wir uns für ein paar Silberlinge nach und nach unseren Autorenstatus und unsere Rechte abkaufen liessen.

HANS STÜRM Ich erinnere mich, schon in den siebziger Jahren wurden öffentliche Auseinandersetzungen mit den Förderungsinstitutionen und dem Fernsehen, aber auch die kulturpolitischen Diskussionen unter uns, von vielen Filmemachern immer weniger geschätzt. Als ich mit meinem Film Zur Wohnungsfrage Trumpf-Buur-Nationalrat Eibel zu einem Antrag auf Streichung des Eidgenössischen Filmkredits veranlasste, sagten mir Kollegen: «Du sollst die Hand nicht beissen, die uns füttert.» Du gehörtest nie zu den Kulturschaffenden, die in demutsvoller Selbstbeschränkung öffentliche Kulturförderung als huldvolle Gabe verdanken, im Gegenteil: du hast mit Kritik gegenüber Kulturfunktionären und Verwaltern nicht zurückgehalten, die Kultur hatte den Nutzen, du öfters den Ärger, wahrscheinlich hat dir das auch einige Repressalien eingebracht.

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(Bild: Palaver, Palaver)

HANS STÜRM Reden wir von deinen Filmen; eine stolze Reihe von ungefähr zwanzig Werken, hauptsächlich Dokumentarfilme, zwei Spielfilme, Fernsehfilme bis hin zu Werbe-Filmen für die Schweizer Verkehrszentrale. Ein breites Spektrum stilistischer Formen, vom «cinema direct» in Siamo italiani, der Inszenierung und Stilisierung in Die Früchte der Arbeit zum distanzierten, konstatierenden Blick der Chronik von Palaver, Palaver. Zwei Dinge fallen mir dabei auf, das eine: du bist in deinen Filmen nie aus der Schweiz weggegangen

ALEXANDER J. SEILER – aber das hat nichts mit Ideologie oder nationaler Verbundenheit zu tun. Ich bin weit herumgekommen, dass ich fast immer in der Schweiz gearbeitet habe, hat in erster Linie familiäre Gründe.

HANS STÜRM Vielleicht nicht nur, denn das zweite, was mir auffällt, ist der thematische Bezug deiner Filme, ob schweizerisch oder nicht, zur konkreten politischen Realität, den gesellschaftlichen Verhältnissen hier und jetzt, die Erziehung an unseren Volksschulen: Unser Lehrer als Beispiel. Ich sehe da auch eine im Schweizer Filmschaffen eher selten gewordene Kontinuität, ein eher unzeitgemässes Insistieren auf Verbindlichkeit.

ALEXANDER J. SEILER Kontinuität ist heute gar nicht gefragt, ganz im Gegenteil. Es ist eine grosse Geilheit auf Neues, aufs Spektakel, der «Babyficker» zum Beispiel: ein riesiger Lärm für zwei, drei Wochen, hochgeschwemmt und weggeschwemmt. Im Begutachtungsausschuss der Eidgenössischen Filmkommission sitzen heute Experten, die haben noch nie einen Film von mir gesehen, kennen vielleicht nicht mal meinen Namen. Andere, die mich und meine Filme zwar kennen, sagen es blank heraus: jetzt sind junge, neue Filmer da, die wollen auch mal an den Futtertrog. Auch international gesehen hast du heute als Neuling die besten Chancen mit einer unverfrorenen Idee –

HANS STÜRM – und nicht zu bescheiden, am besten gleich mit einem Spielfilm fürs grosse Kino –

ALEXANDER J. SEILER – selbst wenn es gelingt, zum Beispiel Doris Dörrie mit Männer, heute steht Doris Dörrie auch schon wieder hinten an.

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(Bild: Palaver, Palaver)

HANS STÜRM Ich will aus der Not keine Tugend machen, doch ich hatte nie die Vorstellung, ich könnte mich mit meiner Arbeit und meinen Filmen im grossen Medienbetrieb etablieren. Ende der siebziger Jahre ist das Filmkollektiv an dieser Frage in zwei unvereinbare Teile auseinandergebrochen. Du warst in dieser Zeit Mitglied der Nemo, eine Schweizer «United Artists» könnte man sie nennen.

