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Das boot ist voll

Hundert Jahre Schweizer Film

Text: Martin Schlappner / 01. Juni 1995

In der zeitlichen Mitte der hundert Jahre, die es auch in der Schweiz das Kino, den Film und den Berufsstand des Filmmachens gibt, hält unverrückbar ein einzelner Film, obwohl nicht ungeschoren von Auseinandersetzungen, seinen Platz: Die letzte Chance (1945) von Leopold Lindtberg, herausgekommen im Frühling, als der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging.

Als in den sechziger Jahren eine kritische Jugend zur Schweiz auf Distanz ging, erhob sie gegen Die letzte Chance den Vorwurf, auch er habe an dem Mythos mitgebaut, es sei dieses kleine Land, die Schweiz, in der Zeit der Verdunkelung Deutschlands und Europas durch den Totalitarismus und die Schreckensherrschaft Hitlers tatsächlich ein Ort der rettenden Zuflucht, der Neutralität und der Solidarität gewesen.

Vom Selbstbild des Asyllandes

Lindtbergs Film ist in der Tat ein Werk, an Hand dessen sich Fragen stellen lassen. Eine Frage ergibt sich zunächst an den Film selbst, den in Machart und moralischem Gestus nämlich nicht wirklich wahrgenommen hat, wer ihn als eine – künstlerisch zwar zu respektierende –Äusserung bloss der Selbstfeier interpretiert, in der sich ein in seinem Egoismus verstocktes Land gefällt.

Solidarität ist gewiss ein Thema des Films: doch diese dargestellte Solidarität spielt hier in Wahrheit vor allem zwischen den Flüchtlingen, den alliierten Soldaten, die ihrerseits einem Gefangenenlager entkommen sind, und den vor der Verfolgung durch Europa irrenden Juden; zwischen den Gejagten, die ins Asylland Schweiz unterwegs sind, und den italienischen Fluchthelfern. Die Schweiz selbst aber, als sie nach einem langen Marsch ins Blickfeld der Flüchtlinge gerät, erweist sich als ein hinter Stacheldraht und Bürokratie verschanztes Land. Wenn die Hoffnung der Flüchtlinge fürs erste nicht enttäuscht wird, wohin ihr Weg sie noch führen wird, bleibt jedoch offen. Sie stapfen weiter, ein armseliger Haufen, misstrauisch beobachtet, durch eine endlos scheinende Schneewüste – an deren Horizont sich ein Kreuz erhebt. So hat Lindtberg ans Ende seines Films ein Symbol gesetzt, das sinnhaft die geistige, die ungebrochen humanitäre Spur ahnen lässt, auf welcher er sich das Land wünschte.

Die offene Konfrontation zur offiziellen Politik in Sachen Asyl, deren Fehlen die Wortführer der Kritik dem Film Lindtbergs verargten – wie sie dann, dreieinhalb Jahrzehnte danach, mit Das Boot ist voll (1980) Markus Imhoof sich unbeschadet leisten konnte–, war zur Zeit, als im Oktober 1944 die Dreharbeiten zu Die letzte Chance aufgenommen wurden, noch nicht möglich; wurde sogar weiterhin behindert, als der Film das Wohlwollen des Dritten Reiches längst nicht mehr hätte verscherzen können, um welches Politik und Militär in Bern besorgt waren.

Zwar herrschte auch und schon damals Einigkeit darüber, dass sich die Schweiz durch Anpassung und Leisetreterei, getrieben zumal von ihrer Angst um den Verlust von Arbeitsplätzen, geblendet aber auch durch die Erklärung, dass das Boot voll und für weitere Flüchtlinge kein Raum mehr sei, in die Schuld jener mörderischen Macht verstrickt hatte, die sich 1933 zur Eroberung Europas und der Weltherrschaft in Marsch gesetzt hatte. Weder die zivilen noch die militärischen Behörden waren von dem Vorhaben Die letzte Chance angetan; denn allzu klar war selbst ihnen, dass bei aller Beschwichtigung der Mythos des Asyllandes hier am realen Verhalten gemessen würde.

Und in der Tat, in keiner Weise entsprach die politisch-moralische Zweideutigkeit, als die sich dieses reale Verhalten charakterisieren lässt, der Idealgesinnung einer Humanität und eines humanitären Dienstes, an die das Kreuz im Schlussbild des Films appelliert. Erst mit diesem Schlussbild tut sich die Perspektive auf, in welcher der Film Lindtbergs den Massstab setzte für eine individuelle ebenso wie kollektive, eine nationale ebenso wie philosophische Prüfung des Gewissens, das Schaden ja auf alle Fälle genommen hatte. So wurde denn Die letzte Chance, als der Film im Jahr 1945 herauskam, durchaus, wiewohl gewiss nicht von jedermann, verstanden als eine Herausforderung eines nicht schonungsbegünstigten Gewissens.

Gehversuche nationaler Selbstdarstellung

Zu der eingangs gestellten Frage, ob es auf die reale Schweiz einen kritischen Blick auch im Film (im Kino) damals schon gegeben habe, drängt sich deshalb eine weitere Frage auf. In welchem Mass, und ob überhaupt, war im Schweizer Film der ersten Hälfte der hundert Jahre, die es ihn gibt, ein Bewusstsein dafür da, dass mit dem Medium – wenn nicht, wie dann später gefordert wurde, in die eigenen Angelegenheiten, in den politischen Disput also, eingegriffen werden kann und soll, so doch mit seiner Hilfe – der Existenz einer Schweiz Ausdruck gegeben werden kann, die als sich das Land einer durch Geschichte und Staatswillen geprägten Kultur für wert hält.

Eine wenn auch skizzenhafte Rückschau bestätigt, dass ein Bewusstsein lebendig war, mit dem Medium – dessen gestalterische Mittel sich allerdings nicht auf Anhieb erschlossen – dem Publikum im eigenen Land und gegenüber dem Ausland das Bild einer vielgestaltigen Schweiz vermitteln zu können. Mit welchen Themen, mit welchen Stoffen und Geschichten, mit welchen Traditionen der regionalistischen Kulturerfahrung in einem politisch und kulturell föderativen Land die Vermittlung dieses Bildes geschehen ist, bleibt im einzelnen zu untersuchen. Eines, ein wichtiges dieser Themen ist bis heute die Erfahrung der Schweiz als Vaterland; das Vaterland zum einen verstanden als Mythos seiner Gründung, zum anderen aber und vor allem begriffen als geschichtliche Wirklichkeit. In der einen wie der anderen Spielart hat das Thema im Schweizer Film seine Geschichte.

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(Bild: Die letzte Chance)

So führt Die letzte Chance, vom Asylland Schweiz handelnd, auf bestimmte Art die Linie fort, welcher der Schweizer Film in den Jahren des nationalen Zusammenrückens gefolgt war, als die Aggressionspolitik der Nationalsozialisten Energien der Abwehr und des Widerstandes auslöste. Von der öffentlichen Besinnung auf schweizerische Eigenständigkeit und vom Willen zur nationalen Selbstbewahrung wurde auch der Film in die Pflicht genommen. Indem Die letzte Chance jedoch die Perspektive eines wenn auch verdeckten kritischen Umgangs mit dem real existierenden Asylland öffnet, gehört dieser Film nur noch lose zur Gruppe jener Spiel- und Dokumentarfilme, die auf dem Hintergrund des politischen Spannungsfeldes in Europa das Bild der Schweiz begründeterweise auf die Bedrohung ihrer nationalen Existenz und ebenso selbstverständlich auf die militärisch organisierte Abwehr dieser Bedrohung fixierten. Füsilier Wipf (1936), von Lindsberg noch gemeinsam mit Hermann Haller inszeniert – der seinerseits wenig später für den Dokumentarfilm Wehrhafte Schweiz (1939) verantwortlich zeichnete –, erzählt eine Soldatengeschichte aus dem Ersten Weltkrieg, das Wunschziel entwerfend, es möchte über alle sozialen Gegensätze hinweg in der Gefahr immer wieder ein einzig Volk von Brüdern seiner Freiheit sich würdig erweisen. Doch Füsilier Wipf, so stärkend der Film auf die Wehrgesinnung zwar eingewirkt hat, war – wie dann fünf Jahre danach Landammann Stauffacher (1941), der den Freiheitskampf der alten Eidgenossen am Morgarten beschrieb und den Mythos der Freiheit berief – in keiner Weise das Fanal für militaristische Soldatengesinnung. Weit genauer waren beide Filme Appelle an den zivilen Mut: für einen Künstler wie Lindtberg gehörte der zivile Mut zur Grundhaltung der Humanität, deren Ideale der Freiheit, der Menschenwürde, der Toleranz mit dem bösen Tage, der arglistigen Gegenwart, konfrontiert werden.

Die Legende vom Wilhelm Tell

Landammann Stauffacher, mit dem Lindtberg das Prinzip des Widerstandes festigte, griff nicht zurück auf die Feier des Mythos, wie das knapp zwanzig Jahre zuvor, 1924, Emil Harder mit seinem Historienfilm Die Entstehung der Eidgenossenschaft getan hatte: hier nun sollte die Besinnung auf die legendären vaterländischen Ursprünge tatsächlich geweckt werden. Emil Harder, Amerikaschweizer, wollte dem Land seiner Herkunft mit der Mahnung huldigen, dass soziale und politische Zerwürfnisse, wie sie der Landesstreik 1918 zum Ausbruch gebracht hatte, die Einigkeit untergraben, die in jeder inneren Not und äusseren Gefahr oben an zu stehen habe. In einer politischen Landschaft, wo als ein Bollwerk gegen die von innen wie aussen drohende bolschewistische Gefahr vaterländische Harmonie beschworen wurde, war Harders folkloristisch historisierender Film für einige Empfängliche tatsächlich zum Denkmal der Gesinnung bestellt.

