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Bingo

Züri-Film, Film Zürich – Imagination und Image einer Stadt

Irene Genhart und Andres Janser tauschen per Mail ihre Gedanken zu Zürich als Filmstadt.

Text: diverse / 01. Mai 2002

ANDRES JANSER Allmählich dämmert es auch den Nicht-Urbanisten, dass wir es seit längerem schon mit einer zusammenhängenden «Grossstadt Schweiz» zu tun haben, dass städtische Kultur überall vorhanden, buchstäblich nicht zu ignorieren ist. Unter den ersten Filmen, die uns diesen Umstand vor Augen und Ohren geführt haben, zählt Christian Schochers Reisender Krieger (1981) zu den präzis beobachtenden. Wenn der Handelsvertreter Krieger aus einer Tiefgarage in der nicht näher lokalisierten Agglomeration Zürichs zu seiner allwöchentlichen Odyssee kreuz und quer durch die Schweiz als Verkäufer von Kosmetika aufbricht, wird bald klar, dass die Ortsnamen, die räumliche Dichte der Bebauung und der Neigungsgrad der Topographie variieren mögen – dem Städtischen entkommt man hierzulande nicht. Zürich ist bei Schocher zwar, stellvertretend für andere hiesige Gravitationszentren, nicht sichtbar, aber nichtsdestotrotz prägend für die sich gemächlich entwickelnde Handlung um Konsumgüter und Selbstwertgefühl.

Diese Form von Off stellt gewissermassen den «degré zéro» von Stadt im Film dar: visuell – zumindest im herkömmlichen Sinn von Innenstadt oder wiedererkennbarem Denkmal – abwesend, aber narrativ nachhaltig wirkend. Doch hat Zürich, dieses grösste Quartier unseres Metropolenlandes, auch seine an Präsenz höher einzustufende, visuell konkrete filmische Verarbeitung «on-screen» erfahren, auf die den Blick zu lenken sich lohnt. Vor allem in jenen Fällen, in denen das Resultat auf einer intensiven Beschäftigung mit den gewählten Orten beruht, sodass sie nicht nur zu einem wesentlichen Bestandteil der Narration wurden, sondern umgekehrt auch die Strassen, Plätze, Wohnungen in unbekannt-vertrautem Licht erscheinen lassen. Was macht dann der Film aus Zürich, und was tut die Stadt für ihn?

IRENE GENHART Es gibt diesen einen Film – Restlessness (1990) von Thomas Imbach –, der die konkrete filmische Darstellung von Zürich in das generelle Urban-Gefühl Schweiz einschreibt. Er tut dies an dem Ort, der sich beim Nachdenken über die «Filmstadt Zürich» und die «Zürich-Stadt-Filme» als symbolischer und geographischer Mittelpunkt etabliert: dem Hauptbahnhof. Hier kommt man an, wie Emil Hegetschweiler in Jä-soo! (Walter Lesch, Leopold Lindtberg, 1935), und durch den Hauptbahnhof verlässt man Zürich, wie die zwei Protagonisten in Christoph Schaubs Stille Liebe (2001). Das ist so, obwohl in Kloten der Zürcher Flughafen liegt – und obwohl in Wirklichkeit die Verbindung Zürichs mit dem Rest der Schweiz via Auto und Strasse ebenso wichtig ist. Doch das Bild der Stadt im Film ist immer eine Fiktion – eben die Konstruktion und/oder Projektion dessen, was uns ein Filmemacher als Stadt zeigen will.

Eine Stadt – Zürich – für den Zuschauer erkennbar zu machen, das funktioniert am einfachsten – aber auch am banalsten – via «Wahrzeichen», im Falle von Zürich etwa via die Türme des Grossmünsters. Der Hauptbahnhof und seine nähere Umgebung sind diesbezüglich dankbarer Sonderfall. Ohne eigentliches Wahrzeichen zu sein (worüber man sich streiten kann), ist er vielen Menschen sowohl aus dem persönlich erlebten Alltag wie auch durch das von den Medien vermittelte Bild bekannt. Er besitzt deswegen einen starken Wiedererkennungseffekt. Zugespitzt formuliert, heisst das: Wenn ein Filmemacher – so wie zum Beispiel Urs Wäckerli in Aber auch ich (1999) – seine Figur am Filmanfang durch die Halle des Hauptbahnhofs laufen lässt, schreibt sich im Kopf der Zuschauer «location Zürich» ein.