ALEXANDER J. SEILER Die Nemo haben Claude Champion, Kurt Gloor, Markus Imhoof, Fredi Murer, Georg Radanowicz, Yves Yersin und ich 1971 als GmbH gegründet. Wir wollten uns eine gemeinsame Infrastruktur für die Produktion und den Vertrieb unserer Autorenfilme schaffen. Es erwies sich aber als sehr schwierig, diese Infrastruktur mit unseren Autorenfilmen zu finanzieren, und so schrumpfte die Nemo innerhalb weniger Jahre auf drei Mitglieder, Fredi Murer, Georg Radanowicz und mich zusammen.

1977 kam es dann zu einer schubartigen Erweiterung und zur Umwandlung der GmbH in eine AG, der neben uns drei eteranen, June, Hans-Ueli Schlumpf, Friedrich Kappeler, Sebastian C. Schroeder, Philippe Pilliod, Iwan Schumacher und Hans Ulrich Jordi angehörten. Nun suchten wir über die Infrastruktur hinaus auch eine tragfähige ökonomische Grundlage.

HANS STÜRM Ihr habt ja dann gleich einen grossen Fisch an Land gezogen: «Die sieben Todsünden».

ALEXANDER J. SEILER Ich denke, dass die Nemo als Gruppe an diesem Projekt gescheitert ist; nicht so sehr daran, dass die einen sehr viel mehr Geld herausgeholt haben als andere, das war nicht ausschlaggebend.

Wir sind da viel zu schnell in etwas reingeschlittert, es gab einen riesigen Rummel um die 4,4 Millionen Franken, der Erwartungsdruck, ganz entscheidende Fragen, wie die Vorgabe der Länge der Filme zum Beispiel, wurden gar nicht ausdiskutiert. Max P. Ammann war der festen Überzeugung, es müssten Sechzig-Minuten- Filme sein, nur in dieser Form seien sie international verkäuflich, in Wirklichkeit waren sie gerade so unverkäuflich. Fredi Murer und Hans-Ueli Schlumpf waren von Anfang an sehr kritisch dem Projekt gegenüber und haben auch nicht mitgemacht.

HANS STÜRM Ihr wolltet Autorenfilme machen, das Geld kam vom Fernsehen, herausgekommen sind Fernsehfilme?

ALEXANDER J. SEILER Jein – Bei Der Handkuss, dem ersten mit dem Fernsehen produzierten Film, war die Atmosphäre noch stimmig. Diesen Film habe ich mit Gusto gemacht; nein, ich hatte nicht das Gefühl, im Dienste des Fernsehens zu stehen und darauf ständig Rücksicht nehmen zu müssen. Es war eine Geschichte, die ich seit Jahren mit mir herumtrug und auf den Augenblick gewartet hatte, sie verfilmen zu können, auch die Länge des Films pass e mir. Die Schwächen und Stärken dieses Films sind meine Schwächen und Stärken und nicht die des Fernsehens.

Hingegen bei Männersache, dem zweiten Spielfilm fürs Fernsehen, war es ganz anders, das war wirklich desillusionierend! Als das Drehbuch erstellt war, die Besetzung feststand, der Drehplan gemacht war, fragte ich mich, was ich bei der Sache noch zu suchen hätte; es war alles nur noch Ausführung. Ich war in ein Produktionsschema gepresst, es ging nur noch ums Einhalten des Drehplans, ich fühlte mich kaum mehr als Autor.

Mein ursprüngliches Drehbuch hätte einen Film von neunzig Minuten ergeben. Wir haben es einfach zusammengestaucht, alle Differenzierung, alle Nebensachen mussten weg, so blieb nur ein Gerippe. Es war unverantwortlich, den Film so zu realisieren, man hätte ein völlig neues Drehbuch, konzipiert auf sechzig Minuten, erarbeiten müssen.

Friedrich Kappeler hat sich mit seiner «Unschuld» und «Sperrigkeit» diesem Verwaltetwerden ein Stück weit entziehen können, er hat sich ganz auf seinen Kameramann Thomas Mauch verlassen, und so ist mit Die Rückkehr ein wirklich schöner Film entstanden. Auch June hat für ihre Vorstellungen gekämpft, auch ihr Film ist sicher kein Fernsehfilm geworden; ihre Erfahrungen sind wahrscheinlich noch traumatischer als meine.

