Filmbulletin Print Logo
Bildschirmfoto 2019 08 29 um 145043

«Vüu z'vüu Füume!»

Das Gedränge in den Sälen von Scala oder Landhaus mag so dicht sein, wie es will. Schlägereien um Plätze habe ich persönlich erlebt (ohne eigene Beteiligung). Trotzdem berufen sich von Anfang an die Skeptiker auf das angeblich mangelnde Interesse des sogenannten breiten Publikums.

Text: Pierre Lachat / 01. Jan. 1995

Eine befreundete Solothurnerin pflegte mir zu versichern, mit hundertzwei müssten Höchstbetagte zutodegeschlagen werden. Übung sei das zwar nicht am Jurasüdfuss, doch der etwas grausame Witz sei in der Gegend ungewöhnlich beliebt. Zählebigkeit scheint dort überdurchschnittlich verbreitet zu sein. (Über hohe Selbstmordraten wird allerdings auch geklagt.) Nur weiter so, lässt sich heute getrost sagen, und der Schweizer Film, den sich Solothurn ein bisschen zu eigen gemacht hat, überlebt noch die Schweiz, und die Filmtage erleben (wer weiss) das Ende des Schweizer Films.

Hundertmal sind sie als überflüssig geschmäht worden oder doch mindestens als hoffnungslos altmodisch und folkloristisch. (Das legendäre Massenlager gibt es immer noch.) Tausendmal hat man das gleiche vom Schweizer Film gesagt, zehntausendmal vom ganzen Land. Derzeit dreht sich offenbar jede Diskussion, die Wert auf offiziellen und eleganten Charakter legt, (wieder einmal) einzig darum, wie der ganze historische Restkram auf dem Weg in eine Welt des gediegenen Erfolgs pietätvoll wezzubefördern wäre. Wie peinlich berührt doch dieser etatistisch-sozialistische, kommerziell unkorrekte, zuschauerfeindliche, success-storylose, unberlusconische Beigeschmack wie von Ex-DDR!

Aber länger als die Totgesagten leben nur die Totgewünschten. Das Gedränge in den Sälen von Scala oder Landhaus mag so dicht sein, wie es will. Schlägereien um Plätze habe ich persönlich erlebt (ohne eigene Beteiligung). Trotzdem berufen sich von Anfang an die Skeptiker auf das angeblich mangelnde Interesse des sogenannten breiten Publikums. Innert kürzester Zeit würden nur noch ein paar Unentwegte aufkreuzen, prophezeien sie während Jahrzehnten. Noch heute reisen die Gegner an (erklärt und verkappt), um das erhoffte Fiasko nicht zu verpassen und den verhassten, unpopulären Autorenfilm ein für allemal zu beerdigen.

Fluktuation

«Zu diesen intellektuellen Wichsern und kleinen Godards bringen mich keine zehn Pferde», prahlt vor ein paar Jahren ein Kollege, der vom Heiligen Publikum nur mit ergriffen heiserer Stimme spricht. Monate danach erwische ich ihn dann doch auf der Landhaustreppe. (In diesem zugigen Flaschenhals der Filmtage gibt's kein Ausweichen mehr.) «Da wird nichts Gscheites draus», sagt schon der Redaktor, der mir 1965 seufzend einen ersten Schreibauftrag erteilt. «Und das müsste man dann auch sagen. Die denken nicht ans Publikum» Für eine aussichtslose Sache ist dieser Berichterstatter scheint's gerade recht. Notorisch renitent, bringt er es nicht über sich, zu schreiben wie geheissen. Flugs flickt der Auftraggeber seine kompetent-redaktionelle Fern-Fehldiagnose wenigstens in die Bildlegende hinein. Seine starke falsche Ansicht hat er, glaube ich, nie geändert.

Erweisen sich die Hoffnungen der Widersacher samt und sonders als verstiegen, so gilt aber nichts wirklich anderes von den Erwartungen der Veranstalter. Zu einer eigenständigen Solothurner Kontinuität im eigentlichen Sinn kommt es jedenfalls nie; und sei's bloss, weil schon nach kurzer Zeit die fortgeschritteneren und teureren Produktionen zu den ausgesprochenen Festivals gravitieren. Sicher auch etwas naiv, sehen sich die Pioniere auf die zweite Wahl verwiesen und können, so pervers es klingt, gerade die besten Titel fast immer nur nachspielen.

Unter so unsinnigen Umständen entsteht ein Bild von der Jahresproduktion, das ausgerechnet im entscheidenden Punkt verkehrt sein kann. Dass die Veranstalter keinen grösseren Schaden davon haben, grenzt schon ans Unglaubliche. Denn immerhin, die Folge ist, dass viele Besucher ein übers andere Mal mit einem schulterzuckenden «wieder nichts überwältigend Neues» von dannen ziehen.