Also stellt sich die Stadt dem Film als Hintergrund zur Verfügung, und der Film hilft mit, das Bild von Zürich zu prägen. Historisch sicher seit circa 1906, als ein Mensch, dessen Name nicht überliefert ist, dessen Film aber in der Cinémathèque Lausanne lagert, seine Kamera auf den Hauptbahnhof richtete. Wie aber benutzen Filmemacher Zürich? Und worin bestehen die Unterschiede zwischen einem Film wie aber auch ich, der die Stadt lose als Hintergrund braucht, und etwa Utopia Blues (Stefan Haupt, 2001), einem sehr zürcherischen Zürcher Film?

Utopia

(Bild: Utopia Blues)

ANDRES JANSER Zweifellos zählt der Hauptbahnhof zu den vertrauten Bauwerken der Stadt. Vor allem aber ist er jener Ort, der die Erfahrung des Wechsels von ausserhalb zu innerhalb und von Bewegung zu Stillstand verkörpert: ein transitorischer Ort par excellence. Solcherart lokalisierbare und mit vergleichbarer Intensität wahrnehmbare Übergangsstellen – die auf der im Kern weiterhin geschätzten Vorstellung früherer Jahrhunderte beruhen, dass die Stadt ein Ende kenne – sind der Strasse ja weitgehend abhanden gekommen. Es dürfte vor allem dieses dramaturgische Potential sein, das immer wieder dazu verführt hat, den Bahnhof als Schauplatz der Ankunft oder Abreise zu bevorzugen. Umso mehr, als er sich im Zentrum der Stadt befindet – und eben nicht ausserhalb, wie der Flughafen.

Wenn es darum geht, die blosse Zugehörigkeit eines Films zum Genre «Stadtfilm» zu gewährleisten, die Handlung im städtischen Milieu zu situieren, genügen meist wenige zeichenhafte Versatzstücke. Über diese rein bezeichnende Verwendung von Stadt hinaus gehen alle jene Filme, bei denen Figuren, Handlung und Ort unauflösbar verflochten sind, sodass das städtische Leben zum eigentlichen Thema wird. Im Schweizer Film werden zu diesem Zweck häufig konkrete Orte in kaum verfremdeter Weise eingesetzt – ein Verfahren, das etwa auch der Neorealismo oder die Nouvelle vague bevorzugten, um ihren Figuren und Geschichten grösstmögliche Authentizität zu verleihen. Ganze Sequenzen sind so angelegt, dass sich der filmische Raum unmittelbar auf den ausgewählten realen Stadtraum bezieht. Womit umgekehrt die (ebenso reizvollen) Möglichkeiten unausgeschöpft bleiben, einen konzeptuellen, nur über die filmische Montage entstehenden Stadtraum zu schaffen.

In Utopia Blues trägt die Atmosphäre der kleinbürgerlichen Wohnsiedlung am Letzigraben, in der der jugendliche Protagonist und seine Mutter wohnen, einen wesentlichen Teil der Handlung. Das gilt auch für kleine Bewegungen wie die zwischen dem äusseren Seefeld und dem dort nahe gelegenen Seeufer: Selbst Zuschauern, die mit den Örtlichkeiten nicht vertraut sind, wird die unspektakuläre Stimmigkeit auffallen – die typischerweise nicht zuletzt darauf beruht, dass sich Haupt mit seinen eigenen stadträumlichen Angelegenheiten befasst. Das trifft wohl auch auf den Blick von der autobahn-ähnlichen, «grossstädtischen» Hardbrücke zu, der nur deshalb bemerkenswert ist, weil man ihn im Film noch nie – und deshalb auch noch nie so gewöhnlich vorgeführt bekommen hat.

Einen vergleichbaren, quasi-dokumentarischen topographischen Realismus pflegt Fredi M. Murer schon in seinem ersten langen Spielfilm Grauzone von 1979. Wenige Orte nur sind es, die er verwendet. In Oerlikon der Arbeitsplatz des Abhörfachmanns Alfred, im Seefeld jener seiner Frau Julia, die dort nach Arbeitsschluss ein Tram besteigt, das tatsächlich die ganze Stadt durchquert, um nach langer Fahrt – die Murer wohlweislich elliptisch verkürzt – in der Grünau schliesslich seine Endstation zu erreichen. Vor allem die Grünau, jene hoch aufragende, damals wenig beliebte Wohnsiedlung in der westlichen Grauzone der Stadt, wird dem Zuschauer ausführlich nahe gebracht, mit ihrer Anonymität, ihren unwirtlichen Unterführungen und Autobahnschneisen.

