Der erste Westschweizer Journalist, der zum Kino Gedanken äusserte, die mehr als nur aus einer vorübergehenden Laune stammten, war zweifellos Jean Choux. Er schrieb für die Zeitung «La Suisse» in Genf, aber eigentlich beabsichtige er, von der Kritik zur Regie zu wechseln. Er verfasste ein Drehbuch zur Novelle «Le feu à Cheyseron» von Charles Ferdinand Ramuz. Aber nachdem dieses Projekt nicht zustandekam, entschloss er sich, im Einvernehmen mit Charles Duuanel, La vocation d'André Carel (1924) zu drehen – der erste Film, in dem Michel Simon spielt.
Die Vorliebe einiger Intellektueller für die siebente Kunst geht auf den Einfluss des Parisers Louis Delluc zurück, dessen erster Artikel 1917 in Paris erschien; in wenigen Jahren entwickelten sich nun die Ideen, die sich in der Theorie der französischen «cinegraphie» wiederfinden (bei Blaise Cendrars, Germaine Dulac, Jean Epstein, Abel Gance, Marcel L'Herbier), welche im Kino nicht einen blossen Theaterersatz sehen, sondern sein eigentliches einzigartiges Wesen herausarbeiten, das in der Abfolge der Einstellungen, der Grossaufnahme, der Kamerabewegungen und, vor allem, der Montage liegt. Zur gleichen Zeit wie neue Werke aus Deutschland, Schweden und Nordeuropa, die grossen amerikanischen Klassiker und die ersten Versuche der Sowjetunion erscheinen, bilden sich cinephile Milieus heran, vor allem rund um die ersten Ciné-Clubs, Jener von Genf, ein äusserst aktiver, sieht gegen Ende der Stummfilmzeit begeisterte Schreiber zu tage treten, etwa Arnold Kohler, der bis beinahe zu seinem Tod am 8. März 1991 (im Alter von 91 Jahren) jede Woche (namentlich) in der Zeitung «Cooperation» (unter dem Pseudonym Polyphème) kritische Analysen veröffentlichen wird. Sie treffen auf die eines andern Genfers, eines Linksradikalen: André Ehler interessierte sich ebenfalls für die Beziehungen, die zwischen Kino und Gesellschaft, auf formaler wie stilistischer Ebene bestehen; Max-Marc Thomas indessen (der nie seine Sympathien für die «Frontisten» von Oltramare verbarg!) begnügte sich während einiger Jahrzehnte in der «La Suisse» damit, eher Geschichten und Inhalte als Stile zu kommentieren; während ihm gegenübeber, in «La vie protestante» oder anderen Blättern, Jean Brocher nur den moralistischen Aspekt der dem Publikum angebotenen Werke in Betracht zog.
Von 1927 bis 1933 erscheint in Montreux die Zeitschrift «Close up», hauptsächlich in Englisch, und die Verbände äussern sich in Fachzeitschriften (in der Art der «Revue Suisse du cinéma», 1921); damit ist angezeigt, dass es im Bereich der Presse nichts gab, was dem Kinoliebhaber zu gehaltvollen Informationen verhalf.
Während des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht René Dasen in «Suisse contemporaine» Artikel, aber im allgemeinen kennen die Zeitungen keine Mitarbeiter, die eigens damit beauftragt sind, Filme zu besprechen.