Auffällig ist, dass der Gründungsmythos der Eidgenossenschaft und mit ihm die Legende von Wilhelm Tell nach Harders fast monumentalem Epos ein einziges Mal nur noch in einem schweizerischen Film zur Darstellung kommen – in Michel Dickoffs Wilhelm Tell – Burgen in Flammen (1960). Tell-Filme gibt es zwar einige, und das in der Frühzeit des Kinos in der Schweiz, zwischen 1912 und 1921 insgesamt vier, alle nach Schillers Freilichtspiel eingerichtet und darstellerisch mit den Laienspielern der Festspielgemeinden von Interlaken und Altdorf besetzt, ein jeder mit dem Anliegen dekoriert, es möge sich auf Grund des literarischen Stoffes die Kulturfähigkeit des Kinos beweisen.

Heinz Pauls Wilhelm Tell (1933/34) ist zwar, was die Produzenten angeht, von Schweizern mitverantwortet, repräsentiert indessen die Ideologie der im Dritten Reiche ausgerufenen Volksgemeinschaft. Aus der Figur des Freiheitshelden macht dieser Film die nationale Figur eines Führers. Michel Dickoff, dem Zeitgeist des Kalten Krieges gehorchend, stellte dann seinerseits Tell in den Dienst einer Freiheit, deren Widersacher die Tyrannen des kommunistischen Ostens sind. Seinem Film widerfuhr allerdings ironischerweise die Unbill, dass Moskau ihm eine Auszeichnung verlieh – eine Geldsammlung unter Schweizern sollte den Verkauf dieses Wilhelm Tell in die Sowjetunion verhindern. Die Groteske war so vaterländisch wie unwiderstehlich.

Hadern mit der Heimat

Hader mit der Schweiz gab es bis in die sechziger Jahre hinein im Schweizer Film nicht, gewiss aber ein kritisches Bedenken der Selbsteinschätzung, der sich das Land in der Stimmung der Mehrheit seiner Bewohner hingab. Es war ein Mann der älteren Generation, Franz Schnyder, ringsum populär geworden mit seinen Filmen nach Erzählungen von [eremias Gotthelf, der sich als erster auf die Spur der Schuldbefragung, die das Land sich auch weiterhin wird gefallen lassen müssen, gesetzt hat. Der 10. Mai (1957) schildert, protagonistisch auf private Erlebnisse abgestellt, die Ereignisse der Kriegsmobilmachung, die im Frühling 1940 nach dem Überfall der Deutschen auf Holland und Belgien angeordnet worden war. Gegen die damals weitverbreitete Meinung, der Film beschmutze das eigene Nest, konnte bedauerlicherweise Der 10. Mai nicht aufkommen. Es behagte den vielen nicht, dass hier das Verhalten der Schweizer nicht geschönt, dass die Kläglichkeit eines Teiles der Bevölkerung denunziert, die Flucht derer gerügt wurde, die es sich hatten leisten können, sich aus den Zonen der vordersten Gefahr wegzustehlen. Wiewohl dem Film eine letzte historisch-analytische Stringenz zwar abgeht, unterschlägt er weder die Verstrickung der Schweiz in politische wie moralische Schuld noch mythisiert er die Einigkeit oder die Entschlossenheit zum Widerstand.

Den Hader, die tiefe Skepsis, die ihren Wurzelgrund in der moralischen Verletztheit hat, trifft man erst in den Filmen einer Generation an, die von sich erklärte, sie sei zum Geriebt über die Väter angetreten. Das Gericht über die Väter ist auch Gericht über die Mythen, in denen sich jene – angeblich und meist tatsächlich – so eingerichtet hatten, dass Transparenz bequem abgewehrt und der Appell an die Aufarbeitung der Vergangenheit abgewimmelt werden konnten. Das Boot ist voll von Markus Imhoof – den nämlichen Stoff wie Die letzte Chance aufgreifend – leuchtet die geschichtliche Situation hell und konkret in aller Schrecklichkeit aus. Der Film charakterisiert das politisch-moralische Verhalten der offiziellen Schweiz als zumindest ambivalent; er benennt ohne Scheu die Deutschfreundlichkeit der Behörden, die ihre durch Zensur und Anpassung praktizierte Gesinnungsneutralität dem ganzen Volk hatten einimpfen wollen. Er klagt den in den Ämtern wie in weiten Teilen der Bevölkerung latent vorhandenen Antisemitismus – nicht nur den brutalen der Fröntler – und damit die mittelbare Verstrickung in die sogenannte Endlösung der «Judenfrage» an. Und er zeigt den Einzelnen schliesslich nicht untadelig als Helden, macht ihn menschlich in seiner Widersprüchlichkeit.

Abschiebung, Auslieferung – in der Epoche des Nationalsozialismus gerechtfertigt als ein Bollwerk gegen die «Verjudung» des Landes, sobald die Grenzen für die rassistisch Verfolgten geöffnet würden – sind nicht erst in dieser dunklen Zeit, gegen alle Asyltradition, in den Dienst der Staatsräson gestellt worden. Es war Peter von Gunten, der mit seinem Drama Die Auslieferung (1974) an den Fall des russischen Anarchisten Njet schajew erinnerte, der um eines Handelsvertrags willen geopfert wurde. Neben Die Auslieferung ist auch Rolf Lyssys Konfrontation (1974), vom Attentat des jüdischen Studenten David Frankfurter auf Hitlers Statthalter in Davos handelnd, einer der wenigen Spielfilme, die die Vergangenheit am Muster eines aktenkundigen, im Fall von Frankfurter strafrechtlich gesühnten Geschehens aufarbeiten. Historisch unwiderlegbar wird im einen wie im anderen Film vorgeführt, dass die Moral ein Gut geringerer Verpflichtung ist, wenn die Staatsräson die höheren Interessen ins Feld führt – das Attentat, damals von vielen als ein Akt der befreienden Notwendigkeit gewürdigt, wurde zur Strafsache, weil der mächtige Nachbar es forderte.

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(Bild: Palaver, Palaver)

Noch heftiger als Imhoof dreht den Stachel, der das Bewusstsein unserer nationalen Schuld und unserer individuellen Trägheit wachhalten soll, Thomas Koerfer in Glut (1983) um. Der Film erzählt, die Ebenen von Wirklichkeit und Traum ineinander verbindend, die Geschichte einer Kindheit in den Kriegsjahren, des Knaben Andreas. Er ist der Sohn eines Maschinen- und Waffenindustriellen und wird bis in die privatesten Bereiche von den politischen Verhältnissen, vom Benehmen seines Vaters als Unternehmer, von der Doppelmoral des offiziellen politischen Tuns und Entscheidens geprägt. Als Mann begegnet Andreas ein erneutes Mal jener Jüdin aus Polen, die als Mädchen während des Krieges zeitweise in der Schweiz Aufnahme gefunden hatte. «Es heisst, im Zentrum des Wirbelsturmes herrscht tiefe Stille», macht die reife Frau ihrem im Zwiespalt zerrissenen Jugendfreund deutlich; und bezeichnet so mit Schärfe die Existenz der Schweiz während des zu Ende gegangenen Krieges.

Verlust der wehrpolitischen Harmonie

Jeder dieser Filme besichtigt, in historischer Rückschau den Befund kritisch reflektierend, einen Zustand der Schweiz, deren Kennzeichen ist, dass Volk und Armee wehrpolitisch integriert waren. Mit der Analyse dieses historischen Befundes wird jedoch spürbar, dass diese Harmonie der Situation, dass das Volk sich in der Armee, die Armee sich im Volk wiedererkennt, von einer jüngeren Generation seither nicht mehr nachvollzogen werden konnte. In welchem Mass die Einstimmigkeit auseinandergebrochen ist, machte der Kampf um die Volksabstimmung über die Abschaffung der Armee im Herbst 1989 klar: In Verknüpfung mit dem Bühnenstück «[cnas und der Veteran » von Max Frisch hat Alexander J. Seiler in seinem grossen Dokumentarfilm Palaver, Palaver (1990) – im Untertitel: eine Schweizer Herbstchronik 1989) – dieses Auseinanderbrechen als Paradigma genutzt, um eine Schweiz darzustellen, die sich in zwei Lager gespaltet hat, ein jedes dem anderen fremd geworden.