Angesichts der Sorgfalt dieser Beschreibung erhält die eine markante Ausnahme eine umso stärkere Wirkung: vom Dach des Wohnhochhauses aus erblickt Alfred in der Ferne den Kühlturm eines Atomkraftwerks. Das bekanntlich in jener Umgebung nicht existierende Bauwerk wird zum Symbol einer latenten, dabei kaum greifbaren Bedrohung, jener rätselhaften Epidemie analog, die die Stadt an diesem Wochenende umtreibt. Grauzone endet programmatisch mit einer für den Schweizer Film ungewöhnlich langen, beschreibenden Einstellung von etwa drei Minuten Dauer. Dabei greift die Kamera den Blickwinkel der Eröffnungseinstellung noch einmal auf. Sie verfolgt von hoch oben (auf dem Hotel International), wie Alfred sich zu Beginn der neuen Woche zu Fuss von seinem Arbeitsplatz um manche Ecke herum zu einem nahe gelegenen Café begibt, wo er einen Bekannten trifft und die Sprengung des eben verlassenen Hauses auslöst: Veränderungen bedürfen bisweilen radikaler Mittel, ein Schluss, der sich im historischen Rückblick – vor den unruhigen achtziger Jahren – als geradezu visionär lesen lässt.

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(Bild: Grauzone)

IRENE GENHART Was Grauzone und Utopia Blues betrifft, haben sowohl Stefan Haupt wie Fredi M. Murer im Gespräch bestätigt, dass ihnen die Struktur der Stadt wichtig ist. So wichtig, dass sie die Bewegungen der Figuren durch ihre Filmstadt den realen lokal-geographischen Gegebenheiten entsprechen lassen. Auffällig ist – diese Bemerkung drängt sich auf – dass beide Filme die «starre» Stadt als Symbol für Enge und Eingeschlossenheit, auch für gestörte Kommunikation benutzen, und dass sie davon ausgehend zuerst das Unwohl-Fühlen und danach das Ausscheren der Protagonisten beschreiben. Was als «gewöhnlicher Blick» auf die Hardbrücke bezeichnet wurde, schreibt sich dem Zuschauer als «ganz ungewöhnlich» ins Gedächtnis ein: Weil Michael Finger als Rafi über die Brücke balanciert und tanzt, weil er den ihm folgenden Bus mitten auf der Brücke zum Stehen bringt, was ein «normaler» Mensch nie tun würde, wird die Brücke symbolisch aufgeladen – und deswegen bleibt sie dem Zuschauer in Erinnerung.

Auch die Mittel, mit denen die Protagonisten in Utopia Blues und Grauzone gegen die Stadt und ihre Enge beziehungsweise die einengenden Normen der Gesellschaft kämpfen, sind teilweise sehr ähnlich: Man hört so laut Musik, dass es die Nachbarn stört. Man jagt ein Haus in die Luft (Grauzone) beziehungsweise legt im Stadthaus eine «Musikbombe» (Utopia Blues). Und wenn Stefan Haupt seinen Rafi sinngemäss «Utopia, mier sind nonig tot» singen lässt, dann redet er vom ziemlich gleichen wie Fredi M. Murer, der in einem Aufsatz zu Grauzone schreibt: «Meinem Prinzip Hoffnung folgend, habe ich jedoch – wenigstens im Film – versucht, die Utopie nicht ganz zu verlieren: Eine «mysteriöse Epidemie» bricht aus; wer von ihr befallen wird, hat eine Chance zu überleben.»