Das Debakel um «Die sieben Todsünden» und in der Folge auch um die Nemo, der erlu t gro er persönlicher Hoffnungen und Utopien, hat mich schwer getroffen, und alle andern Beteiligten auch. Das «Ludwig-Hohl»-Projekt hat mich damals über Wasser gehalten.

HANS STÜRM Was du zu deinem Film Ludwig Hohl – Ein Film in Fragmenten sagst, entspricht sehr meinen eigenen Erfahrungen. Ich weiss heute, dass die Filme, die ich scheinbar aus persönlichen eigenen Motiven und Interessen, Filme, die ich fürs erste mehr für mich selbst, um etwas zu erfahren, zu begreifen, gedacht und gemacht habe, als aus äusserem Anlass, sei es auch ein noch so öffentliches oder politisch relevantes Anliegen, oder sei es, weil ich meinte, mit der Entwicklung des Filmemachens hier irgendwie mithalten zu müssen, dass diese «eigenen» Filme die tragenden geworden sind. Auch wenn es, das liegt wahrscheinlich schon in diesem Anspruch selbst, die kleinen Filme sind.

Jedenfalls ist Ludwig Hohl – Ein Film in Fragmenten neben Siamo italiani und Musikwettbewerb der Film, den ich am meisten liebe.

ALEXANDER J. SEILER Die Filmarbeit Ludwig Hohl – Ein Film in Fragmenten begann noch in der Nemo, als kleine Nebensache, lief neben den grossen «Todsünden» fast unbemerkt nebenher. Es gab keinen Erwartungsdruck, nicht den Medienrummel, ich habe den Film fast ganz allein gemacht.

Die Nebensache hat sich später als die Hauptsache erwiesen – aber ist es nicht oft so im Leben? Natürlich war der Film vom Anliegen her für mich nie eine Nebensache, er war es von den Produktionsbedingungen her, vom Stellenwert, dem Kontext innerhalb der Nemo. Ludwig Hohl kannte ich seit zwanzig Jahren, eine Freundschaft, viele Gespräche – der Film ist schon fast so etwas wie ein Beziehungsdelikt.

Ich hatte ein sehr sorgfältig ausgearbeitetes Treatment, Pio Corradi, der Kameramann, hatte Hohl zuerst fotografiert, sehr schöne Porträts gemacht, er erfasste intuitiv den Menschen Hohl und verstand, um was es mir ging. So hatte ich volles Vertrauen in ihn. Ich sagte zu ihm: «Schau, der Hohl lebt einfach mit dieser 200-Watt-Birne an der Decke, das ist das Licht, das er zum Leben braucht»; Corradi: «Gut, dann montieren wir statt ihrer einfach eine 500-Watt-Birne und fertig.» Hohl war nicht nur ein grosser Schriftsteller, er war auch ein begnadeter Selbstdarsteller, wenn er aus seinen Texten liest, zeigt ihn der Film in präzisen, fixen Einstellungen, keine Schwenks und Zooms!

Ja, du hast recht, das sind die Momente, die besonderen Momente des Dokumentarfilms, wenn solche Konzentration und Übereinstimmung bei allen Beteiligten eintreten.

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(Bild: Ludwig Hohl – Ein Film in Fragmenten)

HANS STÜRM Mein Bedürfnis, der Anspruch, als Filmemacher viel Zeit und Raum für meine Arbeit, meine Themen zu haben, Themen, die eher quer liegen zu dem, was in den Medien gerade gefragt ist, verwurstet wird, «daneben» liegen, dieser Anspruch verträgt sich schlecht mit der heutigen, eskalierenden Schnell- und Kurzlebigkeit.

Dein Projekt «Wo der Strom noch jung ist», ein Film über das Obergoms, eine der letzten «unterentwickelten» Regionen der Schweiz, über, wie es im Jargon des «Zeitgeistes» heisst, randständige Menschen –

ALEXANDER J. SEILER – das ist überhaupt kein randständiges Thema –

HANS STÜRM – trotzdem ist es ein Projekt, auf das sich weder die Begutachtungsexperten stürzen noch die Fernseh-Manager.