Der Utopie, welche Die letzte Chance von einer Schweiz der Solidarität einst symbolhaft in das Zeichen des Kreuzes gefasst hatte, begegnet Seiler – der seine Thematik keineswegs linear angelegt, sondern vielschichtig und dialogisch verknüpft hat – mit der Utopie, dass die Sicherheitspolitik eines kleinen Landes nur Sinn mache, wenn die Schweiz innen– wie aussenpolitisch Friedenspolitik betreibe, wofür es eine Armee dann nicht mehr brauche. In einem Augenblick der Zeitgeschichte, da mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus die Ära der Utopien unwiderruflich zu Ende zu gehen schien, hielt Palaver, Palaver an der in seiner Dialektik gegenständlich gemachten Utopie dennoch fest. La Suisse s'interroge lautete an der Schweizerischen Landesausstellung 1964 in Lausanne der Titel jener Kürzestfilme von Henry Brandt, mit denen sich Besucher und Besucherin auf dem «Weg der Schweiz» auseinanderzusetzen aufgerufen waren. Diese filmischen Skizzen, eine jede zur Sentenz verdichtet, die Mahnung und Aufmunterung zugleich enthielt, zeigten – ganz in Übereinstimmung mit der Haltung der Ausstellung als Ganzem – eine andere Schweiz als jene, an die sich die vielen klammerten, die Sicherheit und Beruhigung in der Tradition zu finden meinen. Die Schweiz hat sich mit der Vielfalt ihrer politischen und gesellschaftlichen, ihren wirtschaftlichen und wissenschaftlichen, ihren kulturellen und humanitären Leistungen in Europa und weltweit Gewicht verschafft und ist wirtschaftlich ohnehin in weltumfassenden Verknüpfungen gehalten. Deshalb sollte sie jeden Anlass meiden – auf ihre Kleinheit pochend und um ihre Selbständigkeit fundamentalistisch besorgt–, sich weiterhin in der pessimistischen Rolle des auf angebliche Selbstgenügsamkeit ausgerichteten Sonderfalls zu üben. Das Land zu zeigen, wie es wirklich ist, hatte sich die Expo '64 vorgenommen. Vor welchen Problemen, so es sie nicht bis zur Bedrohlichkeit anwachsen lassen will, das Land sich deshalb nicht drücken kann, entwarfen in diesem Sinn denn auch prägnant die Filme Henry Brandts: und wie die Ausstellung entwarfen auch sie die Vision einer Schweiz von morgen.

Konservatives Gegenbild

In diesem Jahr 1964 trat Franz Schnyder – mit dem Jahrgang 1910 zur älteren Generation zählend – den Jungen, mit denen er in Fehde lebte und die sich damals ihrerseits polemisch gegen ihn kehrten, mit dem Film Geld und Geist, nach dem Roman von Jeremias Gotthelf, entgegen. War denn, wie die jüngere Generation das forderte, dem Kino der Auftrag aufgegeben, an die brennenden Probleme von Gesellschaft und Staat, von Schule und Haus, von Kultur und Wirtschaft, von Wohlstandgesellschaft und Konsumgläubigkeit, von Technisierung, Naturausbeutung und Forcierung des Wachstums heranzuführen: dann sollte sich, so die Überzeugung Franz Schnyders, das Thema vom Zerfall einer Familie, deren gegenseitige Achtung und Liebe am Geld zerbrechen, als Thema durchaus eignen, um die Perspektive auch auf die eigene, gegenwärtige Zeit zu öffnen.

Schnyder hatte sich seit seinem Uli der Knecht (1954) – entstanden aus Anlass des hundertsten Geburtstages des Lützelflühers – den künstlerischen Auftrag gestellt, im Werk von Gotthelf eine noch längst nicht überholte und nie auch überholbare Aktualität herauszuarbeiten. Eine Aktualität, durch welche sich die kritische Haltung gegenüber der ohne Bedenken vorangetriebenen Entwicklung unseres Landes in eine Gesellschaft der Industrialisierung, der Dienstleistung und der Kommerzialisierung, der Entfremdung des Menschen durch dessen Funktionalisierung und Vermassung beharrlich imperativ ausdrücken lassen würde.

Ohne Zweifel fügten sich die Gotthelf-Filme Schnyders – Uli der Pächter (1956), Käserei in der Vehfreude (1957), Anne-Bäbi Jowäger (1960) und Jacobli und Meyeli (1961) – ein in eine seit dem Zweiten Weltkrieg erneut sich ausbreitende Grundströmung, es benötige die Schweiz, um in einer Welt der politischen Arglist bestehen zu können, die zum einen nach wie vor von den Linken drohe, aber vor allem im übernationalen Zusammenwachsen Europas zu orten sei, Besinnung auf das Ländliche, das Bäuerliche; das Heimatliche einzig gebe die Gewähr einer gesicherten Existenz. Auf dieser restaurativen Grundströmung schwammen allgemein die Heimatfilme; deren Zahl ist, seit es in der Schweiz ein namhaftes Filmschaffen gibt, fast unüberblickbar geworden.

Sowohl in der alemannischen wie in der romanischen Schweiz ist das Genre, das seinen Schauplatz gegebenerweise meist in den Bergen angesiedelt hat, von früh an bis hinein in die fünfziger Jahre mit mehr und weniger Erfolg gehätschelt worden. Der Bergführer (1917) von Eduard Bienz eröffnete in der deutschen, Le pauvre village (1921) von Jean Herue in der welschen Schweiz die Reihe, die sich hier mit La croix du cervin (1922) von Jacques Beranger und L'appel de la montagne (1923) von Arthur Adrien Porchet, dort mit Petronella (1927) von Hanns Schwarz und Der Kampf ums Matterhorn 1928) von Luis Trenker – der eine Deutscher, der andere Südtiroler – fortsetzt und schliesslich mit S.O.S. Gletscherpilot (1958) von Victor Vicas zu Ende geht.

Diffus verhangen in einem pathetischen Heimatgefühl – nur selten ein Bewusstsein von Heimat wirklich ausformend als die Einsicht in die Verbundenheit, die bei Angehörigen derselben Gruppe zu gleichen oder ähnlichen Handlungen und Verhaltensweisen führt – versuchte und versucht noch immer der Heimatfilm mit seinen Geschichten und Dramen im Zeitalter der spätindustriellen Gesellschaft der Bevölkerungsmobilität und der Massenkultur unentwegt ein Bild von Heimat zu entwerfen, die sich als ein Gegenbild zu der beschriebenen Zeitgenössigkeit gibt, indem sie als die Idylle einer noch in sich geschlossenen Welt verlockt.

Zwar hat Franz Schnyder mit einzelnen seiner Filmerzählungen – so mit Zwischen uns die Berge (1956), auch mit Heidi und Peter (1954) – dem Genre des Heimatfilms ungeniert zugedient. Die Filme jedoch, die erzählerisch der grossen Kunst Gotthelfs folgen, stilisieren das Bäuerliche und das Dörflich-Heimatliche nicht auf das irrige Wunschbild idyllischen Heils hin. Zwar sind die Filme nach Gotthelf Bauernfilme, doch gelten sie einem qualitativ anderen Bauerntum als der Heimatfilm es sentimental zum Thema machte. Die Filme nach Gotthelf sind diesem Genre schon darum nicht zuzuordnen, weil das Heimatliche, das sie enthalten, weder räumlich noch zeitlich bloss akzidentiell aufscheint. Vielmehr orientieren sie sich an den Realitäten bestimmter Landschaften, einer bestimmten Epoche, eines bestimmten Milieus von Familie und Arbeit.

Die ethnograpische Entdeckung der Heimat

Den alten Heimatfilm gibt es nicht mehr, oder nur bei Gelegenheit spekulativer Nostalgie; wenn auch, unverkennbar, in Teilen der Bevölkerung nach ihm Sehnsucht und offenkundig Bedürfnis bestehen. Dennoch ist – paradoxerweise – der Heimatfilm seit den mittleren sechziger Jahren, als sich der sogenannte Neue Schweizer Film im Widerspruch zum älteren Kino zu definieren begann, stofflich weiterhin als existent zu beobachten. Ob im Spielfilm, ob im Dokumentarfilm stellt er jetzt den Menschen und seine Heimat zwar richtigerweise in ihrer Fixierung auf das in einer Landschaft geprägte Herkommen, auf deren Traditionen und Normen, auf Sitte und Brauchtum, Ethik und Lebensverhalten dar. Doch entwirft er nun nicht mehr missbräuchlich und sentimental das Gegenbild zu einer mit Verunsicherung, Ängsten und Heilswünschen wahrgenommenen modernen Welt. Paradigma des so verstandenen kritischen Heimatfilms ist Kurt Gloors Die Landschaftsgärtner (1969) geworden – ein mittellanger Dokumentarfilm, der – hohnvoll (und auch ungerecht) Schnyder gewidmet – ein erstes Mal im Kino unseres Landes den Bauern, den Bauern im Gebirge, in seiner Wirklichkeit darstellte. Diese Wirklichkeit war bisher – freilich nicht nur im Film, sondern in der allgemeinen politischen Deklamation – zum Mythos vom Landschaftsgärtner vernebelt worden. Entbindet ein solcher Mythos doch davon, die Wirklichkeit auf Dauer lebbar zu machen.

Uli der knecht

(Bild: Uli der Knecht)

Es gibt im Schweizer Kinoschaffen eine Tradition des Dokumentarfilms. Älter als der Spielfilm jedenfalls ist der Dokumentarfilm, besteht doch kein Grund, etwa die kurzen Reportagen, die von der Schweizerischen Landesausstellung 1896 in Genf gedreht worden sind, nicht als den Beginn des Filmschaffens in unserem Land zu bezeichnen. In welchem Mass durch den Auftragsfilm wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Inhalts der Dokumentarfilm von diesem Beginn an zudem gefördert worden ist, kann hier nicht abgehandelt werden. Im frei geschaffenen Dokumentarfilm, sofern es diesen in den frühen Jahren überhaupt gab, war doch jede Reportagearbeit etwa zumindest als ein publizistischer Auftrag zu verstehen. Die Berichterstattung, die Beschreibung von Orten, von Menschen und Landschaften, die Aufklärung aus Bildungsabsicht, natürlich auch die Poetisierung eines Erlebnisses herrschten vor. Auf die Umwelt des Sozialen fiel die Aufmerksamkeit erst spät. Die Geheimnisse der Kalmükensteppe (1923) von August Kern, gedreht während einer Mission des Schweizerischen Kinderhilfswerkes in der Sowjetunion (1921/22), ist ein Film, der, insofern er es unternimmt, den Alltag des Reitervolkes der Kalmücken visuell zu erfassen, ein soziales Umfeld wahrnimmt, wiewohl in einem fernen Land. Zugleich ist dieser Film ein Pionierwerk des ethnographischen Films.