In einer Art Umkehrung führen Utopia Blues und Grauzone damit über die «urbane Freiheit» hinaus, als deren Symbol Zürich in F. est un salaud (Marcel Gisler, 1998), Lüzzas Walkman (Christian Schocher, 1989), Stille Liebe (Christoph Schaub), aber auch in Jä-soo! auftaucht. In diesen Filmen funktioniert Zürich als urbaner Freiraum, in welchem Geschichten möglich werden, die «auf dem Land» beziehungsweise dem Herkunftsort der Protagonisten der grösseren sozialen Kontrolle wegen nicht möglich wären. Obwohl die Filmemacher die Stadt sehr unterschiedlich zeigen – Schochers Zürich ist eine Traumstadt, die aus losen Impressionen besteht, in Schaubs und Lindtberg/Leschs Zürich sind die Örtlichkeiten weitgehend eins zu eins übernommen und Gislers Zürich ist montiert – so verbindet sich in allen vier Fällen die Stadt geradezu symptomatisch mit dem Begriff des «Sündenpfuhls». F. est un salaud beschreibt eine ungesund masochistische Beziehung zweier junger Männer, in Jä-soo! kriecht die gute Tochter vom Land in der Stadt einem windigen Heiratsschwindler auf den Leim, die stumme Nonne aus Stille Liebe kriegt in Zürich die Ahnungen möglicher Fleischeslüste serviert (die sie, notabene, dann zum ersten Mal in Luzern erlebt!) und Lüzza klaut einen Golden Eagle, um in seiner Traumstadt Bekanntschaft mit einer Reihe von Randexistenzen zu schliessen.

Aber richten wir das Augenmerk auf Filme, welche die Auseinandersetzung mit Zürich und seinen gesellschaftlichen, sozialen und lokalen Gegebenheiten zu ihrem eigentlichen Thema machen, und begrenzen uns vorübergehend auf das Arbeiterquartier des Chreis Cheib, die ominösen Stadtkreise vier und fünf: auf Kurt Frühs Bäckerei Zürrer (1957), Samirs Filou (1988), Markus Imbodens Bingo (1990). Die drei Filme entwerfen das Porträt der Langstrasse sowie ihrer nächsten Umgebung und erzählen Geschichten, die in ihrer jeweiligen Entstehungszeit dem Ort und dem ansässigen Milieu entsprechen. Bäckerei Zürrer wirft einen Blick auf die Konflikte, die zwischen dem mit Vorurteilen belasteten Schweizer Bäcker und seiner Umgebung, etwa dem Marroni-Brater Pizzani und den Clochards entstehen. Die Clochards und die Italiener trifft man auch in Filou wieder, der – von Samir Kurt Früh gewidmet – die Geschichte vom Gelegenheitsdieb Max erzählt, der in einer Wohngemeinschaft lebt, die Nutte Lizzy als beste Freundin hat, sich in eine verwirrliche Spionage-Geschichte verwickelt und Probleme mit der Polizei kriegt. Und Bingo erzählt von zwei befreundeten Verbrechern, die eben dem Knast entkommen vom Auswandern nach Brasilien träumen, vorerst aber zwischen den Spunten, Striplokalen und Schnipo-Buden der Langstrasse hängen bleiben.

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(Bild: Lüzzas Walkman)

ANDRES JANSER Was die Figuren dieser – und mancher anderer – Stadtfilme verbindet, ist ihr auffallend dörfliches Verhalten: sie mögen von der weiten Welt träumen – bisweilen, wie am Ende von Bingo, auch tatsächlich dorthin aufbrechen –, und doch bewegen sie sich mit Vorliebe innerhalb der Grenzen ihres Quartiers, mit seinem letztlich kleinräumigen Ambiente und dem gut eingespielten sozialen Gefüge. Allein die Vielfalt der «Dorfbewohner» mag in der Stadt, gerade im Chreis Cheib, der schon in den fünfziger Jahren auch Vergnügungsviertel war, grösser sein als auf dem Land. Ein weiteres Bindeglied zwischen den Filmen ist die offenkundige Sympathie der jeweiligen Autoren für ihre Figuren.

In Bäckerei Zürrer ist das eigentliche Thema die Veränderung, welche die einzige Konstante einer jeden Stadt bildet. Nicht die bauliche Veränderung, sondern jene der Atmosphäre – in diesem Fall durch die zeittypische Zuwanderung aus Italien, deren Auswirkungen nicht allen im gleichen Mass behagt(e). Dass radikales Sich-Abschotten gegen Fremdes die falsche Reaktion wäre, ist die menschenfreundliche, zuversichtliche Aussage des Films. Auch wenn der damit verbundene glückliche Ausgang der Geschichte – Vater Zürrer zieht sich aus dem seit mehreren Generationen am gleichen Ort geführten Geschäft zurück und akzeptiert die Heirat des Sohnes Heini mit der «Seconda» Gina sowie die der Tochter mit einem Romand – etwas gar warmherzig erscheint.

