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Solothurn

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Was mit der vierzigsten Auflage so selbstverständlich daherkommen mag, ist keineswegs so selbstverständlich, wie es heute scheint. Jahrelang haben ausländische Kolleginnen und Kollegen, denen man beruflich begegnete, die Filmschaffenden in der Schweiz um die «Werkschau des Schweizer Films» beneidet.

Text: Walt R. Vian / 01. Dez. 2004

Ab dem 24. Januar dürfte Solothurn, einmal mehr weiss-gelb-schwarz beflaggt und mit Hinweistafeln ausgeschildert, bereit sein, illustre Gäste aus nah und fern zu empfangen. Prominenz aus Politik, Kultur und lokaler Wirtschaft wird sich auch an der vierzigsten Ausgabe der Solothurner Filmtage ein Stelldichein geben, und die Medien werden darüber berichten. Neben dem «Forum Schweiz» stehen eine Retrospektive, ein Gastland und einige Podiumsdiskussionen im Programm.

Das Programm war schon in den Anfängen der Filmtage nicht viel anders, auch wenn von den geladenen Gästen wie René Allio, Jean-Marie Straub oder Edgar Reitz jeweils nur ein einziger Film gezeigt wurde, und die Retrospektive der ersten Ausgabe als einzigen Film Hans Trommers Romeo und Julia auf dem Dorfe von 1941 umfasste.

Das eigentliche Zentrum der frühen Filmtage war das Kino Scala. Es lag ausserhalb des Stadtkerns, schon eher am Rande der Stadt, an der Ausfallstrasse Richtung Biel. Die erste Beiz vom Scala Richtung Stadt soll «Gärtli» geheissen haben, und der Stammtisch verstummte, wenn die ersten Fremden zum Pausenkaffee anrückten, und freute sich kaum, mit «Leuten vom Film» in Kontakt zu kommen, die vorübergehend ihre Quartierbeiz in Beschlag nahmen. Auch ein aussenstehender Beobachter hätte die Einheimischen leicht von den Eindringlingen in die Kleinstadt zu unterscheiden gewusst.

Was mit der vierzigsten Auflage so selbstverständlich daherkommen mag, ist keineswegs so selbstverständlich, wie es heute scheint. Jahrelang haben ausländische Kolleginnen und Kollegen, denen man beruflich begegnete, die Filmschaffenden in der Schweiz um die «Werkschau des Schweizer Films» beneidet. Ein Blick nach Österreich, wo jahrelang mit wechselndem Erfolg in den verschiedensten Gegenden selten länger anhaltende Versuche unternommen wurden, «Österreichische Filmtage» zu etablieren, genügt um nachzuvollziehen, dass es nie eine Selbstverständlichkeit gewesen sein kann.

Erinnerungen. Manche sind beim Stichwort «Filmtage» einfach da. Weitere stellen sich ein, wenn man länger darüber sinniert, bewusst und angestrengt sich zu erinnern versucht. Einige sind wiederum anderweitig verknüpft – und verzweigen sich weiter fort. Manche stellen sich erst beim Blättern in alten Programmen, beim Betrachten von Fotos wieder ein. Ein bestimmtes Bild von einem Spielautomaten etwa – und die Erinnerung an Monarch, der bei seiner Erstaufführung überraschte, ist wieder präsent. Obwohl Geschichte der Nacht im Kino Elite aufgeführt wurde, lässt sich die Erinnerung an einen Schwarzweiss-Film von Klopfenstein im Landhaus, an dem sich die Geister schieden, nicht ausräumen. Woher stammt in der Erinnerung diese Verknüpfung mit dem Landhaussaal? Moment. Da war doch vor den farbigen Klopfenstein-Filmen mit Rüedlinger und Co. noch ein Klassiker mit den verwischten Aufnahmen von langen Bahnfahrten. Transes wurde tatsächlich im Landhaus gezeigt.

Geschichte der nacht

(Bild: Geschichte der Nacht)

Die Erinnerung kennt keine Gerechtigkeit, folgt eher einem kaum durchschaubaren Zufallsprinzip, beisst sich plötzlich irgendwo fest und wird nur bedingt durch die Bedeutsamkeit der Ereignisse bestimmt. Die eigene Biografie spielt mit, ob man das nun explizit erwähnt oder nicht. Die Seherfahrung im Fall von Beschäftigung mit Filmen auch. Was für die einen noch eine neue tiefgreifende Erfahrung sein kann, ist für andere schon Wiederholung, die kaum mehr beeindruckt.