Der ethnographische Dokumentarfilm – im deutschsprachigen Kulturbereich in der Frühzeit als Kulturfilm gehandelt – hat nie aufgehört, seine Gegenstände in jenen Gegenden und Ländern aufzuspüren, die im allgemeinen Sprachgebrauch als die Länder der Dritten (und heute auch der Vierten) Welt gelten. In der Schweiz nun kann eine Zeitlinie festgemacht werden, an welcher sich ethnographische Aufmerksamkeit und Forscherlust nicht länger mehr damit begnügten, in die Ferne und Fremde auszuschwärmen; an das eigene Land, das eigene Volk, an eine Gruppe zumindest dieses Volkes, deren Ort heimatlich fixiert ist, sollte nun die ethnographische Neugierde her anführen. Henry Brandts Quand nous etions petits enfants (1961) ist die Chronik eines Dorfes im Neuenburger Jura, einer Gesamtschule, eines Lehrers und seiner Schülerinnen und Schüler. Brandt war von Reisen, die er im Auftrag des Musee d'Ethnographie in Neuenburg unternommen hatte, mit Filmen wie Les nomades du soleil (1953), Les hommes des châteaux (1954) und Les seigneurs de la forêt (1958) in die Schweiz heimgekehrt. Seine Leidenschaft, wie sie beispielhaft in Madagascar au bout du monde (1960) zu erkennen ist, ist die Leidenschaft eines idealistischen Humanismus, dessen Argumente nicht so sehr politisch sind, als eben Appelle an die Vernunft, die aus dem Herzen stammt.

Soziale Feldforschung

Die Machart dieses chronikalen Berichtes über eine Schul- und Dorfgemeinschaft abseits der grossen Strassen weist trotz einem literarisch getönten Kommentar, der heute befremdend wirkt, auf die den Dokumentarfilm künftig prägende Entwicklung einer thematisch weitgefächerten ethnographischen und soziologischen Wahrnehmung der Schweiz hin. Es sind zwei Filme, beide im Expo-Jahr in Lausanne vorgestellt, Les apprentis (1963) von Alain Tanner und Siamo italiani (1964) von Alexander J. Seiler, die dem, der zu jener Zeit das Neue sehen und hören wollte, unmissverständlich klar machten, dass dem Schweizer Film neue Inhalte, neue Formen, neue Augen zugewachsen sind.

Land- und Talschaften – diese begriffen als geschlossene Lebensgemeinschaften – Arbeit, Berufe und Arbeitswelt, ob in Industrie, im Gewerbe oder auf dem Acker, Schule, Erziehung, Familie und Sippe, zeitzeschichtliche Ereignisse, ob aus der Erinnerung wieder heraufgerufen oder aktuell erlebt, die gesellschaftlichen Veränderungen und Entgegenetzungen wie Mobilität, Zersiedlung der Landschaften, Agglomisierung der Städte, Verflachung der Urbanität, Zustrom von Ausländern, die al Arbeitskräfte ins Land gerufen vurden, und dank ihnen Verunsicherung und Durchsäuerung des einheimischen Volkes, Ausbeutung von . .atur und Umwelt, Kämpfe, Triumphe und iederlagen (da wie dort) in der Politik, Auseinandersetzung mit einer Heimat, die sich entfremdet hat, und mit dem Fremden, dem Heimat verwehrt wird: es sind zuhauf die Themen der Dokumentarfilme, die seit der Mitte der sechziger Jahre entstanden sind.

Der Mensch nicht Objekt im Dokumentarfilm

Cross ist die Zahl der in einem Zeitraum von knapp mehr als dreissig Jahren produzierten Dokumentarfilme; die Zahl wächst weiter. Ein Wachstum, das zunächst den quantitativen Beweis erbringt, dass zum einen das Dokumentarfilmschaffen generell Erfolg hat; dass zum anderen vor allem in der Filmszene ungeschmälert das Befürfnis lebendig ist, mit Dokumentarfilmen den sich verändernden oder auch erstarrten Zuständen der Zeit auf die Spur zu kommen. In nie nachlassendem Umfang, wiewohl was die Sprachregionen betrifft zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlicher Intensität, hat der Dokumentarfilm seinen Platz behauptet, und das am Bildschirm nicht nur, sondern immer auch im Kino, das sich allerdings vorwiegend als Spielort für Spielfilme versteht. Dieser Erfolg von Dokumentarfilmen im kulturell geeigneten Kino ist in sich schon ein Ausweis der Qualität – mit einem Publikum, das natürlich eine Minderheit darstellt, das sich indessen das Verständnis für die im Dokumentarfilm erfolgende Analyse und Interpretation spezifisch gesellschaftlicher Zustände und die Darstellung kultureller Befunde zutraut. Die Qualität muss freilich in jedem Fall durch .berprüfung und Bewertung der Inhalte sowie durch die formale Analyse bestimmt werden. Insgesamt allerdings lässt sich wohl ein hoher Durchschnitt der gestalterischen Leistungen ausmachen.

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(Bild: Siamo italiani)

Qualität ist, dass der neue Dokumentarfilm in der Regel seiner Darstellung eines Geschehens keinen Kommentar beifügt. Kommentarlose Dokumentarfilme hat es zwar schon vorher gegeben; dann etwa, wenn sie einen Auftrag, so zum Beispiel touristische Werbung, sei's in einem Städteporträt, sei's als Landschaftspoem, ohne verbalen Zusatz am eindrücklichsten erfüllen konnten. Das war jeweils – von Hans Trommers Cantilena helvetica bis ZU Alexander J. Seilers In wechselndem Gefälle – mit dem Entscheid zu einer ästhetischen Gratwanderung verbunden; verzichtete ein solcher Film auf das Wort, so allerdings nicht auf die Musik, die in fast jedem Fall die visuelle Struktur festlegte. Die Absenz des Kommentars in den Dokumentarfilmen seit Les apprentis und Siamo italiani – wiewohl natürlich längst nicht in allen – ist ein Merkzeichen für die revolutionäre Erneuerung der Filmästhetik, nicht einzig in der Schweiz, überall in Europa. Es entwickelte sich – und hat im Lauf von dreissig Jahren verschiedene Spielarten hervorgebracht – ein Dokumentarfilm eben, der auf die bisher übliche verbal kommentierende Beobachtung der Menschen als Objekten verzichtet. Ein Dokumentarfilm, der schöpferisch vielmehr den Menschen das Recht einräumte, vor der Kamera Subjekte zu sein, reden zu dürfen, von sich selber also erzählen zu können. So wurde die älteste Form der Kommunikation unter Menschen, das Gespräch, zur Grundlage einer filmischen Dramaturgie. Es ist die Struktur einer Dramaturgie, die allerdings nur dann wirklich funktioniert, wenn es auch gelingt, in die Struktur des in solchen Reden sich vollziehenden Erinnerns, das ja stets ausführlich ausfällt und sprunghaft vor sich geht, Elemente der inszenatorischen Ergänzung einzuschmelzen. Es muss dem dokumentarischen Material also fiktional zur Verdeutlichung verholfen werden. Kein Wunder, dass dank diesem erneuerten Stil des Dokumentarfilms die Montage einen neuen Rang erlangte. Die Montage ist das Ordnungsprinzip für die Kreativität des Machers.

Spielarten des Dokumentarfilms

In jeder der Spielarten, die sich im Dokumentarfilm ausgebildet haben, sind in der Schweiz Filme von überlegener Qualität gedreht worden. Verhältnismässig selten trifft man allerdings auf die Spielart des Kornpilationsfilms, der, ein bestimmtes Thema behandelnd, mit bekanntem und unbekanntem, in den Archiven ausgekundschafteten Material arbeitet; der eindrücklichste Film dieser Art ist zweifellos Jürg Hasslers Krawall (1970), eines der ernsthaftesten Dokumente über die Zeit der Jugend unruhen 1968, ein Meisterstück der Agitation gegen die bürgerliche Eindimensionalität im Menschlichen wie im Politischen, die Vision aber auch eines utopisch anders erträumten Menschen. In Welche Bilder, kleiner Engel, wandern durch dein Angesicht (1988), einem Film, der – einer Dramaturgie der Assoziationen verpflichtet – das Spiel von Kindern, den Spielgrund dieser Kinder, den Ferienalltag, beobachtet und der so der Wirklichkeit unseres auf den rationalen Zweck fixierten Alltags die Utopie entgegensetzt, hat der nämliche Autor einen Filmessay von intensivster Poesie gestaltet; in die Tiefe der Psyche lotet nur die Poesie.

Es sind die besten dieser Filme Beispiele dafür, wie der Film, wenn er abläuft, gleichsam erst entsteht vor den Augen des Zuschauers. Es werden diesem also weder Erläuterung noch Moral vorgetragen. Nichts über Menschen erfährt er, sondern was er erfährt, sind Menschen, die sich reflektieren. Indem er dabei ist, wenn Menschen über sich, über ihre Lage, ihre Nöte, ihre Augenblicke des Glücks nachdenken, gerät der Zuschauer seinerseits auf den Weg, dass er sich zu reflektieren beginnt. Er wird durch das Geschehen, das vor seinen Augen entsteht, in den Film integriert. Es kann dieses Geschehen unterschiedlich sein, und vielfältig ist es denn auch in der Tat.