Im Umfeld der Kreuzung von Militär- und Langstrasse situiert und gedreht, macht der Film die Nähe der verschiedenen Orte nachvollziehbar. Und die eingeschobenen Sequenzen auf der offenen Radrennbahn in Oerlikon, auf der Heini trainiert, verdeutlichen in ihrer ganz anderen, «modernen» Weite den Kontrast zum «eigentlich» Städtischen umso mehr. Wobei diese moderne Weite – nicht zufällig bei Früh – negativ besetzt erscheint, bedroht doch Heinis Velofieber die familiäre Gewerbetradition.

Bei allen offensichtlichen Bezügen zu Bäckerei Zürrer, die der eine Generation später entstandene filou aufweist, fallen zwei Unterschiede stark ins Auge: die politische Betrachtung städtischer Verhältnisse jenseits der Kernfamilie sowie der spielerische Umgang sowohl mit dem Medium Film als auch mit der Stadt.

Max, eigentlich Massimo und selber ein Secondo, bewegt sich durch ein Quartier, das auch zu einem Auffangbecken für Prostitution, Drogen und andere Probleme geworden ist und von Bauspekulation bedroht wird. Der Bauplan von Filou ist dabei paradoxer als bei Früh, oder auch: freier. Durch wiederholt deutlich sichtbare Strassenschilder («Lang-Str.»), Leuchtreklamen von Kneipen oder markante Bauten wird grosse Sorgfalt auf die örtliche Situierung verwendet. Agnès Varda, die Vergleichbares in Cléo de cinq à sept tat, war daran gelegen, den linearen Weg, den ihre Protagonistin im Verlauf von neunzig Minuten durch Paris zurücklegt, so fest wie möglich in der Realität der Stadt zu verankern. Samir hingegen benutzt Schriften und Fassaden, um sich anschliessend umso grössere Freiheiten herauszunehmen. So geht der Blick aus dem Fenster der Wohngemeinschaft von Max, Lizzy und Jiri vom Kreis vier über das weite Geleisefeld hinüber zum Kreis fünf. Und dabei ziemlich genau dorthin, wo die zugehörigen Aussenaufnahmen mit dem Eingang zum Haus und dem angrenzenden Tea Room gedreht wurden.

Die nicht zueinander passenden Häuser in der langen Autofahrt entlang der Langstrasse etwa und anderes mögen simple Anschlussfehler einer Low-Budget-Produktion sein. Aber auch diese werden getragen durch den Verweis auf die mediale Konstruiertheit von filmischer Wirklichkeit – über die ständig ins Bild gerückten Fernseh- und Videobilder, durch die sich sogar die Clochards im Park per Fernbedienung zappen. Die Lust am Spiel mit der Wirklichkeit liegt nicht nur der (wenig stringenten) Handlung zugrunde, sondern prägt den Film als Ganzes.

In einer ironisch lesbaren Wendung hat das Kino-Reich seit Filou zurückgeschlagen. Der filmische Versuch zur politischen Agitation gegen den damals tatsächlich bevorstehenden Abriss eines Kinos – das grosse Apollo-Cinerama am Stauffacher – fruchtete in der Wirklichkeit bekanntlich nichts. Umgekehrt ist im Erdgeschoss des für den Sitz der WG verwendeten Hauses mittlerweile ein neues Kino – das RiffRaff – eingezogen. Noch scheint nicht alles verloren!

Diese Fixierung von Zeitzuständen kann eine Funktion auch von Spielfilmen sein: als Dokumente einzelner Quartiere geben sie Einblick in deren Veränderungen. Kurz nach der Entstehung von Samirs Filou, dreht Christoph Schaub im gleichen Kreis Dreissig Jahre (1989). Auf dem an Frühs Hinter den sieben Dleisen (1959) gemahnenden «terrain vague» entlang des Schienenfeldes beim Röntgenplatz kommt bei Schaub vorübergehend eine der drei Hauptfiguren unter. Mittlerweile wurden die provisorischen Gewerbebauten ersetzt durch den markanten Bau der Sozialversicherungsanstalt und jene durchaus angenehme Wohnsiedlung, deren äussere Buntheit weiterhin zu reden gibt.

