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Pio corradi dreh glut

«Du kannst nicht fünf Stunden ununterbrochen gute Bilder liefern»

«Der Kameramann muss mit den Schauspielern sicher irgendwie in Kontakt kommen. Das ist aber auch das Verhältnis, über das nicht viel geredet wird. Der Kameramann macht ja nicht Regie, greift nicht ins Spiel der Darsteller ein und sagt: «Du musst jetzt …» Sondern er versucht, ihm kleine Hinweise zu geben, ohne dass der Regisseur ärgerlich wird, aber das sind eigentlich die Hinweise, die Schauspieler am meisten beachten – diese kleinen Details.»

Text: Walt R. Vian / 01. Dez. 2002

FILMBULLETIN Laut Filmographie war Volksmund von Markus Imhoof dein erster Film als Kameramann.

PIO CORRADI Es war mein erster Film als freischaffender Kameramann. Vorher habe ich bei einigen Produktionen mitgewirkt, aber immer im Urlaub, da ich noch halbwegs eine Anstellung hatte. 1972 war aber der Moment zum Abspringen gekommen.

FILMBULLETIN Das war noch «Cinéma copain» – alle haben irgendwie alles ein bisschen gemacht.

PIO CORRADI Die damaligen Equipen waren sowieso immer sehr klein, drei Leute, manchmal vier. Bei Volksmund hatten wir einfach ein Auto, das Markus gekauft hatte. Da war unser ganzes Material drin, als wir nach Deutschland fuhren. Im Auto gab es ein Portemonnaie, unsere Produktionskasse. Da nahm jeder was raus, wenn er etwas essen oder trinken wollte. Das war so die Art.

FILMBULLETIN Und wie kamst du dazu? Weil du die beteiligten Leute, den Markus gekannt hast?

PIO CORRADI Die Pro Helvetia liess 1970 durch die «Ciné Groupe» unabhängige Filmschaffende die Serie 13 x 13 produzieren. Dreizehn Portraits über bekannte Schweizer Künstler – je fünfundzwanzig Minuten lang. Markus Imhoof machte vier oder fünf, Wilfried Bolliger zwei. Da habe ich all die Leute kennengelernt. Das waren eigentlich ganz wenige, die Filmschaffenden bildeten einen relativ ganz engen Kreis. Es waren sehr persönliche, fast familiäre Verhältnisse.

Mit Markus habe ich ein Portrait gemacht (als Kamera ausgewiesen ist Hans Liechti). Eines über Otto Tschumi, dem Surrealisten aus Bern. Dann wurde das Volksmund-Projekt aktuell, und Markus fragte mich, ob ich mitmache.

FILMBULLETIN Du hast Fotograf gelernt. Wusstest du bereits, dass du Filme machen willst?

PIO CORRADI Der Wunsch, Filme zu machen, entstand bereits, als ich fünfzehn war. Weil ich eine Brustfellentzündung hatte, kam ich in ein Internat, wo Lehrer Feusi uns immer am Freitagnachmittag Filme gezeigt und erzählt hat, wie sie entstehen. Feusi hat uns praktisch eine Einführung in die Dramaturgie – weil nachher jenes kommt, muss der jetzt eben das machen – und die Découpage von Filmen gegeben. Als ich da wegkam, wusste ich, dass ich einmal Filme machen wollte, hatte aber noch keine Ahnung, wie ich das anstellen muss.

Als ich bereits an der Kunstgewerbeschule war, hörte ich am Radio ein Interview mit Kurt Früh, der auf die Frage, welches denn der beste Weg zum Film, zur Filmregie sei, antwortete: dieser Weg führe über die Fotografie und die Kamera, weil die Bildsprache das Tor zum Film sei. Da habe ich noch eine Fotografenlehre gemacht. Das Bild hat mich eigentlich immer interessiert, die Bildsprache war immer im Zentrum – und weniger die Absicht, eigene Filme zu machen. Ich wollte nicht Filmer, Autor werden. Immer war mein Wunsch Kameramann zu werden.

FILMBULLETIN Wie wählst du Projekte aus? Heute hast du ja die Wahl.

PIO CORRADI Wenn ich auf die letzten dreissig Jahre zurückblicke, waren das Volumen, die Kontinuität und die Auswahl damals nicht so gross wie heute.

Die zweiten Solothurner Filmtage 1967 – da war ich zum ersten Mal dabei – begannen am Samstag und waren am Sonntag um vierzehn Uhr zu Ende, obwohl auch noch Werbefilme gezeigt wurden, etwa von der Swissair, die Fritz Maeder gemacht hat. Damals lag der Output des freien Schweizer Filmschaffens pro Jahr noch bei sechs bis acht Stunden Film. Heute kenn ich höchstens noch einen Drittel der Namen, die im Programm stehen.

Damals lief die Auswahl von Projekten über Leute. Niemand hat mich schriftlich oder telefonisch angefragt. Die Publizität gab es nicht. Man kam nur durch Empfehlungen, Mund-zu-Mund-Propaganda zu Projekten, kam vom einen zum anderen – von Imhoof kam ich zu Schlumpf. Man bewegte sich in einem Kreis von Leuten, der in einer bestimmten Art, die mich auch interessierte, Filme gemacht hat.

Einen anderen Strang hatte ich mit einem Filmemacher, der an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, damals bei Alexander Kluge, studierte. Weil Alfred Jungraithmayr einen Freund hatte, den ich einmal bei einer Arbeit kennengelernt hatte, habe ich mit ihm inzwischen etwa zehn Filme gemacht.

So sind eigentlich die Verbindungen.

FILMBULLETIN Zu welchem Zeitpunkt steigst du in ein Projekt ein?

PIO CORRADI Das ist ganz verschieden und sehr vom Realisator abhängig, aber ich mache wenig Filme, wo mir ein Buch unterbreitet, eine Woche später eine Zusage erwartet und zwei Monate später gedreht wird. Das Geschäft ist, gerade in Deutschland – wohin ich einige Verbindungen habe – derart kurzfristig geworden. Die Finanzierung, die Finanzierbarkeit ist derart unsicher, dass keine Leute vorengagiert und im Voraus interessiert werden. Wenn das Geld aber einmal da ist, wird sehr schnell produziert und oft innerhalb von drei Monaten mit den Dreharbeiten begonnen. Das ist eine wahnsinnig kurze Vorbereitungszeit, die ich bei einem Spielfilm für unverantwortlich halte, und bei einem Dokumentarfilm, wo man in eine bestimmte Thematik eindringt, eigentlich auch.