Die ersten Filmtage mussten ohne mich auskommen. Ich glaube, ich wusste noch nicht einmal, dass sie stattfanden. Allerdings nahm ich im Februar 1966 an einem Filmweekend teil, an dem Siamo italiani gezeigt und mit Alexander Seiler ausführlich diskutiert wurde. Die Verbindungen und Übergänge zwischen Schweizer Filmschaffen und Solothurner Filmtagen waren, sind und bleiben wohl fliessend – manchmal zufällig. Ob man Le millieu du monde nun an einer Pressevorführung, auf einem Festival, im Kino oder an den Solothurner Filmtagen gesehen hat, muss ja aber auch keine so grosse Rolle spielen.

Meine ersten: ich weiss noch, ich kam mit der Bahn aus Budapest. Im Hauptbahnhof Zürich wartete ein Kollege, der meinen Aufenthalt in Solothurn organisiert hatte, und übergab mir Programm und Pressemappe. In Solothurn erwischte ich dann gegen Mitternacht den falschen Ausgang Richtung Zuchwil, und da stand ich nun, nachdem ich den Eisernen Vorhang problemlos passiert hatte, einigermassen hilflos in der nächtlichen Kälte – gewissermassen als Mann, der aus der Kälte in die Kälte kam. Das Gefühl sagt mir, dass ich im Hotel Krone wieder an die Wärme kam: aber wie konnte ich mir das leisten? Ein wieder gefundenes Blatt der Tourismusinformation klärt das: ein Zimmer mit Frühstück in der Krone kostete damals zwischen 20 und 30 Franken.

Die «Kulturgarage», wo heute die Solothurner Filmtage organisiert und verwaltet werden, liegt nicht weit von der Strassengabelung entfernt, in der die Filme der frühen Solothurner Filmtage im Kino Scala projiziert wurden. Die erste Strasse nach der Kulturgarage – der man die einstige Tankstelle noch immer ansieht – links führt direkt der Klostermauer entlang, und ein paar Strassenwinkel weiter steht man da, wo früher das Scala stand, das inzwischen einem Neubau gewichen ist.

Wer die richtigen Verbindungen hatte, konnte im Kapuziner-Kloster logieren. Wenn man vor der Abreise fragte, was es kostet, hiess es: «Werfen Sie den Betrag, der Ihnen möglich ist, in den Opferstock.» Das Kloster war auch strategisch die am günstigsten gelegene Übernachtungsmöglichkeit. Wer nichts verpassen wollte, musste relativ früh aufstehen und legte sich oft erst zum Schlaf, wenn das Glöcklein im Kloster zum ersten Morgengebet rief. Da bedeutete Wegersparnis längere Schlafenszeit. Zeitläufe und Ansichten waren aber – wen wundert’s – schon damals verschieden. Der Bruder Pförtner, der noch ein Schwätzchen mit dem Bruder Gärtner machte, konnte den gehetzten jungen Filmkritiker, der es hasste, allein die Anfänge von Filmen, geschweige denn einen ganzen Film zu verpassen, durchaus an den Rand der Verzweiflung führen.

Le milieu du monde

(Bild: Le milieu du monde)

In war in. «Sit Ins» waren grosse Mode. Luzern hatte seit 69 sein «Film In». Die Berlinale war 1970, nach dem Vorbild von Cannes 68, «gestürmt» und deshalb abgebrochen worden. Die Jugend der Zeit wollte Transparenz, Öffentlichkeit und Zugang für alle zu allem. Auch Jury-Sitzungen sollten öffentlich abgehalten werden – und so wurde die «Séléction für Oberhausen» in Solothurn eine Zeitlang öffentlich diskutiert und per Abstimmung im Saal entschieden. Die «Kurzfilmtage Oberhausen» waren durchaus das Ziel der Filmschaffenden in der Schweiz. Ein breiterer Drang zum Spielfilm und zu den «richtigen» und grösseren Filmfestivals setzte erst später ein – auch wenn Jean-Louis Roy 1970 mit Blackout im Wettbewerb der Berlinale vertreten war.

Eine Tube Parfait hat uns ständig begleitet. Während ich eilends in den Roten Turm stürmte, um einen günstigen Sitzplatz für die nächste Filmdiskussion zu ergattern, ging mein Kollege noch schnell in die nächste Bäckerei, um frisches Brot zu besorgen. Bis der Saal im Roten Turm zum Bersten voll war und die Diskussion eröffnet wurde, blieb so ausreichend Zeit zur Verpflegung. Die Schlüsselfrage für jeden diskutierten Film lautete immer, egal wer sie zuerst stellte: «Für welche Zielgruppe ist der Film gedacht, und was hat er gekostet?»