Die Kinoeintrittskarte steht immer dem einen oder anderen Redaktionsmitglied zur Verf ügung, daher der öfter zufällige und banale Charakter des durch den Film ausgelösten Textes. Beim «Journal de Genève» legt Madame Clouzot besondere Kenntnisse an den Tag; dennoch zeichnet sich nirgends eine Lust ab, das, was den Reiz eines Werkes – abgesehen von einem Interesse an den Darstellern – ausmacht, zu verstehen oder verständlich zu machen. In dieser Hinsicht muss man auf ein Magazin hinweisen, das an diejenigen, die man damals «les midinettes» nannte, verkauft wurde und das seltsamerweise dem Pariser Wochenblatt «Cinémonde glich: «Ciné-suisse» wurde, mit viel Mut, vom Freiburger Emile Grêt und verschiedenen Herausgebern zweisprachig lanciert. Das Prinzip bestand darin, im allgemeinen auf modischem klatsch beruhende Neuigkeiten aus aller Welt zu verbreiten, aber auch auf die Unterstützung eines nationalen Filmschaffens in der französischen Schweiz zu dringen. Dennoch hatte «Ciné-suisse» auch Qualitäten, denn in seinen Leitartikeln verstand es Grêt, Autoren hervorzuheben, von denen man im allgemeinen wenig sprach. Regisseure aus Hollywood (oder anderswo) wurden vorgestellt, und plötzlich verschob sich die Aufmerksamkeit des Lesers unmerklich von den Schauspielern weg hin zu den Regisseuren.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs formierten sich verschiedene Zuschauergruppen neu, um die Klassiker von früher (wieder) zu sehen, eine Bewegung, die den aus den zwanziger Jahren bekannten Enthusiasmus wiederfindet: zahlreiche Ciné-Clubs wurden gegründet. Informationsblätter, Programme sprechen von den Filmemachern. Jede Vorführung gehorcht dem Ritual der vorgängigen Einführung und der allgemeinen Diskussion nach der Projektion, gefolgt von zahllosen privaten Überlegungen der Mitglieder. So stellt sich ein «cinéphiler Geist» wieder ein, der ganz stark von der Institutionen genährt wird (die Cinémathèque suisse wird 1948 gegründet, und seit Ende des Krieges diskutieren vielfältige Publikationen breit die siebte Kunst: die Bücher von Georges Sadoul und die von ihm geleitete kritiche Seite in «L'écran français», dan diejenigen von Jean Mitry in «Les lettres françaises», die «Revue du cinéma», die zu «Les Cahiers du Cinéma» werden wird, dann «Positif», die Analysen von André Bazin, von Jacques Doniol-Valcroze – eine Stoffülle, die sich die wenigern, heute vollständig vergessenen Pioniere nicht vorstellen konnten: zum Beispiel Philippe Amiguet (seine Sammlung, «Cinéma Cinéma», veröffentlichte Payot in Lausanne 1923!) ...

(Bild: La vocation d'André Carel)
Zu Beginn der fünfziger Jahre besetzen Spezialisten (oder solche, die sich dafür halten) den Platz, den die Zeitungen der siebten Kunst widmen wollen, weil sie sich dank der Programme der Ciné-Clubs Kenntnisse erwerben konnten. Bei der «Gazette littéraire», der wöchentlichen Beilage von «La Gazette de Lausanne», können unter der Leitung von Franck Jotterand seriöse Arbeiten ausgeführt werden, oft mit der Unterstützung von Louis Marcorelles. Bei der «Tribune de Geneoe» liefert Georges Bratschi eine – oftmals sehr literarische – Art Chronik, bei der jeder Film mit eigenen Gedanken berücksichtigt wird, und bei «La Tribune de Lausanne» ist eine ganze sonntägliche Seite für Renée Senn reserviert.
1952 bietet mir «La Nouvelle Revue de Lausanne» – obwohl ernstzunehmende Tageszeitung verfügt sie über keine Werbung von Verleih oder Kinos – die Möglichkeit, auf einer samstäglich erscheinenden Seite alle Filme der Woche zu kommentieren. Ich nutze die Gelegenheit, um persönliche Ansichten zu veröffentlichen, die ich aus meinen Kenntnissen der Filmgeschichte und aus meinen eigenen Reaktionen als Zuschauer gewonnen habe.