Mit Leuten in der Schweiz arbeite ich teilweise bereits ein Jahr vorher zusammen – natürlich nicht jeden Tag. Aber ich weiss vom Thema, man sieht sich ab und zu und bespricht sich – auch in einem relativ persönlichen Rahmen. So wird ein Film langsam, auch im Kopf, vorbereitet, und man weiss, wo es hinzugehen hat.

Dreh volksmund lichtmessen

(Bild: Corradi misst Licht bei Volksmund oder man ist, was man isst)

FILMBULLETIN Fredi Murer macht Zeichnungen, und ihr sucht gemeinsam die Drehorte?

PIO CORRADI Seine Zeichnungen sind keine Storyboards im eigentlichen Sinn des Wortes. So präzise Skizzen entwirft er nicht. Meist macht Fredi eine Zeichnung für eine Szene, die aus sechs oder zehn Bildern besteht. Die Skizze vermittelt aber einen Eindruck davon, was die Szene für eine Aura hat. Visuell kann man oft schneller einen gemeinsamen Nenner finden. Statt etwas lange zu diskutieren, macht Fredi lieber eine Zeichnung, und ich begreife sehr schnell, in welche Richtung seine Vorstellung geht.

FILMBULLETIN Wer bestimmt den optischen Stil eines Films?

PIO CORRADI Heute wird anders gedreht als noch zu Zeiten von Höhenfeuer (1985). Videoausspiegelung auf Monitor kannte man nicht. Man hatte eine Kamera, und derjenige, der die Kamera bediente, sah durch. Das Vertrauen zum Kameramann entstand beim Sichten der Rushes. Täglich sah man sich die neuen Streifen an, im Saal einer Beiz oder eines Hotels, wenn es ging auch in einem Kino in der Nähe. Selbstverständlich gab es nach der Projektion auch zu diskutieren, gab es Fragen vom Kameramann: Willst du das so oder eher so, drin oder nicht drin? Heute wird bei Spielfilmen meist ein Monitor aufgestellt, die Regie und fünf andere Leute schauen rein, alles wird beobachtet, korrigiert, der Kameramann wird zum ausführenden Roboter, zum Schwenker eigentlich – «Willst du nicht etwas schneller da rüber?» Fragen, die sich, jedenfalls für mich, eher negativ auswirken.

Deshalb mache ich auch sehr gerne Dokumentarfilme. Da schaut mir überhaupt niemand durch die Kamera, und ich kann optisch, visuell machen, was ich will.

FILMBULLETIN Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen Dokumentar- und Spielfilm?

PIO CORRADI Beim Dokumentarfilm lernt man immer auch einen Teil dieser Welt näher kennen. Ein Spielfilm ist immer eine konstruierte Geschichte.

Mit Dokumentarfilmen sind oft eindrückliche Erlebnisse verbunden in einem Winkel der Welt, wo man sonst gar nicht hinkäme, von wo man immer auch etwas mitnimmt, das man nie vergisst. Oder man kommt mit aussergewöhnlichen Leuten in Kontakt, unvergesslichen Typen wie Gerhard Meier, Ludwig Hohl. Zwei, drei Wochen um Ludwig Hohl herum zu sein: das war ein Erlebnis – solche Dinge hinterlassen starke Eindrücke.

Im Prinzip sind Spielfilme und Dokumentarfilme zwei verschiedene Arten Film. Zwei Paar Stiefel. Beim Spielfilm ist vieles von den Dialogen und den Schauspielern abhängig. Der Kameramann muss von der Stimmung her arbeiten. Es gibt keine Sekunde, die nicht vorgeschrieben ist. Alles ist durchgedacht – das Angebot, eine gewisse Freiheit zu entwickeln, besteht gar nicht.

Nur ausnahmsweise gibt es Projekte, bei denen ein Schauspieler eine Rolle hat, die der Kamera erlaubt, auch noch mit ihm zu arbeiten. Die Fälschung von Volker Schlöndorff etwa, der in Beirut gedreht wurde, wo Bruno Ganz durch die Strassen rannte und die Aufnahmen dokumentarisch gedreht wurden – solche Projekte würden mich reizen. Aber solche Stoffe sind relativ selten, und dann muss man auch noch an die richtigen Leute herankommen.

Im Osten machen sie mehr solche Stoffe als in Mitteleuropa. Es gibt viele chinesische Filme, die dokumentarisch wirken, aber Spielfilme sind – und Dokumentarfilme, die beinahe wie Spielfilme daherkommen, gibt es natürlich auch.

FILMBULLETIN Dein Tätigkeitsfeld ist sehr breit, reicht etwa von Die Salzmänner von Tibet bis zu Gripsholm.

PIO CORRADI Gripsholm war tatsächlich schon eine andere Kiste. Da hatte ich einen Steadycam-Kameramann, der sehr viele Aufnahmen gedreht hat – auch mit Videoausspiegelung: Kamera und Regie beobachten am Monitor, ob das richtig ist oder nicht. Einige Szenen habe ich zwar selber gedreht, aber teilweise musste ich mit drei Kameras gleichzeitig arbeiten, weil bestimmte Szenen vom Aufwand her einfach an einem Tag im Kasten sein mussten – und so dreissig bis zu fünfunddreissig Einstellungen am Tag schafft einer allein nicht.

Da ist selbstverständlich eine ganz andere Arbeitsweise gefragt, als wenn ich mit einer Kleinkamera zehn Wochen lang Salzmänner im Tibet begleite.

FILMBULLETIN Aber grundsätzlich findest du beides spannend?

PIO CORRADI Die Salzmänner von Tibet war auch von der Natur und den ganzen Erlebnissen her ein sehr spannender Film. Die Salzmänner waren für mich fast wie Darsteller. Sie «spielten ihr Spiel», und wir mussten nur zusehen, dass wir die richtigen Szenen einfangen.

So eine Kiste wie Gripsholm ist für einen Chefkameramann gar nicht so spannend. Es gibt einen grossen Produktionsdruck, sehr viel organisatorische und produktionelle Aufgaben. Primär muss man unter grossem Zeitdruck die Probleme der Logistik lösen und dann erst noch Bilder präsentieren.

Salzmaennervontibet

(Bild: Die Salzmänner von Tibet)

FILMBULLETIN Das Licht wird wichtig sein.