Es sind, wie Seilers Früchte der Arbeit (1977), durchkonstruierte Denkspiele, die in gleichem Mass verschiedene Gegenstände haben – hier die Geschichte der Arbeiterschaft, deren Weg über drei Generationen hin nachgespürt wird, und die Geschichte der eigenen Herkunft aus bürgerlichem Haus, die der Autor, sich selber gegenüber so skeptisch wie radikal, in die Auseinandersetzung um die Früchte der Arbeit und derer einbringt, die diese eigentlich geniessen müssten.

Es sind Themen der Sozialpädagogik, nähme dieser Begriff sich nicht zu bürokratisch aus, menschlich zu wenig konkret, die immer wieder zur Darstellung kommen. Oft in Langzeitbeobachtungen von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, die, mehr noch, von der Gesellschaft aus Normendünkel ausgesondert sind. Walter Marti und Reni Mertens haben ihrer Zusammenarbeit eine erste Krone aufgesetzt, als sie in Ursula oder das unwerte Leben (1966) die Bildungsfähigkeit eines blinden und taubstummen Mädchens dokumentierten und so dem Widerspruch gegen die Ideologie vom unwerten Leben Zeugnis gaben. Eine zweite Langzeitbeobachtung, Marlies Grafs Behinderte Liebe (1979), ist kein Film über die Sexualität Behinderter, ist ein Film vielmehr, in dem die Behinderten ihre Schwierigkeiten vor der Kamera leben; ist kein Film, der von aussen zusieht, ist ein Film vielmehr, in dem mit der Autorin auch der Zuschauer seine eigenen Erfahrungen einbringt.

Es sind Themen der Arbeitswelt, wie in Yves Yersins Die letzten Heimposameter (1973) oder in Hans-Ulrich Schlumpfs Guber – Arbeit am Stei (1979). Es sind Themen der Existenz, der Lebenssituation einzelner und von Kollektiven, der Bauern etwa, der Bergbauern wie in Fredi M. Murers Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind (1974). Die Trilogie Gosswil (1985) von Beatrice Leuthold und Hans Stürm ist ein grossangelegter Essay über die bäuerliche Existenz im Mittelland, doch nicht einfach von aussen beobachtet. Obwohl über Bauernschaft und Landwirtschaft berichtet wird, überprüft an Hand der bäuerlichen Arbeit dieser Essay zugleich tagebuchartig das aus der Stadt mitgebrachte Verhalten der Autoren und spürt den Veränderungen nach, die sie miterleben.

Ex voto (1987) von Erich Langjahr belegt, dass die ethnographischen Entdeckungsfahrten im eigenen Land, hier in den Hügeln, Tälern und Agglomerationen des Kantons Zug, noch immer ergiebig sind. Und als eine Ethnographin von einfühlsamster Beobachtungskraft zeigt sich die Waadtländerin Jacqueline Veuve, eine Frau, die zwar entschlossen ans Werk geht, eine Frau, die solid in der Landschaft verwurzelt ist, die jedoch eine Sensibilität besitzt, wie sie in der Begegnung mit den Menschen, an deren Leben sie teilhat, wohl demütiger nicht sein könnte. Chronique paysanne en Gruyère (1990) ist ein Zeugnis dieser Sensibilität.

Eine besondere Position innerhalb des schweizerischen Dokumentarfilms nimmt das Werk von Richard Dindo ein. Von Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg (1973) über Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. (1976) bis zu Dani, Michi, Renato und Max (1987) und Che Guevara – Das bolovianische Tagebuch (1994) hat Richard Dindo für die Darstellung zeitgeschichtlicher Themen eine Ästhetik des Nacherzählens von vergangenen Ereignissen an bestimmten Orten zur Meisterschaft entwickelt. Eine Spielart des Dokumentarfilms, sind diese Filme der Form nach Enqueten, die bei aller Sachlichkeit der Wiedergabe bestimmter Geschehnisse zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten ins Fiktionale, also ins Erzählen, ausgreifen. Das Erzählerische verringert die Authentizität nicht, immer sind die Menschen und die Ereignisse authentisch. In hohem Mass halten gerade diese Filme für den Zuschauer einen Raum des eigenen Beobachtens und des eigenen Ermessens frei.

Erschiessung des landesveraeters

(Bild: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.)

Der einzige Dokumentarist allerdings ist Richard Dindo nicht, der sich dem Fiktionsfilm nähert – die Grenze zu diesem sogar überschreitet. Wie Dindo das in El suizo, un amour en Espagne (1988) getan hat, haben sich Bruno Moll in Das ganze Leben und Hans-Ulrich Schlumpf in Transatlantique, (beide 1982), für die Umformung des Dokumentaren in das Fiktionale entschieden. In Schlumpfs jüngstem Dokumentarfilm, Der Kongress der Pinguine (1993), dem erfolgreichsten Schweizer Film der letzten Jahre, einem Plädoyer für die Umwelt, ist das Element des Spielszenischen wieder zurückgenommen, freilich in einem Monolog literarisch ausgeweitet – ein Wegzeichen vielleicht, dass der grosse, der epische, der komplex in die Probleme der Gegenwart vernetzte Dokumentarfilm noch keineswegs an seinem Ende angelangt ist.

Der alte Film im Schmelztiegel

War, als eine neue Sicht auf das, was Film kann, was er zu sein hat, wie er sich, Neuem erschliessend, neue Formen auch entwickeln sollte, in der Mitte der sechziger Jahre so eruptiv sich öffnete, der «alte» Schweizer Film tatsächlich – wie angekündigt – im Schmelztiegel der Geschichte verschwunden? Gab es nicht, selbst für die einsichtigen unter den Rebellen damals, zwei Filme wenigstens, die vom Bann verschont blieben? Nur richtig und gerecht war es, dass man vom Vorwurf der Sonntäg lichkeit Max Hauflers Farinet ou L'or dans la montagne (1939) und Hans Trommers Romeo und Julia auf dem Dorfe (1941) ausnahm. Weder der eine noch der andere passte ins Bild der Selbstberuhigung, das man zum Muster des Spielfilms während des Zweiten Weltkrieges und danach erkürt zu haben schien. Wären die historischen Kenntnisse so vertieft gewesen, wie sie von den Vigilanten des Neuen Films radikal verlautbart wurden, wäre vor ihren Augen wohl ein dritter Film noch aufgetaucht, Wilder Urlaub (1943). Doch der Blick auf Franz Schnuder, dessen Werk vor allen den Verruf des alten Schweizer Films besiegelte, wurde erst Jahrzehnte später wieder offen – nachdem ihm Christoph Kühn unter dem Titel FS – Das Kino der Nation ein die Kontroversität dieses Kinoautors auslotendes Porträt gewidmet hatte. Wilder Urlaub wagte es, ganz gegen die kollektiv akzeptierte Behauptung, der Grenzdienst habe 1939 bis 1945 das Bewusstsein der Soldaten mit einhelliger Gemeinschaftlichkeit durchdrungen, die Themen der Dienstmüdigkeit und der Frustration durch den Dienstalltag mit seiner hierarchisch festgelegten Verächtlichkeit aufzugreifen.

Das reizte die Hüter der zivil wie militärisch durchgewalkten Volksgemeinschaft ebenso auf, wie sie Trommers tapfere Menschlichkeit als Widerspruch gegen sie empfunden hatten. Romeo und Julia auf dem Dorfe – authentisch wie kein anderer Film vorher und seither, nach einer Erzählung von Gottfried Keller in der alemannischen Landschaft spielend – ist ein Meisterwerk des in der Schweiz nur selten anzutreffenden poetischen Realismus. Der Film fand mit seiner Tragik, dem Freitod der Liebenden, keine Gnade vor dem Optimismus der Zeit, der Sinn und Ziel der geistigen Landesverteidigung missverstehend, ideologisch angeordnet worden war. Hauflers Farinet ou l'or dans la montagne – den Roman «La fausse monnaie» von Charles Ferdinand Ramuz frei adaptierend – war anderseits in keiner Art eine Huldigung an den durch die Alpen geschützten Sozialdarwinismus, der die Stärkeren siegen lässt; vielmehr ein Protest gegen die Repression, ein Appell an den Widerstand gegen Normen, die die Individualität zerstören, ein hohes Lied auf den «hemme revolte» gegen die im schroffen Felsgestein der Schweizer Berge eingemauerte Gesellschaft eines sozial ungerechten, menschlich trägen Landes.

Die vertrackte Kleinbürgerlichkeit

Nun gibt es aus der Hand von Kurt Früh, der – um Jahre zwar jünger als die in den dreissiger Jahren angetretene Generation – von den damals so genannten Jungfilmern dem älteren Schweizer Film zugewiesen wurde, einen Film, der wie keiner in seiner Funktion der Vermittlung zwischen den Generationen, ihren Themen und gesellschaftspolitischen Perspektiven bedeutsam ist. Der Fall (1972) ortete einen anderen Schauplatz als die früheren Filme Kurt Frühs mit ihren Milieus der Altstadt oder Randständigkeit – das Aussenquartier Oerlikon erschien ihm für einmal als der augenfälligste Schauplatz, mit dem sich die wuchernde Urbanität der Grossstadt Zürich dingfest machen liess. Und die Geschichte des Privatdetektivs Grendelmeier, der sich in ein Luder vergafft, war eine Geschichte anderer Art als bisher. Obwohl die Geschichten seiner früheren Filme aus dem kleinbürgerlichen Milieu (Bäckerei Zürrer,1957) oder aus dem Milieu der Clochards, in dem die Kleinbürgerlichkeit sich antipodisch spiegeln konnte (Hinter den sieben Gleisen, 1959), sich kaum je mit dem Selbstverständnis dieses Kleinbürgers identifizieren.