Gleichzeitig besuche ich Festivals, beteilige mich an den Arbeiten, die mir der Festivaldirektor von Locarno, Vinicio Beretta, abverlangt, gebe Kurse und verbünde mich mit Alain Tanner, um zu erreichen, dass die Schweiz das Wort «Film» in die Bundesverfassung einfüge (was das Volk am 5. und 6. Juli 1958 akzeptiert). Meine Aktivität als Kommentator von Film und Kino verfehlt nicht, mir zu einem gewissen Ansehen zu verhelfen. Deshalb bittet mich «La Tribune de Lausanne» (heute «Le Matin »), meine Arbeit für die sonntäglich erscheinende Filmseite wieder aufzunehmen und lässt mir die gleichen Freiheiten wie «La Nouvelle Revue». Seit 1959 bis heute nutze ich diesen Raum, ab 1990 aber mit weniger Zeilen. Natürlich habe ich davon profitiert, eine Anzahl meiner Texte in Buchform zu veröffentlichen, um die herum ich dann, dank der «Editions de l'Age dHomme », während rund dreissig Jahren mehr als dreissig weitere Bücher veröffentlichen konnte. Meine Tätigkeit als Leiter der Cinémathèque, Journalist, Leitartikler und Stöberer in unbekannten Gefilden vor und hinter der Leinwand, verleiht mir eine einzigartige Position: Tatsache ist aber, dass ich immer daran gedacht habe, dem Kulturgut Film und seinen Meisterwerken in der Hierarchie der Werte zu einer ihnen gebührenden Stellung zu verhelfen. Mehrere Veranstaltungen haben den Eindruck hinterlassen, dass eine solche Aufgabe auch Stützpunkte ausserhalb finden dürfte: unmöglich, diesbezüglich etwa die ausserordentliche, kontinuierliche und wissenschaftlich umfassende Arbeit, oder ganz einfach Erziehung, die Freddy Landry in Neuchatel und La Chaux-de-Fonds auch heute noch verfolgt, nicht zu grüssen. Als Lehrer, Produzent, Filmverrückter hat er es verstanden, Schüler, Freunde zu ver ammeln, damit um ihn herum eine oft mühselige Arbeit ihre Fortsetzung findet, die unsere ganze Aufmerksamkeit verdient.
Während sich Autos und Fernsehapparate vervielfacht haben, ist ein grosser Teil der Geschichte der siebten Kunst au dem Gedächtnis verschwunden. Wir ehen es sehr wohl anlässlich dieses ominösen Jahrs des hundertsten Geburtstags 1995/96. Der Stummfilm, der Traum der zivilisierten Menschheit, ist eine tote Sprache wie das Latein. In vielen Schulen geschieht es nicht selten, dass Schüler unter dem Vorwand, dass das nur alter, uninteressanter Plunder sei, sich weigern, einen Schwarzweissfilm anzuschauen. Auf einmal erhalten die Marketing-Budgets, die Werbekampagnen, die Lancierungsgadgets eine unübertreffliche Anziehungskraft, wobei die vorher von den Presse-Agenten vorbereiteten Aussagen der Autoren es absolut ausschliessen, dass der Berichterstatter in Versuchung gerät, selber noch nachzudenken.
Es geht selbstverständlich nicht darum, alle diejenigen, die in dieser oder jener Art über Film oder Kino schreiben, anzuschwärzen. Denn alles hat sich verändert: das Fernsehen verlangt nach rascher Information, und das, von dem wir hofften, es entwickle sich zu einer wahren Kritik, hat den Platz dem überlassen, was wir damals zu bekämpfen suchten: dem eigentlichen Propaganda-Material für «paparazzi». Die Angelegenheiten des Kinos haben sich gewandelt. Die Universität, die Fachleute der Kommunikation haben die Macht im ernsthaften Bereich der Erkundung der Sprache des Films übernommen, und die siebte Kunst ist entzweigebrochen: einerseits in die Ästhetik und andererseits in die Industrie. Das ist genau das, was die nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Kritiker zu vermeiden suchten. So gesehen müssen sie sich ihren totalen Misserfolg eingestehen.
(Aus dem Französischen übersetzt von Josef Stutzer)
(Titelbild: Ausschnitt aus «Ciné» Nr. 5, September 1926)
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