PIO CORRADI Das Licht ist eigentlich die Hauptaufgabe eines «di pi» («d. p.», director of photography). Aber um Licht einzurichten, sollte man Zeit haben. Gripsholm war so ein richtiger Co-Produktionsfilm: In Österreich musste Berlin gedreht werden, auch Teile von Schweden. Weil die Österreicher entsprechend Geld zur Verfügung gestellt hatten, mussten wir fünf Wochen in Österreich arbeiten. Schweden, wo alle Originalschauplätze zur Verfügung gestanden hätten, konnten wir kaum nutzen, weil sich Schweden nicht mit Geld an der Produktion beteiligte. Also wurde da so kurz wie möglich und nur das allernotwendigste gedreht und viele Szenen nach Österreich verlegt. Auch von der Chronologie her beginnt man bei so einer Produktion irgendwo im zweiten oder dritten Teil und fährt dann sechs, sieben Wochen später zu Originalschauplätzen, um die fehlenden Teile des Puzzles noch reinzudrehen. Höhenfeuer war insofern ein dokumentarisch hergestellter Film.

FILMBULLETIN Habt ihr da chronologisch gedreht?

PIO CORRADI Wir begannen im Sommer, da wo die Geschichte beginnt, zu arbeiten, gingen dann in den Herbst und den Winter – wir haben sehr grosse Teile chronologisch gedreht.

FILMBULLETIN Da bist du früh eingestiegen.

PIO CORRADI Höhenfeuer war sehr seriös vorbereitet – im kleinen Rahmen, aber seriös. Der Film hat ja nur 1,1 Millionen Franken gekostet, heute kostet bereits ein «Tatort» 1,5 Millionen. Wir haben ein Jahr vor Drehbeginn bereits Testaufnahmen gemacht, Schauspieler gesucht und einige am späteren Haupthandlungsort bei und in dieser Alphütte fotografiert.

Für die Darstellung des Vaters etwa waren noch zwei Schauspieler in der engeren Wahl: Rolf Illig, 1,95 Meter gross, und ein Österreicher mit sehr bäurischem Aussehen. Von Aug dachten wir eher, es ist der Österreicher, ein bisschen rundlich, sehr glaubhaft als Bauer, aber als wir dann die Fotos betrachteten und plötzlich bemerkten, wie dieser Illig so komisch mit gebückter Haltung im Raum steht, fanden wir: das ist der richtige Typ. Seine Körpersprache, die gebückte Haltung in der niederen Hütte, sagt sehr viel über seine innere Situation, dieses Eingeengtsein in dieser kleinen Hütte in den Bergen – da geboren, musste die Hütte, den Familienbesitz übernehmen.

Die Besetzung mit dem Typen, der von seiner Grösse her nicht in die Hütte passt, hat durch seine Körpersprache sehr viel gebracht. Aber das haben wir erst auf den Fotos gesehen, weil er immer den Hals so schräg hielt, etwa.

FILMBULLETIN Wenn du drei Wochen vor Drehbeginn einsteigst, sind solche Dinge gar nicht möglich.

PIO CORRADI Bei Gripsholm war das Casting bereits gemacht. Die Produzenten und Verleiher machen die Besetzung mit Schauspielern, die sie für ihre Vertriebsstrategien brauchen – insofern gibt’s diese Arbeit gar nicht.

FILMBULLETIN Wie waren die Vorgaben bei Die Salzmänner von Tibet, wie lautete die «Regieanweisung»?

PIO CORRADI Auch bei Die Salzmänner von Tibet gab es eine Art Drehbuch – natürlich keines, wo die Szenen beschrieben sind, aber ein Buch von einem chinesischen Schriftsteller über die Salzmänner und ihre Bedeutung. Ulrike Koch, die ja chinesisch spricht, hat es in Peking irgendwo gefunden, gelesen, ging der Geschichte nach, war mal in Tibet, kam aber nicht an den Salzsee hinauf, weil da im Prinzip gar keine Frauen hinkommen.

Sie hat aber viele Interviews geführt mit Männern, die diese Salzkarawane mitgemacht haben, konnte sich also ein Bild machen und hat ein «Dreh»buch geschrieben, in dem die Abläufe präzise beschrieben sind, die Handlungen, die vollzogen werden, welche Sprache gesprochen wird, wo die Punkte sind, da keine Frau mehr dabei sein darf. Auch die Symbiose mit den Gottheiten, die Zusammenhänge mit den Steinen, an denen sie vorbeigehen, die eine bestimmte Bedeutung haben … All diese Dinge hat sie gewusst und beschrieben, aber gesehen hat es ja niemand vorher.

Wir gingen dann einfach in dieser Karawane mit, und ich hatte natürlich sehr grosse Freiheiten beim Drehen, denn diese Aufnahmen wurden einmal gemacht, nichts wurde wiederholt. Dank des Buches, das ich praktisch intus hatte, konnte ich mich aber orientieren und wusste, da und da ist das.

FILMBULLETIN Rushes betrachten lag nicht drin.

PIO CORRADI Wir hatten eine mündliche Zusage für eine Drehbewilligung und wollten ursprünglich auf Super 16 drehen. Die Equipe war gemischt, deutsch schweizerisch – weil auch Deutschland Geld beisteuerte. Das Material war noch in Berlin, als ich bereits in Lhasa war, denn wir mussten die Salzmänner der Karawane erst noch suchen. Als wir sie gefunden hatten, war jedoch klar, dass uns die Chinesen die Bewilligung nicht mehr rechtzeitig erteilen werden. Die Salzmänner ziehen bei Halbmond Ende März aber einfach los.

Es stellte sich also die Frage: bricht man den Film ab und verliert all das Geld, das bereits investiert wurde und sogar den Chinesen bezahlt wurde, oder machen wir den Film als «verkleidete» Touristen, eine Art illegal. Da ich bereits eine kurze Erfahrung mit einer digitalen Kleinkamera hinter mir hatte, entschied ich mich, den Film damit zu drehen. Statt der Filmkamera kamen zwei digitale Kameras aus Berlin – als Tourist darf man solche Kleinkameras einführen. Der Tönler hat sein Dat so in Teile zerlegt, dass man meinen konnte, es sei nur ein kleines Radio, und mit diesem Material waren wir dann unterwegs.

Ich musste noch ein Papier von diesem Chinesen, der uns die Autos und alles organisiert hatte, unterschreiben, dass ich nirgends an einer Strassenkreuzung filme oder dort, wo es eine Kaserne und Militär hat. Unterwegs trifft man allerdings pro Tag vielleicht zwei Leute – also war die Chance klein, dass uns jemand erwischt.

Dreh hoehenfeuer

(Bild: Dreh zu Höhenfeuer)

FILMBULLETIN Die Erfahrung mit der Digitalkamera, würdest du sie wiederholen?

PIO CORRADI Digitalkameras waren im Trend. Die Salzmänner von Tibet war 1997 aber der erste lange Film, der mit FAZ-Technik gemacht wurde; vorher wurden nur einzelne Aufnahmen in einen Film eingeschossen.