Da läuft denn das Beste nebenher und rückt das Zweitbeste in den Brennpunkt. Was dazu führt, dass schon früh eine hartnäckige Fluktua tion einsetzt. Sie wird mit der Zeit kaum noch wahrgenommen, so selbstverständlich wächst das andauernde Kommen und Gehen von Autoren dem Betrieb zu. Ob es klug sei, seinen frisch kopierten Erstling dorthin zu geben, fragt mich (zum Beispiel) einer aus Zürich im November 1976. Aber sicher, bescheide ich ihm (wohl etwas vorschnell), die nehmen's garantiert. «Aber eine Premiere in New York wäre mir viel lieber», sagt er, womit schon ein Vorgriff auf die Moden der Achtziger getan ist. «Das eine schliesst doch das andere nicht aus», tröste ich unbestimmt. Nie wieder hat man etwas von ihm gehört. Die Erstaufführung in Solothurn findet statt, die amerikanische bleibt natürlich ein Traum.

Es sind (wörtlich) Hunderte, die es auf diese Weise mit ihren mehr oder weniger bescheidenen Arbeiten versuchen. Die vielbeschworene Durchlässigkeit des Mediums scheint sich bis in den sozialen Bereich auszuweiten. Hinein kommt man bald einmal, hinaus noch schneller. Blitzschnell spricht sich herum, wie leicht diese Bühne gerade für jemand Unberühmten zu erklimmen sein soll. Geld hat sich an den Filmtagen immer nur verlieren lassen. Doch steht es dann mit den Möglichkeiten, wenigstens berühmt zu werden (ein Umweg zum Geld), in Tat und Wahrheit auch nicht besser.

lnklusivität

Die Zahl derer, die mehr als dreimal mit einem Film wiederkommen – oder während länger als sechs oder sieben Jahren-, ist nicht überwältigend. Sie gelten dann als «abonniert». Eine nächste Selektion ist ihnen (falls erwünscht) so gut wie sicher. Eine Handvoll gestandener Autoren, Techniker und Journalisten bleibt mehr oder weniger habitué. Den fatalen Ruf, wahllos alles zu zeigen, schütteln die Filmtage nie mehr ganz ab. Dabei selektioniert man jetzt schon seit vielen Jahren stetig strenger. Nur während der ersten Periode will - entsprechend den demokratischen Überzeugungen der Sechziger und Siebziger - mit einer gewissen Erbarmungslosigkeit selbst das Allerletzte nicht wegfallen.

Die einzelnen Filme machen Solothurn weder bedeutend noch unbedeutend. Wie sollten sie auch, wo doch offensichtlich erst ihre Menge überhaupt einschenkt? Vielmehr bewahrt sich die Veranstaltung ihren Rang aus eigenem. Sie tut es kraft einer manchmal schon sturen, dann wieder tapferen Unbeirrbarkeit. Ehe nicht der letzte Autor mit seinem letzten Versuch gescheitert ist, weichen wir nicht von der teile; das ist es, was diese Haltung anscheinend bekräftigen will. (Aber ja, dass auch unsere Bäume nicht in den Himmel wachsen, ist uns bewusst.) Inoffiziell zieren sich die Filmtage mit dem ntertitel einer Werkschau. Lange wird der Begriff wörtlich verstanden. Heute bemüht man ihn viel vorsichtiger.

Bis weit in die Siebziger hinein gilt noch im Ernst, dass alle paar hundert Meter belichteten Materials die Filmkultur tragen helfen. Und es ist nicht nur Einbildung, wenn es aussieht, als täten sich thematisch und stilistisch glattweg alle Wege auf; dies ungeachtet der erheblichen Beschränkung, dass der Zugang zu entsprechend stattlicheren Mitteln fast immer verschlossen bleibt. «Mein Film ist wichtig», behauptet mancher Neu-Autor von 1972. Er tut es ohne mit der Wimper zu zucken und oft genug unwidersprochen. Was er damit meint, ist, es gebe Kriterien jenseits von gut und schlecht. Für seine Generation ist die Daseinsberechtigung eines Films in seinen redlichen Intentionen enthalten. Unter den neomerkantilistischen Bedingungen von heute kommt sie in die Verkaufbarkeit zu stecken, die man ihm zuschreibt.

Dass Filme die Welt verändern können, sollen und werden, hält sich bis gegen 1975 in manchen Köpfen als Axiom. Jeder, der nicht auf materiellen Gewinn erpicht ist und auch nur dem Anschein nach etwas zu sagen hat, gilt bis zum Beweis des Gegenteils als genial. Ausdrücklich nichts und niemanden möchte man missen oder gar ausschliessen. Unterm Leitwort gemeinsamer Stärke formiert sich eine zwar wechselnde, doch auch beharrlich wachsende Gruppe, die mindestens verbal über alle Massen inklusiv wirkt. Die immerwährende Anfeindung richtet spür-, aber verschmerzbaren Schaden an. Der blinde Eifer, die Radikalrhetorik der eigenen Pareigänger wirkt sich mitunter schlimmer aus.