ALEXANDER i. SEILER Das Projekt ist als dritter Teil eines Triptychons gedacht, zu Siamo italiani und Die Früchte der Arbeit. Bei Siamo italiani geht es um die Fremden in der Schweiz, in Die Früchte der Arbeit um die Entfremdung in der Industriearbeit, die Selbstentfremdung des Schweizer Arbeiters. Im Film über das Obergoms möchte ich Menschen zeigen, die sich gegen die Entfremdung und Fremdbestimmung zur Wehr setzten.

Ich suche auch nach einer dramaturgischen Weiterentwicklung der filmischen Form nach Die Früchte der Arbeit – aber ich muss feststellen, die Experten im Begutachtungsausschuss verstehen gar nicht, um was es mir geht, was ich will. Sie sagen mir, wenn du meinst, das machen zu müssen, mach doch einen sechzigminütigen Film ... Doch um das Projekt so zu realisieren, damit der Film den Anforderungen der Kinoleinwand genügt, und als das ist der Film gedacht, braucht es mindestens eine dreiviertel Million.

HANS STÜRM Erfahrungsgemäss ist in der Schweiz aber mit einer halben Million die obere Grenze für einen Nichtspielfilm erreicht.

ALEXANDER J. SEILER Warum sollen die Dokumentarfilme fürs Kino so viel billiger als die Spielfilme sein? Da haben wir Dokumentarfilmer als Lobby versagt. Nein, mit weniger kann und will ich dieses Projekt nicht machen. Schon Palaver, Palaver hat mir, obwohl wir mit den Kosten an die unterste Grenze gingen, eher Schulden als einen Ertrag gebracht.

ALEXANDER J. SEILER Dennoch, vor zehn Jahren haben wir ja nicht einmal davon geträumt, dass in der Schweiz mehr als fünfzehntausend Leute ins Kino gehen, um einen Dokumentarfilm zu sehen (Palaver, Palaver); und es werden noch mehr werden, denn der Überdruss an den Massenmedien, gegenüber Fernsehen und Massenpresse wächst.

Es wird auch in Zukunft ein kleines Publikum sein, eine Minderheit selbstverständlich, denn ein Mehrheitspublikum gibt e ja gar nicht mehr, das ist ein Phantom. Ich erinnere mich, im März 1938, das Fussballspiel Schweiz gegen Grossdeutschland in Paris, da hat die ganze Schweiz Radio gehört, das war ein Mehrheitspublikum. Heute, bei dreissig Fernsehkanälen, gibt es nur grössere und kleinere Minderheiten.

Genauso wenig stimmt es, dass unsere Filme nur von einem engen, bestimmten Kreis von Leuten gesehen werden; auch beim «Einspruch» zum Beispiel hatten viele Leute die Vorstellung, war die Erwartung, dass diese Zeitschrift eine Sache eines elitären exklusiven Kreises sei, Hugo Ramseyer vom Zytglogge-Verlag etwa war überzeugt, dass in unserer Abonnentenkartei die Schweizer Geisteselite verzeichnet sei; überhaupt nicht, neunzig Prozent unserer Leser waren ganz normale Adressen.

HANS STÜRM Ich frage mich schon seit geraumer Zeit, wann die Fernseh-Anstalten bei dem unsäglichen Kampf um Ein- und Umschaltquoten auf die Idee kommen werden, einmal die Ausschaltquoten zu messen, vielleicht finden sie dort bald einmal das einzige Mehrheitspublikum. Im Juli 93 hat Herr Vouillamoz unseren welschen Kollegen in aller Deutlichkeit gesagt, was wir Filmer zu erwarten haben; macht eure Filme, fürs Kino, wenn ihr wollt, aber nicht in meinem Fernsehen, ein für allemal, sagte der Herr, im Fernsehen der Zukunft sei für unsere Filme kein Platz.