Mit dieser kleinen Digitalkamera habe ich jedoch wie mit einer Filmkamera gedreht, sie auch wie eine Super 16 geführt. Wir hatten nur fünfundzwanzig Kassetten dabei, also fünfundzwanzig Stunden Aufnahmematerial.

Heute werden einfach Stunden aufgenommen, das hat sich entwickelt, also: es ist explodiert. Für einen Dokumentarfilm werden sechzig, achtzig, hundert, sogar zweihundert Stunden aufgenommen, um nachher die neunzig Minuten herauszufiltern, die den Film ausmachen. Vom Visuellen her gesehen, bringt das auch eine Verwässerung mit sich. Früher wurde der Kameramann schräg angesehen, wenn die Kamera lief, denn jeder Meter kostete Geld, heute passiert ihm das, wenn er gerade einmal nichts aufnimmt.

Du kannst aber im Tag nicht fünf Stunden ununterbrochen gute Bilder liefern, Bilder, die auch einen Sinn machen – diese Konzentration hat keiner. Beim Film muss das Bild etwas transportieren oder etwas zeigen. Das heisst: man arbeitet viel konzentrierter, ist etwa so gut auf eine Person eingefuchst, dass man die Dinge auch spürt, dass man genau weiss: jetzt passiert das. Beim Video wird oft einfach so laufen gelassen.

Mathias von Guntens Reise ins Landesinnere zum Beispiel wurde mit einem sehr kleinen Drehverhältnis realisiert. Das Puzzle war schon gemacht. Die Szenen, die wir drehten, waren ausgedacht, liessen mir aber dennoch die Freiheit, spontan zu reagieren, gerade weil ich wusste, um was es in der Szene geht, was man darstellen will.

Es erschüttert mich ein bisschen zu sehen, wie stark sich das inzwischen verändert hat. Es heisst einfach: «Du musst jetzt drehen.» Es gibt keine Selektion, keine Angaben, was für Szenen aufzunehmen sind. Man will einfach möglichst viel. Alles soll aufgenommen werden und erst am Schneidetisch wird dann entschieden.

Die Entscheidungen werden so lange wie irgendmöglich hinausgezögert. Alles muss gedreht werden und «wenn ich’s dann sehe, sage ich: das interessiert mich, das nicht.»

FILMBULLETIN Keine gute Entwicklung?

PIO CORRADI Aus meiner Sicht nicht unbedingt. Dreissigjährige finden das aber noch toll, glaube ich. Die haben jetzt mehr Schwierigkeiten mit der Filmkamera, wo ihnen nur zehn Rollen zur Verfügung stehen. Das sind hundert Minuten, anderthalb Videokassetten – heute dreht man zehn Kassetten im Tag.

FILMBULLETIN Du sagst, dass du nicht fünf Stunden konzentriert gute Bilder liefern kannst. Heisst das, dass man gerade in dem Augenblick, wo es erforderlich wäre, nicht so konzentriert ist, wenn man zehn Kassetten am Tag verdreht?

PIO CORRADI Man sucht nicht mehr den Moment, den man auf Film suchen würde. Mit dieser Arbeitsweise bleibt auch weniger Zeit, sich etwas zu überlegen. Wenn ich eine Szene einfach filmen, filmen, filmen muss, kann ich mich gar nicht mehr zurücklehnen und mich einmal fragen: was geschieht da eigentlich? wo ist der Spot? wo ist es wichtig? Ich kann mir auch gar keine Bilder mehr aussuchen.

Mit Talent kann man auch da noch etwas machen, wo man eine Szene einfach eins zu eins aufnehmen soll, aber es ist eine völlig andere Arbeitsweise, als wenn ich mit Film die Momente bringen muss, die wichtig sind.

FILMBULLETIN Filmschauspieler sagen gelegentlich, der Kameramann sei bei der Arbeit ihre wichtigste Bezugsperson.

PIO CORRADI Der Kameramann muss mit den Schauspielern sicher irgendwie in Kontakt kommen. Das ist aber auch das Verhältnis, über das nicht viel geredet wird. Der Kameramann macht ja nicht Regie, greift nicht ins Spiel der Darsteller ein und sagt: «Du musst jetzt …» Sondern er versucht, ihm kleine Hinweise zu geben, ohne dass der Regisseur ärgerlich wird, aber das sind eigentlich die Hinweise, die Schauspieler am meisten beachten – diese kleinen Details.

Der Kameramann sieht die Schauspieler durch die Optik, kennt den Bildausschnitt und war, zur Zeit als noch nicht mit Monitoren gearbeitet wurde, der einzige, der wusste, was er im Augenblick der Aufnahme sah. Ein Schauspieler muss dem Kameramann irgenwie vertrauen. Man ist wie ein Filter, eine erste Instanz von seiner Arbeit, die er vor der Kamera macht. Deshalb sind Schauspieler oft mit Kameramännern in Symbiose. Bei Der Gemeindepräsident hat Mathias Gnädinger immer Bezug auf mich genommen. Er fragte immer, was muss ich noch anders machen?

Kameraleute haben dadurch, dass sie ja mehr filmen als ein Regisseur, auch viel mehr Erfahrung mit Schauspielern. Den Schauspielern ist das Urteil des Kameramannes auch noch wichtig, weil sie wissen, er hat bereits mit dem und jenem gearbeitet.

FILMBULLETIN Wie war das mit Rod Steiger?

PIO CORRADI Rod Steiger hatte in Tennessee Nights einen kurzen Auftritt, aber er war eine sehr nette Person. Er war ein einfacher, sehr zugänglicher Typ und ein wahnsinniger Profi. Rod Steiger hat sich auch sehr stark auf die Kamera bezogen. Die Regie sagte vielleicht «ist gut», aber Rod fragte immer noch bei der Kamera nach, ob die gut war, und sagte dann erst: okay.

Als Richter musste er sitzen und ab und zu aufstehen – aber wie der aufgestanden ist! Die echten Profis, wie die aufstehen, absitzen, sich bewegen, gehen – sie haben eine sehr starke Körpersprache, die praktisch für die Kamera gemacht ist. Nicht mechanisch wirkt. Profis wissen, was für die Kamera richtig ist. Sie haben eine Ahnung davon, was die Kamera macht, fragen auch, welche Linse benutzt wird. Bei uns fragt niemand, welches Objektiv verwendet wird. Rod Steiger fragte immer nach der Linse, also der Brennweite, und dann wusste er genau, bin ich so, so oder so im Bild. Die Kamera steht zwei Meter vor ihm, und wenn ich sage, 85er, wusste er, was von ihm im Bild ist, dank seiner Kenntnis von Optik, Winkel, Standort. Wenn der Ausschnitt enger war, also lange Brennweite, hat er die Bewegungen minimiert, bei einer Kopfbewegung etwa zwar dasselbe gemacht, aber in einem engeren Rahmen, damit das mit der verwendeten Linse wieder richtig ist.