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IRENE GENHART Der Film als historisches Dokument birgt doch die Schwierigkeit, dass sich der Zuschauer im Kino mit einem Abbild der Stadt konfrontiert sieht, das er nicht mehr überprüfen kann; selbst die in einem Dokumentarfilm präsentierte Stadt ist dabei, spitzfindig formuliert, immer eine Fiktion. Je grösser der zeitliche und geographische Abstand zwischen der Entstehung eines Films und dessen Rezeption ist, desto schwieriger wird es, zwischen dem «real Vorhandenen» und dem «für den Film extra Beigefügten (oder Entfernten)» zu unterscheiden.

Tatsache aber ist, dass der Schweizer Film deutlich mehr Wirklichkeit spiegelt als Hollywoodfilme, aber auch als das Filmschaffen von Nachbarländern wie Italien oder Deutschland. Das Fehlen grosser Studios hat dazu geführt, dass man hierzulande traditionsgemäss vor Ort dreht. Es gibt meines Wissens keinen einzigen Schweizer Film, für den Zürichs Strassen und Plätze integral im Studio nachgebaut wurden. Das heisst natürlich nicht, dass Zürich als Kulisse überhaupt nicht existiert, aber es tut es bloss minim, in Ansätzen. Für die Fernsehsoap «Lüthi & Blanc» werden die Aussenaufnahmen sehr wohl an real existierenden Plätzen wie dem Idaplatz oder in Zürich-Fluntern gedreht, die Blicke vom Innern der jeweiligen Gebäude durch die Fenster aber fallen auf schön gemalte Zürich-Kulissen.

Bei Oberstadtgass von Kurt Früh (1956) wird im Titel ein Ort genannt, der in Zürich unter diesem Namen nie existierte. Und doch wurden die Aussenaufnahmen – immerhin vierzig Prozent der Handlung, wie ein zeitgenössischer Rezensent stolz bemerkte – an Originalschauplätzen in der Altstadt von Zürich gedreht.

Mit den harmlosen Geschichten um den rechtschaffenen Quartierbriefträger Jucker (Schaggi Streuli) zeigt Oberstadtgass die Stadt als Idylle. Noch poetischer und zugleich noch übersteigerter tritt Zürich in Thomas Koerfers Konzert für Alice (1986) in Erscheinung, in dem sich der russische Konzert-Flötist Ljova in die Strassenmusikerin Alice verliebt. Ljova gibt sich ihr gegenüber als Mäzen aus und organisiert im Wahn, dem in seinen Augen begabten Mädchen zu einer grossen Musikerkarriere zu verhelfen, ein Konzert in der Tonhalle, muss das Geld dafür aber im Schlachthof hart erarbeiten. Als es so weit ist, bleibt die Tonhalle leer, beziehungsweise spielt Ljova selber. Konzert für Alice, das ist das Niederdorf, das Grossmünster und die Limmat, auf der eine lichterbehangene Gondel Assoziationen an die Romantik Venedigs weckt; eine Romanze eben, die sich durch einzelne Wahrzeichen als Zürich-Film zu erkennen gibt, sich mit der Realität der Stadt aber kaum auseinandersetzt.

Der See und die Flüsse, für das reale Stadtbild und das Leben in der Stadt prägende Gewässer, treten in den Zürich-Filmen insgesamt erstaunlich marginal in Erscheinung. So ist die Limmat – in Konzert für Alice Ort übersteigerter, um nicht zu sagen surrealer Romantik – bloss in zwei weiteren Zürich-Filmen markant anzutreffen. In Café Odeon (Kurt Früh, 1958/59) stürzt sich die unglückliche Leni aus Liebeskummer in den Fluss, wird aber gerettet. In Stille Liebe springt der taubstumme Taschendieb Mikas vor den Augen seiner Geliebten und der Polizei bei der Gemüsebrücke ins kühle Nass und findet den Tod, weil er nicht schwimmen kann. Der Zürichsee tritt etwa in Stille Liebe, Filou, Utopia Blues, aber auch in Die Schweizermacher (Rolf Lyssy, 1987) meist bloss in Erscheinung, weil sich an seinem Ufer so schön schlendern – oder sitzen und nachdenken lässt.

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(Bild: Café Odeon)

ANDRES JANSER Wenn ein Studio-Zürich als Ausnahme doch einmal auftaucht, ist es meist umso deutlicher als solches erkennbar – insbesonders bei Filmen aus anderen Ländern. So etwa in der ausführlichen, wohl in Berlin gedrehten Sequenz der Nazi-Liebeskomödie Die kleine und die grosse Liebe (Josef von Baky, Ulrich Bettac, 1938), in der Jenny Jugo als Lufthansa-Stewardess bei der Zwischenlandung in Zürich einem Passagier aus besseren Kreisen (Gustav Fröhlich) aus dem Weg zu gehen versucht, deshalb Abend und Nacht alleine in der Stadt verbringt, um ihm später umso freudiger näher zu kommen.