Der fall 003

(Bild: Der Fall)

Kurt Früh ging es vielmehr darum, das Kleinbürgertum, in dessen Milieu der städtische Schweizer sich heimatlich geborgen fühlt, kritisch zu reflektieren, und zwar besonders dort auch, wo, im Masse der sozialen Veränderung, nun auch der einst proletarische Arbeiter diese Kleinbürgerwelt bewohnt. Selbstgerechtigkeit und Mief der Kleinbürgerlichkeit, ihre Verachtung für den Menschen, der anders ist, für den Fremden, und ihre auch tödlich wirkende Bösartigkeit hat Früh schliesslich in Dällebach Kari (1970) denunziert.

Kurt Früh war zwischen den Generationen also ein Vermittler, dadurch, dass er – in Filmkursen – die Kenntnisse des Handwerks an Jüngere weitergab; dadurch vor allem aber, dass er, ohne aus der Kontinuität seiner Themen und seiner sozialmoralischen Engagiertheit wegzutreten und sich anzupassen, Teilhaber an den Anstrengungen der Jüngeren wurde, mit ihnen den Boden eines unabhängigen, die Vormachtstellung eines traditionellen Produzenten ausschliessenden, einzig von den Autoren selbst bestimmten Filmmachens befestigte. An seinen beiden letzten Filmen, Dällebach Kari und Der Fall, ist abzulesen, dass und wie Kurt Früh auf diesem mühsamen Weg jene innere und künstlerische Befreiung erlebte, um die er lange Zeit hindurch in immer neuen Anläufen gekämpft hatte.

Kleinbürger im Bann der Utopie

Umgekehrt bewies Kurt Früh – in dem Masse, in welchem er sich von den Klischees einer vermeintlich publikumsgefälligen dramaturgischen Tradition loslöste – den seiner Generation nun nachdrängenden jungen Filmern, dass es künstlerisch durchaus fruchtbar sein konnte, das Milieu des Kleinbürgers in seiner Widersprüchlichkeit von Biederkeit und Unduldsamkeit, von Arbeitssinn und Phantasielosigkeit, aber auch in seiner oft fast an Abgründigkeit heranreichenden Vertracktheit darzustellen. So anders, nämlich aus der Perspektive der utopischen Aufrnüpfigkeit den in den kleinbürgerlichen Verhaltensweisen festgeschriebenen Normenzwang beschimpfend, wenige Jahre später Kurt Gloors Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner (1976) ausgefallen ist, es besitzt dieser Film seinen Zusammenhang mit dem späten Werk Kurt Frühs durchaus. Auch wenn natürlich das Thema des Wegtretens aus dem Gewohnten, dem Lästigen, dem Zwingenden, des Aufbrechens ins Irgendwohin, sei's auf Fahrten in die Feme, sei's auf Fahrten im eigenen Kopf, ein Thema ist, das im Schweizer Film neu ist.

Auch der stille Held von Yves Yersins Meisterwerk Les petites fugues (1979), der alte Knecht Pipe, der sich selber entdeckt und dabei entdeckt, wie sehr er durch seine Lebensfron auf dem Bauernhof um seinen Sinn gebracht worden ist, ist einer, der aus dem Zwang ausbricht – auf dem Sattel eines Velocipeds, auf einem Helikopterflug um das Matterhorn, mit dem Vertrauen in seine eigenen Augen, die er mit Hilfe eines Fotoapparates in der Freiheit übt, seine engste Umgebung, ihre Beschwernis nicht alleine, ihre Schönheit auch wahrzunehmen. Ausbrüche nicht einzig von alten Männern allerdings, auch von Jungen, und von diesen immer aufs neue, und das vor allem in den Filmen der Romands, die – was den Spielfilm betrifft – die ersten waren, die den Ruf eines neuen Schweizer Films begründeten. Das Werk Alain Tanners, und keineswegs einzig sein frühes, das Werk von Claude Goretta, aber auch das Werk des um Jahre jüngeren Michel Soutter, lebt von der thematischen Wiederkehr des Weggehens, des Aussteigens, des Rückzugs.

Pioniere in der Westschweiz

Sieht man ab von den allgemeinen Verhältnissen einer politischen und gesellschaftlichen Stabilität, die, statt dass die Phantasie die Beengnis hätte aufsprengen können, dem Land gesamthaft verordnet wurde, ist in der Romandie die Ausgangslage, die zu einer Erneuerung des Films inspirierte, eine andere als in der deutschen Schweiz. Zwar wandten sich die Insurgenten auch im Welschland gegen eine Beschönigung der helvetischen Wirklichkeit, doch diese trafen sie nicht ausschliesslich in den Filmen aus der alemannischen Sprachregion an, auch im eigenen Landesteil war sie gepflegt worden.

L'oasis dans la tourmente (1941) von Arthur Porchert ist eine Huldigung an das Rote Kreuz, nimmt in melodramatischer Spielart sogar den Stoff vorweg, aus dem dann Filme wie Marie-Louise (1944) und Die letzte Chance, beide von Lindsberg, beschaffen sind. Die Geschichte einer Frau, die, als Schauspielerin berühmt, aus dem calvinistischen Milieu Genfs, wo sie zwar Zuflucht gefunden hat, in den Tod geht und deren vermeintlich letzter Lebensspur in drei Episoden gefolgt wird, ist Jacques Feyders Beitrag zum welschen Film während seiner Emigration: Une femme disparaît (1942) ist eine nicht mehr ganz konzise Arbeit des alternden Meisters, holte den Charakter eines Vorbildes nicht mehr ein, das des gleichen Autors zur Stummfilmzeit im Wallis gedrehter Spielfilm Visages d'entfants (1923) erlangt hatte. Das ist ein Werk, das harmonisch und ebenmässig die Geschichte eines Mannes erzählt, der, als er nach dem Tod seiner Frau eine zweite Ehe schliessen will, seinen kleinen Sohn zu Eifersucht und Widerspenstigkeit aufscheucht; ein Drama in den Bergen ohne die melodramatische Pathetik des Genres.

La salamandre

(Bild: La salamandre)

Dass es in der Romandie eine Filmproduktion von Kontinuität nicht gab, hat seinen Grund vor allem aber darin, dass eine Infrastruktur fehlte, die von ferne auch nur mit der in Zürich aufgebauten vergleichbar gewesen wäre. Das wiederum hatte eine Ursache darin, dass die französischsprachige Schweiz, anders als die alemannische, die sich vom deutschsprachigen Kulturraum abzuheben anstrengte, nachdem seit 1933 sich Hitlers schwerer Schatten auf ihn gelegt hatte, eine gleichartige Abgrenzung gegenüber Frankreich sich nicht zumuten musste. Eine ausreichende Infrastruktur entwickelte sich in Genf mit der Einrichtung und dem Aufkommen des Fernsehens. Dass die Television de Ja Suisse Romande damals den Entscheid fällte, Filme nicht ausschliesslich für den Bildschirm, sondern gleichzeitig für das Kino herzustellen und dabei dem Kino die Priorität der Aufführung zuzugestehen, ist eine Pioniertat, die, was die Entfaltung des westschweizerischen Spielfilms (insbesondere) betrifft, noch heute nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Tradition des Anarchismus

In der «Graupe des cinq», wie sich der Kreis jener nannte, die einen neuen Beginn im Kino sich vorgenommen hatten – Alain Tanner, Claude Goretta, Jean-Louis Roy, Jean-Jacques Lagrange und Michel Soutter –, setzten sich als erste Goretta und Tanner mit Filmen durch, denen es auch keinerlei Schwierigkeiten bereitete, über die Sprachgrenze hinaus – die in früherer Zeit kaum je zu überwinden möglich war–, ja sogar vor allem in der deutschen Schweiz wahrgenommen zu werden. Mit Charles mort ou vif (1969) von Tanner und Le fou (1970) von Claude Goretta – der Geschichte des Unternehmers, der aussteigt, und die Geschichte des Arbeiters, der, weil die Arbeit ihn krank gemacht hat, Rache nimmt – findet, bei aller Zeitgeistigkeit der Stoffe, eine Rückkehr statt in eine im welschen Film seither kaum mehr sichtbar gewordene Tradition des Anarchismus.

Von Jean Choux, auch er ein Genfer und damit ein Gefangener der die Gesellschaft prägenden calvinistischen Rechtschaffenheiten, stammt der Film La vocation d' André Carel (1924/25). Der ist insofern zwar ein gesellschaftspolitisches Lehrstück, als er den Helden, den Sohn des reichen Akademikers, Andre eben, auf den Weg der Erkenntnis weist, dass Arbeit ein Verdienst, dass das einfache arbeitende Volk es ist, das einer Gesellschaft zur Würde verhilft. Indem er so seinen Helden die Würde der Arbeit entdecken lässt, verbeugt sich Jean Choux zwar durchaus vor den Tugenden, die den Calvinisten wert sind, zugleich aber denunziert er, etwas populistisch, die soziale Unverbindlichkeit der höheren Klasse.

Zu messen indessen ist all das zuletzt an einer Figur, an Doret, dem Erzieher Andres. Der ist gewiss ein Gemütsmensch und ein Tolpatsch, lässig und generös seinem Zögling gegenüber, dieses jedoch nicht aus pädagogischer Verantwortung heraus, sondern um in Freiheit ausleben zu können, was er eigentlich ist: ein Lüstling und Trunkenbold. Langhaarig, einen Strohhut auf dem Kopf, in die hellen Hosen eines gierigen Herzensbrechers gekleidet, ist dieser Doret in seinem Habitus eine anarchische Spielfigur, die so harmlos eines Tages vielleicht nicht mehr sein wird. Noch setzt sich gegen die calvinistische Rechtschaffenheit, gegen das mit dieser dem Leben auferlegte LästigZwingende, der Humor.