Mit Schauspielern, die solche Kenntnisse besitzen, lässt sich anders arbeiten als mit Leuten, die zum grossen Teil auf der Bühne stehen und dann ab und zu noch in einem Film auftreten. Rod Steiger war ein reiner Filmschauspieler. Das ist ein eigenes Metier.

Dreh transatlantique

(Bild: Corradi misst Licht für Transatlantique)

FILMBULLETIN «Sich bewegen für die Kamera», ist das Gefühl, Wissen, Talent?

PIO CORRADI Sicher ist Naturtalent dabei, aber die wirklichen Profis sind auch ausgebildet und lernen ständig dazu. Beim Betrachten der Rushes hat ihnen vielleicht jemand gesagt: «Du, so musst du nicht aufstehen, das geht anders.» Einer, der seit zwanzig, dreissig Jahren als professioneller Filmschauspieler arbeitet, hat ein anderes Vorwissen als einer, der zu achtzig Prozent auf der Bühne steht, wo er sich für das Schaukastentheater völlig anders bewegen muss. Auf der Bühne müssen Schauspieler meistens sehr viel machen, beim Film sind sie, je nach Brennweite, plötzlich ganz gross im Bild und sollten möglichst wenig machen.

FILMBULLETIN Hat das auch Konsequenzen fürs Licht?

PIO CORRADI Ja, sicher. Gute Schauspieler laufen, ohne dass sie auf den Boden sehen und die Marken, welche die Gaffer an den Boden kleben, orten müssen, in die richtige Position. Wenn sie auf den Boden sehen müssen, dann stimmt bereits was nicht. Ein Schauspieler muss wissen, noch zweieinhalb Schritte so rüber. Finden sie ihre Position, so stehen sie dann auch genau richtig im Licht.

Ganz gute Schauspieler spüren das Licht auf ihrem Gesicht. Die merken, ah, die Lampe kommt da, da ist sie, da vorn ist sie nicht mehr. Sie können sich so bewegen, dass sie das Licht treffen. Sie müssen nicht mit ihrem Blick die Scheinwerfer suchen, die spüren auf ihrem Gesicht, was da ablaufen könnte, bewegen sich, von der Lichtdramaturgie geleitet, genau richtig. Wenn einer das nicht kann, steht er halt immer etwas im Off.

FILMBULLETIN Kannst du denen helfen, mit einem etwas allgemeineren Licht?

PIO CORRADI Ja klar. Ein allgemeines Licht macht die Sache offener, aber auch weniger präzise. Das hat meist aber auch mit der Zeit zu tun, die zur Verfügung steht, um Licht einzurichten. Wenn man wenig Zeit hat, muss man das Licht offener machen, damit die Schauspieler an mehreren Orten stehen können. Ganz spezielles Licht muss auch speziell eingerichtet werden. Es braucht eine Inszenierung – nach der die Scheinwerfer eingerichtet werden –, die vorher überlegt sein will, das hängt sehr stark vom Regisseur ab: will er die spezielle Inszenierung oder eine völlig offene, in der er die Schauspieler mal machen, improvisieren lässt und daraus etwas entwickelt. Wenn die Schauspieler innerhalb einer Szene fast jedesmal noch eine Variante dazu geben, muss man das Licht breiter streuen. Die Möglichkeit, das Licht zu inszenieren, entfällt, wenn die Schauspieler soviel Freiheit haben – aber es gibt Regisseure, die das wollen.

FILMBULLETIN Wie ist das mit dem Licht beim Dokumentarfilm?

PIO CORRADI Auch da gibt es Ausleuchtungen, die man sehr gut machen kann, wenn man einmal weiss, die Person macht das und das – weil sie das eben jeden Tag macht, macht sie es immer so. Da muss sich der Kameramann die Szene ansehen, entscheiden, was er mit der Kamera machen will, und dann ist auch klar, wo die Lampe hinkommt.

FILMBULLETIN Du hast den Ruf, dass du mit der Kamera immer genau im richtigen Moment genau am richtigen Ort bist.

PIO CORRADI Man muss gewisse Dinge auch spüren. Das hat nicht nur mit Erfahrung, sondern auch sehr viel mit Beobachtung zu tun.

Ich bin jemand, der eher wenig redet. Ich hab mein Leben lang beobachtet – mit den Augen. Ich hab nicht irgendwelche grossen Gespräche geführt mit gescheiten Leuten, sondern ich hab die Welt mit den Augen verfolgt. Ich weiss, welche Leute sich wie bewegen, wie man ihr Inneres sichtbar machen kann – wie ich an eine Person herankomme.

Neben dem Film habe ich mich immer auch fotografisch betätigt. Und ich wollte Aufnahmen, die «stimmen», ohne dass ich die Leute arrangieren muss. Ich muss also den richtigen Augenblick finden, um abzudrücken. Da bin ich auch etwas geprägt durch Robert Frank, der als Fotograf immer ein Vorbild für mich war. Robert Frank hat Momente gefunden: besser kannst du einfach nicht abdrücken. Diese Tausendstel-Sekunde oder Zweihundertfünfzigstel-Sekunde einer Szene, damit dieses Bild entsteht, das ist natürlich grosse Klasse. Ich habe die Filmstripes von Frank gesehen: er hat nicht drei, vier, fünf Aufnahmen gemacht, sondern einmal ein Bild – und das ist es dann.

Diese Vorkenntnisse aus der Fotografie sind beim Dokumentarfilm sehr nützlich. Ich nehme auch Leute auf, die ich nicht kenne, zu denen ich aber einen Zugang finde – obwohl ich sprachlich mit ihnen gar nicht kommunizieren kann, eben dennoch in Verbindung komme.

Dreh candy mountain robert frank

(Bild: Corradi und Robert Frank beim Dreh zu Candy Mountain)

FILMBULLETIN Und dieses «in Verbindung kommen» ist Voraussetzung, damit die Szenen gut werden?

PIO CORRADI Wenn man die Leute in einem Dokumentarfilm mit zu vielen Anweisungen zurechtbiegen muss, dann ist das der falsche Weg. Man kann von einer privaten Person – einem Laien, wenn man so will, aber es ist ja kein Laie, sondern der Fachmann auf seinem Gebiet, es ist einfach kein Schauspieler – nicht verlangen, dass sie etwas anders macht, nur weil man sich das anders vorstellt. Das heisst: ich muss sie eben so nehmen, wie sie ist, und aus dem etwas machen.