Weil es in der Schweiz keine grossen Studios gab, ist der Film hierzulande nie von der Strasse ins Studio gezogen oder vom Studio auf die Strasse zurückgekehrt. Gerade Frühs Oberstadtgass, dessen fiktive Adresse im Titel der Handlung offensichtlich eine allgemeinere, humanistische Bedeutung geben soll, ist jedoch ein sprechendes Beispiel für das Auseinanderklaffen von veristischem Vorgehen, das sich in zahlreichen Aussenaufnahmen rund um die Peterhofstatt zeigt, und verfremdendem Inhalt. Die daraus resultierende rückwärts gewandte Idyllisierung fügt sich ein in die grosse Tradition der Beschönigung des Städtischen, die sich im Kino generell bis heute fortsetzt – denken wir nur an das irritierend märchenhafte Paris-Bild in Le fabuleux destin d’Amélie Poulain. Und doch deutet Früh in Oberstadtgass mit der vorübergehenden Flucht der Briefträgersgattin (Margrit Rainer) zu ihrer Schwester, die als selbstbewusste, unverheiratete Fabrikarbeiterin im Industriequartier lebt, an, dass ihm die zeitgenössische Welt nicht nur bekannt, sondern wohl eigentlich auch ein Anliegen wäre.

Wie mit der Langstrasse sollte es aber auch in Bezug auf die Altstadt noch eine Generation dauern, bis im Zuge der grundsätzlichen Einmischung in die «eigenen Angelegenheiten», von der Max Frisch in den sechziger Jahren sprach, die Dinge deutlicher beim Namen genannt wurden. Rund zwanzig Jahre nach Kurt Früh dreht Kurt Gloor, selber ein Altstadtbewohner, im Niederdorf seinen ersten Spielfilm Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner (1976), in dem er das Altersschicksal des Schuhmachers Steiner mit der Zumutung verbindet, die auch wenig spekulative Eingriffe in die Substanz der Stadt zeitigen können. Der betagte Protagonist fürchtet den entwurzelnden Wegzug, den die «zeitgemässe» Renovation des Hauses (an der Froschaugasse), in dem er seit Jahrzehnten Werkstatt und Wohnung hat, für ihn zur Konsequenz haben wird. Dem vom Sozialamt nahe gelegten Gang ins Altersheim kann sich der Fortschrittsverlierer schliesslich durch den Flug ins warme Exil entziehen.

In Grauzone wird der Krach der Nachbarn durch Musik notdürftig überdeckt, der Lärm der nahen Autobahn lässt sogar in der 16. Etage kaum ein vernünftiges Gespräch auf dem Balkon zu und berieselt auch den traumlosen Schlaf. Vor allem aber im Nicht-Spielfilm ist es möglich, von der reinen Sichtbarkeit der Stadt wegzukommen: von deren Klang ausgehend, eilt in diesen raren Werken die Tonspur den Bildern gewissermassen voraus. In Fredi M. Murers Experiment Vision of a Blind Man (1968) waren die Geräusche der eigentliche Ausgangspunkt: mit verbundenen Augen liess sich der Filmemacher an von Freunden zuvor ausgewählte Orte Zürichs bringen, wo er, nur seinen Ohren vertrauend, Bilder, die den wahrgenommenen Tönen möglichst entsprechen sollten, einfing und kommentierte. Bei einer grossen Zahl von Fahrrädern wird dabei ein Schulhaus oder – heute eher unwahrscheinlich – eine Fabrik vermutet. Die «ungenaue» Kadrierung, die sich zwangsläufig ergab, macht die konventionelle Art der Bildbestimmung bewusst. Sie verweist auch auf den in Filmen oft unterbeschäftigten Gehörsinn, der es uns etwa ermöglichen würde, Basel und Zürich am Klang ihrer Trams zu unterscheiden.