ALEXANDER J. SEILER Vouillamoz spricht nur zu deutlich aus, was andere Fernsehgewaltige auch denken; das Fernsehen DRS verkauft sich jetzt selber als «ein Unternehmen der SRG». Wo zum Teufel kommt in ganz Europa die fixe Wahnvorstellung her, dass das öffentlich-rechtliche, beziehungsweise durch Konzessionsgelder finanzierte Fernsehen ein kommerziell orientiertes Unterhaltungsmedium werden müsse! Wenn sie schon mit den Konzessionsgeldern unternehmerisch umgehen wollen, können sie ja fürs erste ihren aufgeblähten Verwaltungsapparat abbauen.

Merkwürdig ist, dass weder Herr Riva noch sein oberster Vorgesetzter, Bundesrat Ogi, Herrn Vouillamoz zurückpfeifen und ihm beibringen, dass in der Konzession seines Fernsehens im Rahmen des Kulturauftrags die Förderung des Schweizer Filmschaffens festgeschrieben ist.

HANS STÜRM Da könnte man vermuten, dass der Kulturauftrag auch Herrn Ogi eher lästig als ein Anliegen ist – nur war aber offensichtlich auch unter den anwesenden Filmemachern in Lausanne ausser betretenem Schweigen keine Reaktion auszumachen.

ALEXANDER J. SEILER Es wurstelt halt jeder vor sich hin, baut an seiner Karriere, es gibt keinen Zusammenhang mehr, keine gemeinsamen Interessen, keine weiterführende Diskussion.

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(Bild: Palaver, Palaver)

BEATRICE MICHEL Lieber Xandi, um zu einem Gesprächsende zu kommen: du scheinst mir, mit Emil Habibi gesprochen: ein Peptimist. Du sagtest, wiederholt, dass das Filmen schwieriger geworden sei, was nicht verwundere, denn das Leben sei auch schwieriger geworden. Du freust dich an Besucherzahlen, zumal das Publikum aus allen Schichten kommt, du sagst, es sei ein wahres Glücksgefühl gewesen, als Bea Cuttat und Ella Kienast den Verleih für Palaver, Palaver übernommen und diese Arbeit mit Begeisterung und Knowhow gemacht hätten und du damit erstmals nicht mehr mit dem Bauchladen herumgehen musstest: eine Aufgabe erfüllen mithin, die viel Zeit und Energie verschlingt, und für die du kein Talent hast.

Meine wiederholte Frage war: Was ist nun eigentlich die «Wichtigkeit», ein Wort, das ich aus Nicolas Humberts wunderschönem Dokumentarfilm über seine Mutter herhabe. Die Mutter sagt dort nach einem langen, unter dem Nationalsozialismus schwierigen Leben: sie habe sich immer an die «Wichtigkeit» gehalten. Was verbindest du für dich mit diesem Begriff?

ALEXANDER J. SEILER Unsere beiden Töchter. Die Töchter scheinen mir das gelungenste in meinem Leben. Sie sind erwachsen, gehen ihre eigenen Wege. Und zugleich sind sie und ihre Wege ein Teil meines Lebens, das ist spannend und macht Freude. Ohne Beeinträchtigung. Einfach.

BEATRICE MICHEL Die Töchter: das wäre ein neues Gespräch, ein anderer Film, ein anderes Buch. Was würdest du dir wünschen für die Zukunft deiner Arbeit, was ist da an Utopie geblieben?

ALEXANDER J. SEILER Das wäre: Wieder einmal freies Feld zu haben, ohne äussere Zwänge arbeiten zu können, kontinuierlich und konzentriert, soviel Raum und Zeit zur Verfügung zu haben, wie das Werk verlangt, zum voraus nicht bestimmbar, nicht eingegrenzt. Und selbstbestimmt den sich einstellenden Intentionen folgen zu können und schauen, was dabei herauskommt. Denn, nicht wahr: an inneren Zwängen bleiben mir ja genug. Eine strenge Selbstkontrolle, eine Art Phantasieverbot, wurden mir in meiner Kindheit nachhaltig verpasst, und ich arbeite immer noch daran, mich davon frei oder freier zu machen. Freies Feld haben: das hiesse, gestört nur durch sich selbst arbeiten zu können.

Das Gespräch mit Alexander J. Seiler führten die Filmemacher Beatrice Michel und Hans Stürm

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(Titelbild und letztes Bild: Palaver, Palaver)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1993 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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