FILMBULLETIN Und aufgrund von Beobachtung weisst du, wie er sich bewegt?

PIO CORRADI Ich merke das. Ich weiss nicht, wie ich das merke. Ich weiss, ob er da aus dem Bild rausgeht oder nicht. Ob ich mit der Kamera mitgehen muss oder nicht. Ich kann nicht sagen, wie das entsteht, aber ich merke an seinen Bewegungen: wahrscheinlich macht er das. Ein wenig Risiko ist selbstverständlich dabei – immer stimmt es eben nicht.

Einem Schauspieler sagt die Regie: «Du machst das und das, und dann gehst du da rüber.» Dann weiss ich, wie das geht. Es kann auch wiederholt werden. Im Dokumentarfilm kann man eigentlich meistens nicht wiederholen. Es gibt zwar Ausnahmen, aber für vieles gilt: nicht wiederholbar. Einmalig.

Deshalb stellt ein Dokumentarfilm eigentlich immer wieder eine grosse, spannende Herausforderung dar. Man muss diese Minute oder diese Sekunde finden, die es braucht.

FILMBULLETIN Bewegen sich die Leute sehr verschieden?

PIO CORRADI Es gibt verschiedene Typen und verschiedene Bewegungsarten. Das hat aber nichts mit Nationalitäten zu tun. Die Körpersprache ist eine internationale Sprache – wird auch von Stummen begriffen. Ein gebückter Schweizer, der aus irgendeinem Grund eine gebückte Körperhaltung hat, ist vom Visuellen her nicht viel anders als ein gebückter Chinese.

FILMBULLETIN Die Ausstattung spielt doch ziemlich ins Visuelle hinein. Wie ist die Zusammenarbeit mit den Ausstattern?

PIO CORRADI In der Schweiz gibt es diese Art von Film, diese grossen Ausstattungskisten, gar nicht. Es gibt nur eine Art von Ausstattung, die dann meistens in Form von Requisiten im Bild erscheint.

Aber es ist klar, Szenenbilder – wenn wirklich welche hergestellt werden – bestimmen die Situation. Das sind jetzt Dinge, die Fredi skizzieren kann, die Skizzen kann aber auch der Ausstatter liefern. Solche Skizzen sind notwendig, damit die Beteiligten wissen, in welche Richtung sie denken und arbeiten müssen.

Im Ausland ist der Ausstatter oft der sogenannte Architekt, der Designer des Bildes, das dann entsteht. Die Lichtproblematik im Bild, die Lichtdramaturgie, die entwickelt wird, ist dann: Abteilung Kamera. Das bedingt selbstverständlich eine gute Zusammenarbeit – aber den richtigen Ausstattungsfilm im grossen Stil gibt es bei uns nicht.

Dreh der rechte weg

(Bild: Dreh zu Der rechte Weg)

FILMBULLETIN Bei Vollmond etwa? Da gab es doch etwas zu tun.

PIO CORRADI Das waren jetzt nicht unbedingt Dekors, in denen fictionmässig wirklich ganz spezielle Dinge herauskristallisiert wurden. Die Ausstattung der Szene in Höhenfeuer, wo die beiden Toten von Kerzen umgeben im Bett liegen, ist eher eine Ausstattung, die nicht nur Requisite ist. Mit der Anordnung von Kerzen wurde der Raum gestaltet.

Die beiden Ausstatterinnen gingen nachts rauf, haben sich eingeschlossen, kamen gar nicht runter zum Schlafen, sondern haben nach Besprechungen und anhand von Skizzen eingerichtet. Wir kamen am Morgen rauf, haben das vorgefunden und gefilmt.

FILMBULLETIN Dann geht es bei Spielfilmen bei uns vor allem um Requisite?

PIO CORRADI Requisiten sind ja der Ausstattung unterstellt, Requisiten sind Teil der Ausstattung, und bei uns ist der grösste Teil dieser Arbeit, einen Raum mit Requisiten auszustatten. Es gibt keine architektonischen Pläne, keine Filmarchitektur. Wenn Max Haufler in The Trial von Orson Welles in einen Raum eintritt, in dem tausend Stenotypistinnen hinter Schreibmaschinen sitzen – das ist für mich Ausstattung, Filmarchitektur. Diese ganze Architektur, die ganze Lichtgestaltung – also, was für Lampen im Raum hängen, die Perspektive …

FILMBULLETIN Gut, das ist eine andere Dimension.

PIO CORRADI Oder was Rolf Zehetbauer macht: Das Boot – wo eine Kombination zwischen Modell und nachgebautem Eins-zu-eins-Studioboot gemacht wurde … und und und. Das sind Ausstattungskisten. Wo man die Wände rausnehmen, das Boot halbieren kann, damit die Kamera sich darüber hinwegbewegen kann und andere Geschichten. Das ist Ausstattung, also Filmarchitektur.

FILMBULLETIN Würde es dich reizen, mal sowas zu machen?

PIO CORRADI Ja, why not. Ich habe aber auch sehr viel Spass an kleinen Filmen wie Pane per tutti, den ich letztes Jahr in Rom gemacht habe. Das finde ich für mich einen möglichen Weg: gangbar und erreichbar.

Wenn ich in die andere Art Film gehen will, muss ich langsam auch ans Auswandern denken. Nur, im Ausland an die richtigen Projekte heranzukommen, ist dann nochmals ein Prozess. Es ist nicht so, dass man plötzlich im grössten Studio steht, wenn man aus der Schweiz kommt mit einem Schweizer Pass.

Dreh mit maria becker auf der insel juist 1974

(Bild: Dreh mit Maria Becker auf der Insel Juist, 1974)

FILMBULLETIN Du warst in den hintersten Ecken der Welt, hast dich aber mehrheitlich im Feld des Schweizer Films bewegt.

PIO CORRADI Nach Höhenfeuer hätte ich viele Möglichkeiten gehabt, hatte von verschiedenen Seiten Anfragen, habe aber keine wahrgenommen, weil ich hier in meinem Bekanntenkreis bereits wieder für neue Projekte versprochen war.

Ich habe das Abenteuer auch gar nicht eigentlich gesucht, weil ich wusste, wie man sich im neuen Umfeld wiederum drei, vier Jahre behaupten muss. Wenn es der Zufall wirklich erlaubt, und man, nachdem man hier einen Film gemacht hat, der ein wenig ein Ereignis ist, genau an eine Persönlichkeit herankommt, die auch etwas über dem Durchschnitt ist, dann lohnt sich der Schritt. Wenn es aber abwärts geht – ich gehe nicht nach Deutschland, um Fernsehserien zu filmen, das interessiert mich einfach nicht, selbst wenn bekannte Schauspieler mitwirken. Ich mach keine TV-Filme.