In Die Farbe des Klangs des Bildes der Stadt (Urs Graf, Elisabeth Wandeler-Deck, Alfred Zimmerlin, 1993) wurde zu einer bestehenden Musik-Text-Komposition die Bildspur gestaltet. Ein jugendlicher Velokurier, der zwei alten Menschen wiederholt Todesanzeigen überbringt, verhilft dem Film zu einer Andeutung von Handlung. Auf den ersten Blick ungeschnitten erscheinende Zeitrafferfahrten, in denen die Kamera die Stadt durchrast, vollziehen sich tatsächlich in fast unmerklichen Rucken. Das Resultat ist ein impressionistisches Experiment mit dem Rhythmus und also der Zeit der Stadt, wobei Sicht- und Hörbares ineinander wirken, ohne ihre Autonomie zu verlieren. Der Film vermittelt die Stadt als Ort jener sinnlichen Alltags-Wahrnehmung, die bisweilen unaufmerksam, fast immer aber mehrdeutig ist.

Vollmond

(Bild: Vollmond)

IRENE GENHART Die Stadt, das ist nicht nur ein durch Bauten strukturierter geographischer Ort, sondern vor allem ein Ort pulsierenden Lebens, ein gesellschaftlicher Raum, in den sich das Schicksal eines Filmprotagonisten einschreibt. Und das Bild der Stadt im Film ist immer auch Spiegel für den Seelenzustand des Helden. So spiegeln sich in den Zürich-Filmen parallel zu den architektonischen Veränderungen auch der technische Fortschritt und die kulturellen und sozialen Entwicklungen. Diese zeitigen seit dem Zweiten Weltkrieg zwei wichtige Tendenzen: den Zerfall der Familie und die Individualisierung der Gesellschaft sowie die Verdrängung des Handwerkers durch den Vertreter der Dienstleistungs-Gesellschaft.

Der «heilen» Familie der Nachkriegszeit stehen in den Filmen der letzten zwanzig Jahre die Geschichten von Einzelnen und/oder zerrütteten Familien gegenüber: der Rückkehr des Familienoberhauptes in Bäckerei Zürrer das Versagen des Vaters in Scheherazade (Simon Signorell, 2001); der Heimholung der Tochter und damit der Rettung der Familie in Jä-soo! der endgültige Bruch zwischen Mutter und Sohn in Utopia Blues. Die von Emil Hegetschweiler verkörperten Bäcker, Kellner und Matratzenhersteller wurden von den Medienvertretern in Vollmond (Fredi M. Murer, 1998) und Exklusiv (Florian Froschmayer, 1999) abgelöst.

Und doch ist augenfällig, dass sich einzelne Berufsgattungen – vermutlich weil sie sich für die Verankerung einer Stadt-Geschichte besonders gut eignen – über Jahrzehnte zu halten vermögen. So trifft man den Postboten, der Die Farbe des Klangs des Bildes der Stadt die Spuren einer Narration verpasst und dem abgehobenen Experimentalfilm etwas Bodenhaftung vermittelt, 1998 wieder, diesmal in weiblicher Form, in Anka Schmids Little Sister, einer Episode aus Blind Date. Und die beiden sind letztendlich nichts anderes als die jüngsten Nachkommen des Briefträgers aus der Oberstadtgass.

Ideal sind auch Barmaids, Kellner und in verwandten Berufen Tätige: Die Kneipe als öffentlich zugänglicher Raum, in dem sich vor den Ohren der Bedienung höchst Privates abwickelt – das funktionierte in Café Odeon wie in Bäckerei Zürrer, es funktioniert in Bingo, Jä-soo!, Joy Ride (Martin Rengel, 2000) und Stille Liebe. Eine ähnliche Funktion haben auch die Polizisten und Beamten inne, die Hüter der Ordnung, die im Zürich-Film, abgesehen von Die Schweizermacher und Vollmond, zwar eher selten als Hauptfiguren, aber doch immer wieder als Zeugen des Geschehens auftreten.

Gegenspieler dieser Figuren, die der Verankerung der Filmhandlung in Normalität und Alltag vor Ort dienen, sind seit jeher unstete Figuren wie Künstler und Musiker. Und jüngst nun eben auch die der Mobilität verpflichteten Reisenden, wie man sie in Restlessness und Reisender Krieger kennen lernt. Menschen, die das Leben in einer Stadt wie Zürich gegen das Zu-Hause-Sein in der Grossstadt Schweiz eingetauscht haben.

Gedankenaustausch per Mail

(Titelbild: Bingo; letztes Bild: Züri brännt)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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