Alain Tanners Widersetzlichkeit

Grosse Künstler haben stets das gleiche Thema, das sie in immer anderen Spielarten darstellen: In den Filmen von Tanner sind es die Männer, die Frauen, die aus dem Gewohnten, das in die Verkümmerung treibt, ausbrechen, die Rebellen allesamt und immer. Der Unternehmer, der in Charles mort ou vif aus der geregelten Arbeit aussteigt, die junge Frau, die sich in La salamandre (1971) von vorneherein der Eingliederung ins Leistungsgebot entzieht, das Ehepaar, das in Le retour d' Afrique (1972/73) seine Abreise ankündigt, indessen in seiner Wohnung sich einschliesst, denn auch so lässt sich der Trotz gegen die Integrierung leben – diese frühen Filme haben in den späteren und nun altersreifen Filmen des Genfers ihre Nachfahren: von Dans la ville blanche (1983) über No Man's Land (1985) bis zu La vallée fantôme (1987) und Une flamme dans mon coeur 1987); von Le milieu du monde (1974) über Messidor (1979) bis zu L'homme qui a perdu son ombre (1991). Der Eigensinn der Schweiz, eine Idylle sein zu wollen, die zu sein die Herrschenden freilich nur vorgeben, reizt dazu, tabula rasa zu machen, weniger aus wildem Entschluss, der dann zwar hinzustösst, als weil der Zufall es so arrangiert. Oder die Einsicht nahe legt, dass die Kräfte der Beharrung sich nicht aufbrechen lassen, die Abkehr von der Heimat, die man dennoch empfindet, also wagen muss; von einer Heimat, die man freilich nirgends wirklich anfassen kann. Und dann doch die Heimkehr des Ausreissers, zunächst freilich nur halben Wegs; anarchisch die Freiheit zu leben ist jedenfalls der stärkere Wunsch als die Versöhnung. Und dann doch die Utopie der Familie, die für das tägliche Leben einzig taugliche Gemeinschaft, so in Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000 (1976). Sie wird der Ort sein, von dem ein Mann den Kampf aufnehmen kann gegen die verwaltete Welt; der Ort, an dem sich die Sicht auftut auf die «neuen Städte», Städte frei von aller regelstarr verwalteten Ordnung. Von diesen Städten hat schon Charles De, der Protagonist von Charles mort ou vif, geträumt.

Signé Michel Soutter

Auch Michel Soutter – zu früh (1991) im Alter von fünfzig Jahren gestorben – wollte mit seinen Zähnen den Mond vom Himmel beissen (La lune avec les dents, 1966). Mit seinen Filmen – von James ou pas (1970) zu Les arpenteurs (1972), von L'escapade (1973) zu Repérages (1974), L'amour des femmes (1976) und Singé Renart (1986) – vertrat Soutter eine Ästhetik des Widerparts zum Kino und der darstellenden Kunst überhaupt. Die diskursive Erzählform des Films und des Romans (natürlich) verwerfend, war er ein Liebhaber der Poesie, ein Widerspenstiger gegen die Prosa, die sich – nach Pier Paolo Pasolini – mit der psychologischen Diskursivität– für Menschen und Situationen begnügt.

Les arpenteurs

(Bild: Les arpenteurs)

Wer in der Kunst, also auch im Film, Psychologie betreibt, so sagte Soutter, gibt vor, er sei imstande, eine Person, ihre Verhaltensweisen und ihre Empfindungen, ihre Veränderungen und gar ihre Geheimnisse mit einleuchtender Präzision beschreiben zu können. Wird nicht umgekehrt, fragte Soutter und versuchte, mit jedem seiner Filme darauf eine Antwort zu geben, eine Person, je besser man sie kennt, desto geheimnisvoller, desto rätselhafter? Menschen sind, als künstlerische Figuren insbesonders, von Interesse nur dann, wenn sie nicht nach sozialen Kriterien, nicht nach psychologisch erklärbaren Verhaltensweisen funktionieren. Interessant sind sie dann, wenn sie ausschliesslich sie selber sind, jederzeit und vollständig offen, bereit, die Erfindung ihrer selbst fortwährend einzugestehen, ihre Kreativität des eigenen Imaginierens vor aller Augen zu bekennen.

Dieser künstlerische Entwurf der Menschendarstellung ist der poetische. Poesie ist mehr als Anreiz zur Stimmungsmalerei oder zur Neigung, Schönheit, Wohlklang und Gefühl lyrisch ausschwingen zu lassen. Poesie ist der Weg, auf dem der Künstler der Wirklichkeit nahekommen kann, weil er diese Wirklichkeit unterwandert, sie aus der Selbsterklärung, dass sie genauen Mechanismen folge, loszulösen versucht. Poesie ist alles andere als Flucht vor der Wirklichkeit, sie ist vielmehr deren Subversion, vor allem dann und dort, wo sie sich in ihren ormen, sei's moralischen, sei's politischen, als tatsächlich benennund darum beschreibbar vorkommt. Poesie ist der einzige Zugang zu Körper und Herz der Menschen – Soutter zeigt nie fertige Personen, fixiert sie keinen Augenblick in ihrem Alltagsleben, macht sie sogar sichtbar in oft marginalen Aspekten, nutzt diese scheinbare Marginalität zur Darstellung des Spielerischen ihrer Existenz. Zwar hat Soutter in keinem seiner Filme explizit die Schweiz erklären wollen, doch die Art, wie er deren Selbstverständnis unterwandert, ist einzigartig, nicht nur im Kino. Ist einzigartig unter den schweizerischen Verhältnissen, unter den calvinistischen insbesondere Genfs, wo seine Filme fast alle angesiedelt sind oder von wo sie doch ausgehen. Das wäre etwas Unerhörtes, nähme man nicht wahr, in welch bestimmender Tradition dieses Werk ebendoch steht – in der Tradition des «examen de conscience», wie Rousseau es, ins Gesellschaftliche wie ins Incl ividuelle ausgreifend, literarisch vorgelebt hat. Diese Neigung, mit jedem Film ein «journa l intime» zu schreiben, verband Souiter denn auch in Freundschaft mit Tanner. Denn dessen Poesie ist ihrerseits stets Element der dialektischen Methode, der Methode der lustvollen Pflicht des Prüfens und Wägens, der Methode des didaktischen Aufzeigens, die, von der Wirklichkeit abrückend, diese mit den Mitteln der Verfremdung wieder einholt – mit der zielgenau komponierten Einrichtung der kinematographischen Bilder.

Schauplätze abseits der Schweiz

Einzelgänger so ausgeprägter künstlerischer Natur sind auch auf der Szene des alemannischen Films auszumachen. Eine solche Einzelerscheinung ist ohne jeden Zweifel Daniel Schmid. Welches immer die Geschichte seiner Filme – der Spielfilme wie Heute Nacht oder nie (1972), La paloma (1974), Violanta (1977), Hécate (1982), Jenatsch (1987) und Zwischensaison (1992) und der Dokumentarfilme wie Il bacio di Tosca – sein mögen, es sind Geschichten für Filme, die ihren Zusammenhalt in der Stimmung gewinnen, in einer Stimmung der verbotenen Leidenschaften. Der leidenschaftlichen Sehnsucht nach Erfüllung in der Liebe, die doch immer auch als eine Wahnidee, zerstörerisch und tödlich, erfahren wird. Es sind Filme, in denen Gefühle, Leidenschaften, Begegnungen ritualisiert werden. Aus den Sehnsüchten, die sie zelebrieren, bricht ein Lebensgefühl zwar des konstitutionellen Pessimismus hervor. Und doch weichen Schmids Helden, Frauen wie Männer, diesem Lebensgefühl nicht aus; ist es doch Ausdruck des verzehrenden Rausches, in dem sich das einsame Ich erleben kann – erhaben, erhoben, geschlagen und vernichtet. So erfährt die Stärke, die Kraft des Leuchtens, ein jeder Mann, eine jede Frau.

Daniel Schmids Filme haben, in der Regel, schweizerische Milieus zum Schauplatz: in Heute Nacht oder nie ein Hotel im Luxuskurort, in La paloma die Panoramasicht von der Rigi, in Violanta – einer Adaption von Carl Ferdinand Meyers «Die Richterin» – das Bergell. Und doch sind sie, ihrem Gehalt nach, nicht Filme, in denen es eine Rolle spielt, ob ihr Milieu historisch oder aktuell schweizerisch ist. Eine Rolle dieses Zuschnitts wäre höchstens, dass zum unablässigen Ernst des Landes phantastische Spiellust gesetzt werden könnte. Lange bevor Alain Tanner das Losungswort ausgegeben hat, die Schweiz sei für ihn kein Thema mehr, hatte Schmid im Grunde die Schweiz ausgetauscht. Zwar ist für Schmid die schweizerische Landschaft filmisch keineswegs verbraucht, doch den fremden Ort – so in Hécate Marokko, so in Schatten der Engel (1977) Wien – hat er früh aufgesucht.

Man kann in diesem Zusammenhang das Dokumentarfilmschaffen auch erwähnen, wo seit den späteren achtziger Jahren die Macher ihre Aufmerksamkeit fernen, fremden Ländern, fremden Ethnien, fremden Kulturen zuwenden und die Methode der Ermunterung zur Kommunikation in eine Situation übertragen, die ihnen nicht vertraut ist, schwieriger also zu bestehen. Clemens Klopfenstein hat mit den poetischen Essays Geschichte der Nacht (1979) und Transes (1982) einen Anfang gemacht. Zur nämlichen Zeit wird die Absage an die Schweiz erkennbar auch im Spielfilm ganz deutlich. Diese Abreise thematisiert hatte als erster Tanner – in Le retour d' Afrique –, und konsequent war es dann für ihn, dass er in Dans la ville blanche etwa und in La vallée fantôme und in anderen Filmen (nicht zu vergessen in Les années Lumière 1981) mit dem Weggehen vom Schauplatz Schweiz wirklich ernst machte.