Aber ich hatte auch Anfragen und Bücher für Spielfilme aus Amerika, England … hatte aber vom Stoff her keinen Zugang zu den Büchern. Wenn man aus der Schweiz kommt, ist man es sich auch nicht gewohnt, mit grossen Themen umzugehen. Im Osten oder im Iran, glaube ich, könnte ich sofort Filme machen.

Aber ich möchte sicher nicht nach Hollywood wollen.

FILMBULLETIN Technischer Aufwand ist einerseits reizvoll, anderseits mit organisatorischen Aufgaben verbunden. Produktionsdruck kommt hinzu.

PIO CORRADI Wenn jetzt einer jedes Jahr ein bis zwei grössere Kisten macht – mehr ist sowieso nicht möglich –, dann stellt sich auch da wieder eine Routine ein, und wenn man in der Kontinuität an ganz grossen Kisten arbeiten kann, entwickelt sich mit der Erfahrung auch wieder eine Freiheit.

Wenn man aber einfach so plötzlich konfrontiert wird, eher noch aus einer anderen Ecke kommt, ist das im Augenblick auch eine Lawine, die kommt. Bei Tennessee Nights von Nicolas Gessner musste man morgens um sieben entscheiden, wo die Sattelschlepper abgestellt werden. Das musste ich entscheiden, obwohl ich noch nicht genau wusste, was laufen und in welche Richtung gefilmt werden wird. Diese Sattelschlepper mit dem ganzen Material werden in Amerika einmal hingestellt und den ganzen Tag nicht mehr umparkiert. Wenn die Kiste später im Bild steht: sie wird nicht weggestellt. Die Ecke ist vergeben. Morgens um sieben solche Entscheidungen zu treffen, finde ich jetzt nicht einen so tollen Anfang für den Tag. (lacht)

Dreh arthur rimbaud biogr

(Dreh zu Arthur Rimbaud – une Biographie)

FILMBULLETIN Es gibt den Chefkameramann, der kontinuierlich mit denselben Leuten, seiner Equipe arbeitet.

PIO CORRADI Gut, es gibt die Geschichten von Vittorio Storaro. Storaro kann man eigentlich nur beschäftigen, wenn man seine Organisation mitmietet. Da wird ein package gemacht; wenn Storaro kommt, kommen zwanzig Leute – die wichtigen Positionen sind alle von der harten Crew besetzt – die bringen das Material, Licht, Dollys, Krane: in ihren Sattelschleppern ist alles dabei. Engagiert werden bestenfalls noch Helfershelfer vor Ort. Die gehen dann auch mit Coppola in die Philippinen, um Apocalypse Now zu drehen – das waren so zwanzig, dreissig Italiener, die auch den Tomaten-Spaghetti-Aufstand inszenierten.

Storaro und andere verkaufen sich so, aber das ist eine andere Geschichte. In der Schweiz passiert ja das Gegenteil. Wenn ich in einer Co-Produktion was mache, kann ich – wenn’s gut geht! – den Assistenten mitbringen. Je nachdem nicht mal den, weil es ein Deutscher oder ein Österreicher sein muss, und die Beleuchter kommen sowieso von da, das Material von dort.

Wir in Europa machen das Gegenteil: wir zerfleischen die Equipen. Diese Co-Produktionsabkommen mit den komischen Verhältniszahlen – bei der Hamburgförderung müssen hundertfünfzig Prozent investiert werden, in Österreich hundertachtzig Prozent … Das sind Förderungsmodelle, die sich auf die Equipen praktisch negativ auswirken, weil du ja immer andere Leute auf dem Set hast.

FILMBULLETIN Das muss doch was bringen, wenn die Equipe eingespielt ist und ein Vertrauensverhältnis besteht.

PIO CORRADI Klar ist es angenehmer und effizienter, mit Leuten zu arbeiten, die du kennst, mit einem Chefbeleuchter etwa, den ich kenne, von dem ich weiss, was er macht und was er kann. Ein Chefbeleuchter, der seinerseits seine Leute engagieren kann, die er kennt und unter seinen Fittichen hat.

In Amerika gehören immer noch grosse Teile einer Crew – fünf, sechs Leute mindestens – zum engsten Kreis eines Kameramannes. Die Leute in Schlüsselpositionen, die bringt er mit, die sind immer dabei. Aber so kann man sich in Europa nicht verkaufen.

FILMBULLETIN Schlägt das auf die Qualität durch?

PIO CORRADI Das muss nicht sein. Es gibt auch die positive Erfahrung, dass man Leute kennenlernt, die noch besser sind. Ich will nicht nur negativ über zusammengewürfelte Equipen reden, aber es macht die Aufgabe, Filme zu machen, auch nicht leichter, wenn man immer von vorne beginnen muss – vor allem in den ersten zehn Tagen eines Films.

FILMBULLETIN Farbe, Schwarzweiss?

PIO CORRADI Ich bin ein grosser Fan von Schwarzweiss, deshalb vielleicht etwas voreingenommen. Schwarzweiss-Filme haben es schwer. Das Fernsehen beteiligt sich grundsätzlich nicht. In den Labors wird noch ein Prozent Schwarzweiss verarbeitet, deshalb ist die Erfahrung mit Schwarzweiss nicht mehr vertretbar vorhanden.

FILMBULLETIN Dreht ein Kameramann schwarzweiss anders als farbig?

PIO CORRADI Die Fotografie ist eine andere. Die Trennung von Vorder- und Hintergrund kann nicht über die Farbgestaltung erfolgen, man muss das mit Licht modulieren. Leute vor einem dunklen Hintergrund in einem Innenraum praktisch wie etwas herausnehmen, damit sie sich abzeichnen – durch den Kontrast getrennt werden. Das ist eine andere Arbeitsweise. Schwarzweiss ist immer auch eine Abstraktion, hat auch einen speziellen Reiz.

Der Gemeindepräsident und Winterstadt habe ich schwarzweiss gedreht, mit Bernhard Giger, der ursprünglich auch Fotograf gelernt hat, auch ein Schwarzweiss-Fan. Mit Leopold Huber habe ich hirnbrennen in Österreich gemacht. Das Labor der Wienfilm war wahnsinnig gut, einfach, weil die Erfahrung noch vorhanden war. Die AKs (Arbeitskopien) waren besser als die Kopien, die später in der Schweiz hergestellt wurden – da bin ich echt etwas erschrocken. Schwarzweiss erfordert grosse Erfahrung auch vom Laborpersonal. Da kann sehr viel beeinflusst werden, im Kontrast, in der Körnigkeit.