Dauerprovisorium

Haben sich also zu viele zu oft zu lange zu sehr überschätzt? Der Jargon der Filmtage umschreibt diese Vorstellung indirekt, mit der geflügelten solothurnischen Dialektformel «vüu z'vüu Füume!». Schon so manches Mal ist die Panik, da komme endgültig nichts mehr nach, von der Panik überholt worden, unmöglich lasse sich so iele in ein sinnvolles Sechstage-Programm quetschen; und zuletzt kommen auch noch Zweifel hinzu, ob der Schweizer Film auf die Dauer überhaupt gültig darstellbar sei. Wenn es stimmt, dass niemandes Bäume in den Himmel wachsen, dann heisst das, auf unsern Fall übertragen: Quantität vermag nicht einmal in der Aarestadt Qualität zu ersetzen.

Den Schimpf, den Neid, die Verachtung oder die Gleichgültigkeit der Branche ernten die Autoren Jahr für Jahr in reichstem (gelegentlich auch verdientem) Mass. «Die Filme sind gut gemeint, aber schlecht gemacht», höre ich 1965 so oft, vie es mir noch 1995 unterkommt, und geäussert vird es im gleichen Brustton fachmännischer Überzeugung. Durchgehend heisst es: Die Bildschnitte springen, die Tonmischung ist holprig, der Kommentar zu wortreich und schlecht gesprochen: und trifft einmal nichts von dem zu, iann ist doch mindestens alles viel zu lang.

Enthusiasmus kommt dementsprechend selten auf. Wenn überhaupt, gilt er häufiger der Gesamtheit des Gebotenen, dem Schweizer Film als Unternehmen und nur gelegentlich einem einzelnen Titel. Dann kann die Begeisterung allerdings auch fanatische Züge annehmen. Immer gilt, dass Diskussion vor Akklamation geht. Davon ist bis in unsere debattiermüde Gegenwart etwas geblieben (weil sie eben auch applausmüde geworden ist). Es gibt Zeiten, da wird von den Filmen gesprochen, als müssten's heilige Güter sein, und man erwartet von ihnen Erleuchtung, wenn nicht Erlösung – oder so war es doch jedenfalls einmal.

Ziemlich mühsam ergibt sich, aufs Ganze gesehen, das ungebrochen Lebendige im Schweizer Film daraus, dass im günstigsten Fall immer nur so viel Weiterweisendes entsteht, wie sich laufend erschöpft, was nicht länger vorandeutet. Das Erwachsen in die Reife, die Akkumulation sollte immer nur demnächst stattfinden, tut es aber nie wirklich. Das Provisorium verlängert sich zum Definitivum, das Projekt zum Dauervorhaben: umsichtig und zuverlässig fort-, aber nie ganz ausgeführt.

Die Filmtage sind in mindestens einem noch heute, was sie immer waren: ein Entwurf, nenauer noch die Hülle eines Entwurfs. Und doch haben die letzten zehn Ausgaben (überwiegend) einen bewahrenden, geradezu instituonellen, um nicht zu sagen konservativen Charakter hervorgekehrt. Das Erreichte will, in den bislang deutlich schwierigsten Zeiten, gehalten sein, was vielleicht nur eine vornehmere Art ist zu sagen, dass es den Stillstand diskret zu markieren und vielleicht zu maskieren gilt. Das geschieht zweifellos in der unbestimmten Erwartung eines nächsten Innovationsschubes. Noch bis vor zehn Jahren hätte man von permanenter Utopie gesprochen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/1995 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Jean-Luc Godard

17. Dez. 2020

Godard und die Suche nach der Montage

Dass die Montage die Essenz des Kinos sei, stellte er schon vor 30 Jahren fest. Das machte Godard nicht zum Revolutionär, sondern zum Gläubigen des Kinos.

Essay

13. Mär. 2017

Zwischenwelten als Spiegel des Lebens

Der Geisterfilm ist eines der beliebtesten Genres weltweit. Das Kino Thailands ist besonders spukfreudig, seine Geister verbreiten mehr als nur Schrecken: eine Betrachtung der Geisterfigur und ihrer Bedeutungsebenen quer durch die thailändische Filmindustrie. (nur im Print)

Hintergrund

17. Mai 2023

«Psy-Fi» in Bern

Was zieht uns immer wieder ins Dunkle des Kinosaals? Ein psychoanalytischer Filmclub sucht im Kultfilm Soylent Green nach Antworten.