Doch nicht ausschliesslich als Wechsel des Schauplatzes wird man die Absage an die Schweiz verstehen dürfen. Vorab ist diese thematische Veränderung im Spielfilm als ein Paradigmawechsel beim Erzählen auszumachen. Wiewohl es umgekehrt unzutreffend wäre, überhaupt das Verschwinden der jeweils gegenwärtigen Probleme von Politik und Gesellschaft aus diesen Erzählungen zu konstatieren. Gegen eine solche Behauptung stehen jedenfalls Rolf Lyssys Scheizermacher (1977), wo die hässliche Praxis der Einbürgerung von Ausländern komödiantisch dramatisiert wird – als Komödie durchaus ein Einzelfall, im Kino allerdings auch der erfolgreichste. Mit Der Gemeindepräsident (1983) charakterisierte Bernhard Giger einen Mann, der im politischen Amt stolpert, mit Der Pendler (1988) beschrieb er Situa tionen der Drogenszene, mit Schatten des Zweifels (1992) – den Mordfall Zwahlen paraphrasierend – unterzog er Mechanismen der Justiz kritischem Zweifel. Während Kurt Gloor in Mann ohne Gedächtnis (1983) einerseits die Funktionsweisen der psychiatrischen Kliniken freilegte, entwarf er auf der anderen Seite das Porträt eines Mannes, der aus der Gesellschaft und ihrer Technikgläubigkeit ausgestiegen ist.

La paloma2

(Bild: La paloma)

Im gleichen Jahr 1983 erschien Heinz Bütlers Melzer, die Geschichte eines Mannes, der sich, der Leistungswelt überdrüssig, selber in die psychiatrische Anstalt einliefert. Das Thema solchen Überdrusses ist eines der Themen, die, wenn sie auch in einem lokal schweizerischen Umfeld angesiedelt sind, von so allgemeiner Gültigkeit sind, dass für sie jederzeit der Schauplatz ausgetauscht werden kann. Die Vereinzelung, die Einsamkeit, die Verzweiflung über den Verlust der Zugehörigkeit hat Beat Kuert in SCHILTE (1979), die Aufbegehr im Konflikt der Generationen in Nestbruch (1980) beschrieben. Die Angst vor dem Übertritt ins Erwachsenensein hat Christoph Schaub in Dreissig Jahre (1990), die Entdeckung der Väterlichkeit Felix Tissi in Till (1988) dargestellt. Bezeichnend für die Austauschbarkeit ist, dass Markus Imbodens Ausgerechnet Zoé (1994), die Geschichte einer Aids-infizierten jungen Frau, in Hamburg spielt.

Rückkehr in die Berge

Mitte der achtziger Jahre überraschten Claude Goretta und Francis Reusser mit je einem Film aus der Welt der Berge, den schweizerischen Alpen, der eine wie der andere nach einem Roman von Charles Ferdinand Ramuz gedreht, Si le soleil ne revenait pas (1984) und Derborence (1985). Es ist ein weiter und oft verwinkelter Weg, den Goretta seit Le fou gegangen ist, als er noch Weggefährte Tanners war. Sein Abschied von der Ideologisierung der Politik, seit 1968 betrieben, hatte sich allerdings schon bald abgezeichnet. La Dentellière(1977), die Geschichte einer unglücklichen Spitzenmacherin, setzte deutlich ein Merkzeichen. La mort de Mario Ricci (1983), die Geschichte eines Journalisten, der in einem jurassischen Dorf zum Katalysator des Geschehens wird, ist das Psychogramm – gleichgültig, wo das Dorf liegt – einer Gemeinschaft, die sich im Schweigen eingenistet hat; über Mario Riccis, des italienischen Arbeiters, Tod – Unfall, Mord? – redet niemand.

La mort de Mario Ricci liefert das Bild einer Stagnation, der Lethargie einer – stellvertretend für die westliche Menschheit stehenden – Dorfgemeinschaft, die nicht mehr aktiv handeln kann, die nur noch reagiert, mit Hass, aber auch mit Hinwendung. Zwar ist eine sozialpsychologische Dimension dieses pessimistischen Verzweifelns durchaus auch als schweizerisch zu benennen, wäre dieser Weltschmerz nicht überall anzutreffen, wäre er nicht subjektiv auch der Lebensschmerz von Goretta selbst. So war es denn nur konsequent, dass dieser mit Ramuz' Roman explizit das Katastrophengefühl unserer zeitgenössischen Umweltangst dramatisiert hat – ein Film der Endzeitstimmung.

Für Reusser war, als er sich für den Stoff von Derborence entschied, wohl ein anderer Antrieb lebendig. Zwar handelt auch dieser Stoff von einer – dieses Mal nicht nur angstvoll vermuteten, sondern wirklichen – Katastrophe im Gebirge, von einem Fels- und Gletscherbruch. Kann die Geschichte – von Reusser im Stil einer Grossen Oper aufbereitet, was Distanz spürbar macht – für diesen Künstler, der bisher in seinen Filmen mit seiner schwierigen Innerlichkeit zu Rande zu kommen trachtete, nicht objektiv als ein Standort der Selbstberuhigung gewählt worden sein? Insofern wäre Derborence, so fremd der Film in der filmischen Szene dieses Waadtländers steht, eine logische Konsequenz auch seiner Biographie. Hatte Reusser in Vive la mort (1968) nicht dazu aufgerufen, die Väter, auch die Mütter totzuschlagen? Hatte er, schon damals für eine Überraschung gut, in Le grand soir (1976) nicht zum einen den Vitalismus des Anarchisten gefeiert, zum anderen von den Genossen ein Gruppenbild der Betörung durch die Gewalt gezeichnet? Seuls (1981) ist dann ein Drama der Innerlichkeit, einer Innerlichkeit in Aufruhr, Selbstzweifel und Verwirrung. Der Held setzt sich auf die Spur seiner eigenen Biographie, deren Entdeckung zugleich der Zuschauer unter vielschichtigen visuellen Verschlüsselungen wahrzunehmen aufgefordert ist.

Der magische Ruf

Rückkehr in die Berge – das gewiss, doch ohne eine Rückkehr zum alten Schweizer Film. Es ist die vertraute Gebirgswelt, doch auf ihren Gipfeln gibt es die Mentalität der naturburschenhaften Hemdsärmeligkeit nicht mehr; nicht mehr die Selbstbeweihräucherung des Alpinisten, des virilen Mannes; nicht mehr die Mythisierung von Gipfeln und Gletschern als der Orte der Unbeflecktheit, der Orte, wo schicksalshaft Läuterung Drama ist. Dass dieser Geist wiedergekehrt sei in Filmen wie Das gefrorene Herz (1979) und Der schwarze Tanner (1983) von Xavier Koller, ist freilich Unterstellung. Die Vorlagen alleine schon, Erzählungen des politisch widerborstigen und keineswegs heima tseligen Schriftstellers Meinrad Ing/in, sicherten gegen ein erneutes Versinken in die mythisierenden Schablonen ab. Und als Bergdrama ist Markus lmhoofs Der Berg (1991) eine Parabel von elementarer Kraft.

Gewiss, es wird die Existenz der Bergbevölkerung nicht kritisch hinterfragt, wie das Fredi M. Murer in Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind getan hat. Aber es werden Geschichten erzählt, die einzig eben auf dem Hintergrund einer konkreten Landschaft, der schweizerischen Berglandschaft, erzählt werden können. Gerade Murers Höhenfeuer (1985), ein schöner, weil tiefgründiger, ein erschütternder, weil erschreckender Film – die Geschichte einer Liebe unter Geschwistern, einem taubstummen Buben und seiner älteren Schwester – ist aus dieser konkreten Bindung nicht zu lösen. Auch wenn Murer, der hier ein Meisterwerk in der Tat geschaffen hat, erklärt, die Geschichte könne überall in der Welt, in Island oder in Japan, spielen.

Die Landschaft von Höhenfeuer ist die Bergwelt der Innerschweiz, auch sie eben eine autochthone, ein archaische Landschaft noch. Eine Landschaft, die ihre Menschen in magische Lebensgefühle einbindet, in welcher die Wahrheiten der Sagen und der Märchen noch lebendig sind. Höhenfeuer beschwört, und das ist unablösbar von der Tragik der erzählten Geschichte, das Unheimliche und Unnennbare, das «Es», wie es in diesen Sagen aufgezeichnet ist; und das zerstörerisch noch immer ist, auch in unsere moderne Welt mit Schrecken eindringt. Erst diese Bindung menschlichen Daseins an eine metaphysische Wirklichkeit macht Murers Vision der Innigkeit von Liebe und Tod so stark. Es verwandelt sich die Beobachtung einer Kultur, aus deren altem, überliefertem, unbewussten Besitz diese Menschen handeln, ohne jede symbolistische Verkrampfung in ein organisches Bild des Lebens. Eines Lebens, einer Liebe, die sich so, ohne dass der Tabubruch als Makel verfemt würde, so und nicht anders hier und überall in der Welt, wo das Dasein in Formen noch geprägt ist, zutragen könnte.

(Titelbild: Das Boot ist voll; letztes Bild: Höhenfeuer)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1995 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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