FILMBULLETIN Ist Schwarzweiss generell anspruchsvoller?

PIO CORRADI Ein guter Schwarzweiss-Film ist anspruchsvoller. Es gibt inzwischen aber auch Schwarzweiss-Filme, die zunächst auf Farbmaterial gedreht werden. Woody Allen macht das. Wir haben das, als ich für einen Fotografen ein Bild in Afrika machen musste, getestet: farbig auf schwarzweiss kopiert wird besser als schwarzweiss auf schwarzweiss.

FILMBULLETIN Liegt das an der Erfahrung, die für Schwarzweiss fehlt?

PIO CORRADI Wenn man schwarzweiss aufnimmt, muss man die Entscheidungen eben vorher treffen. Man muss alles richtig machen. Wenn ich in Farbe aufnehme, kann ich vieles offen lassen und nachher beim Farbentzug steuern, wo ich hin will, sofern das Farbnegativ die richtige Dichte hat. Man kann die Trennung wie geplant steuern – ein Timerproblem der Lichtbestimmung.

Dreh der rechte weg schlussszene

(Bild: Dreh zu Der rechte Weg)

FILMBULLETIN Gibt es für dich ein bevorzugtes Objektiv?

PIO CORRADI Es kommt auch etwas auf den Film an. Bei Dokumentarfilmen mach ich eigentlich alles mit einem Cannon Zoom, 8 auf 64, verwende aber nur bestimmte Brennweiten, die klassische Reihe 12, 16, 25. Mit Fixobjektiv arbeite ich häufig mit dem 24er, 25er – das ist so eine mittellange Brennweite.

Die Spielfilme habe ich eigentlich alle mit Fixlinsen gedreht. Man bestellt fünf und arbeitet schliesslich mit dreien oder zwei.

FILMBULLETIN Reden Regisseure mit bei der Wahl der Objektive?

PIO CORRADI Nicolas Gessner war Fan von ganz langen Brennweiten, da hab ich jeden Tag zwei Objektive zusätzlich bestellt. Die ganze Palette von Langbrennweiten von 100 bis 200, 250, 300, 350 und 400 musste ich dabei haben. Bei den meisten Aufnahmen, die etwas statisch sind, wollte er lange Brennweiten. Dynamischere Einstellungen, wo sich einiges im Bild bewegte, wollte er dann auch mit einem 50er, 85er Objektiv hergestellt wissen.

Aber im grossen ganzen reden sie wenig mit. Regisseure reden über die Grösse – aber die Grösse kann verschieden hergestellt werden. Wenn ich eine Grossaufnahme mit einer langen Brennweite mache, sehe ich weniger im Hintergrund, als wenn ich dieselbe Grösse mit einer weiteren Optik mache. Das heisst, es ist eigentlich der Kameramann, der bestimmt, was aneinandergeschnitten werden kann, was hintereinander kommt. Es sind Dinge, die nicht sehr schön sind, wenn in der einen Einstellung im Hintergrund alles scharf ist und in der nächsten alles verschwimmt, weil er die Kamera einfach da stehen hat und für eine Grossaufnahme nur mit dem Zoom nachgeht. Es ist die Sprache des Kameramannes. Vermeiden lässt sich das, indem die Kamera bewegt wird, mit derselben Optik hingeht.

FILMBULLETIN Du arbeitest oft mit einer Handkamera?

PIO CORRADI Als ich dreissig war, musste ein guter Kameramann ein guter Handkameramann sein. Raoul Coutard, der aus der Hand drehte, war der grosse Star, Cinéma vérité war gefragt – die jungen mit Stativ hatten keine Chance. Man wurde an der Qualität der Handkamera gemessen, musste laufen können, die Kamera ruhig halten, sich auch um Personen herum bewegen – das ist immer noch brauchbar.

Bei Spielfilmen werden solche Aufnahmen inzwischen oft mit Steadycams gemacht, aber beim Dokumentarfilm kann man sich – ausser in Spezialfällen – ein Steadycam nicht leisten.

FILMBULLETIN Eine Handkamera ermöglicht, den Bewegungen der Leute besser zu folgen …

PIO CORRADI Ich muss ja nicht gleich um die Personen herumgehen, ich kann auch durch ganz kleine Bewegungen die Perspektive leicht ändern, es eröffnet sich etwas anderes, es kommt jemand zur Tür rein … Mit einer Handkamera kann ich intuitiv auf Dinge reagieren, die passieren, ohne dass es vorher abgesprochen wurde. Wenn ich dagegen mit dem Stativ irgendwo stehe und plötzlich merke, eigentlich müsste ich da drüben stehen, kann ich nicht mehr reagieren.

FILMBULLETIN Du hast die Geschichte des «jungen» Schweizer Films – später «neuer» Schweizer Film genannt – miterlebt. Was sind die wesentlichen Veränderungen?

PIO CORRADI In meinem Umfeld hat sich das nicht stark verändert, weil ich mit meiner Generation weitergearbeitet habe. Heute beginnen Dreissigjährige aber an einem ganz anderen Ort als ich damals.

FILMBULLETIN Material?

PIO CORRADI Wir waren arme Kirchenmäuse. Yves Yersin hatte eine Kamera, später auch Fredi Murer. Diese Kameras wurden fast noch handwarm weitergereicht zu einer andern Produktion. Hauptsächlich mussten wir darauf achten, dass über Nacht wenigstens die Batterien geladen werden konnten. Vom Material her waren wir ein echtes Entwicklungsland. Heute ist das Material immens – aber nicht dank des Schweizer Films. Das Geld des Filmmaterial-Leasings wird mit der Werbung gemacht. Vom Film allein könnte das Leasing nie in dieser Potenz daherkommen.

Ausser den Indern kommen kaum mehr Ausländer zu Dreharbeiten in die Schweiz. Zu meiner Assistentenzeit waren sehr viele Ausländer hier, und ich habe oft als zweiter oder erster Assistent in solchen Produktionen gearbeitet. In Bern wurde mal eine TV-Serie mit dem deutschen Chefkameramann Dieter Lohmann gedreht. Die haben die ganze Stadt umgekrempelt, nachts ganz Bern eingeleuchtet, da waren zwanzig, dreissig Beleuchter tätig, das waren riesige Crews. Das gibt es heute kaum noch, auch Szenen für amerikanische Filme wurden schon länger nicht mehr in der Schweiz gedreht.

Die Fragen an Pio Corradi stellte Walt R. Vian

(Titelbild: Pio Corradi beim Dreh zu Glut; letztes Bild: Angeliki Antoniou und Corradi beim Dreh zu Donusa)

Dreh donusa

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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