Wir konnten uns wenig leisten und wollten absolut nix verpassen. Aber es war noch möglich, alles Gezeigte zu sehen und alle öffentlichen Diskussionen in voller Länge zu verfolgen. Die Filmkritiker hatten Zeit, sich eine Übersicht zu verschaffen und nachzudenken, bevor sie schreiben mussten. Die grossen Tageszeitungen brachten ihre Berichterstattung erst am Wochenende nach Beendigung der Filmtage. Die Filmseiten der «Neuen Zürcher Zeitung», des Zürcher «Tages-Anzeigers» und der «Tat» waren das Minimum, das gelesen sein wollte. Und da alle die selben Filme gesehen hatten und über das Gleiche nicht das Gleiche dachten und schrieben, lohnte sich ein Vergleich der Berichte auch für das eigene Nachdenken über die Filme, das Programm und die Entwicklung des Schweizer Films. Mit der Zeit hat sich, als Folge der Zeit, auch in den Medien statt des opulenten Mahls das kalte Buffet mit den leichtverdaulichen Häppchen durchgesetzt, von dem beliebig oft genascht werden kann, ohne satt zu werden. Vorteil: Es wird auch niemand dick.

Der Vermerk im Programm «Abschluss der Kopierarbeiten vorbehalten» hatte seine Berechtigung: Filme auf Solothurn hin fertigzustellen war – in der Zeit, da das Gerücht die Runde machte, jede mietbare Kugelkopfschreibmaschine in der Schweiz sei an Filmemacher ausgeliehen, die auf diesen Hightech-Geräten Förderungsgesuche ins Reine tippten – durchaus ein Ziel. Einmal wurde das Publikum im voll besetzten Saal aufgefordert, sich noch zu gedulden. Daniel Schmid sei mit der eben erst im Labor fertiggestellten Kopie aus München unterwegs. Ich glaube, es handelte sich um Schatten der Engel, und Rainer Werner Fassbinder und Ingrid Caven trafen dann zusammen mit Daniel Schmid und der versprochenen Kopie in Solothurn ein.

Hoehenfeuer

(Bild: Höhenfeuer)

Die Erwartungen des Publikums stiegen von Jahr zu Jahr. Yves Yersin hatte sich spätestens mit Die letzten Heimposamenter einen Namen gemacht. Nun stand sein erster Spielfilm als Welturaufführung im Programm. Les petites fugues nahm das Publikum sofort gefangen. Gespannter Aufmerksamkeit folgten befreiende Lacher. Aber als Pipe das Töfflifahren erlikt, im Rausch der Freiheit den Boden der Realität verlässt und abhebt – hob das ganze Publikum im gerammelt vollen Saal des Kino Scala gemeinsam mit ihm ab. Höhenfeuer von Fredi Murer hatte später im Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno seine Premiere – aber die Atmosphäre in der vollbesetzten grossen Morettina erweckte für manch einen noch einmal das richtige Scala-Solothurn-Gefühl zum Leben.

Was zunächst zwei oder drei Tage dauerte, wurde, obwohl nur noch die Werkschau auf dem Programm stand, nach und nach um einen weiteren Tag verlängert. Ab 1972 wurden ab Freitag leicht zeitverschobene Wiederholungen im Kino Elite eingeführt, aber ab den zwölften Filmtagen gab es bereits wieder Filme im Programm, die nur noch einmal gezeigt wurden. Das Landhaus schliesslich bot wesentlich mehr Plätze als das Scala und der Konzertsaal wiederum mehr als das Kino Elite, das dichtgemacht hatte. Aber nicht nur die Zuschauerzahlen, auch die Zahl der eingereichten Filme stieg und stieg. Der Werkschau des Schweizer Films wurde eine Auswahlkommission vorgelagert. Nach erheblichen Protesten konnten die abgewiesenen Filme im «salon des refusés» gezeigt werden – bis dieser mangels Nachfrage wieder aufgehoben wurde.

Im Kreuz oder im Löwen etwa zogen die interessierten Zuschauer längst über die Filme her, während die professionelle Filmkritik noch nachsichtig die Filme verteidigte. Trotz des schlechten Rufs, den der Schweizer Film inzwischen hatte, kamen paradoxerweise dennoch jedes Jahr mehr und noch mehr Leute an die Solothurner Filmtage. In den bewegten achtziger Jahren neigte ich bereits eher zum interessierten Beobachter – die Demonstrationen, die mich am stärksten beeindruckten, hatte ich im «Prager Frühling» und vor dem Springer-Hochhaus in Berlin erlebt.

Dass nun eine jüngere Generation von Filmschaffenden gewissermassen an die Fördertöpfe drängte, dafür hatte ich Verständnis. Nachwuchsförderung ist ja gut, aber was macht jemand, der nicht mehr zum Nachwuchs zählt und noch nicht pensionsberechtigt ist?
Die Preisvergabe an einen, der nur über Filme nachdenkt, fand ich einigermassen mutig. Obwohl es heisst, dass Filme erst im Kopf von Zuschauern entstehen, reisst die Kette der Filmherstellung gemeinhin meist da ab, wo die Filme auf der Leinwand gelandet sind. Kino lesen mit dem filmischen Sprachschatz eines Zwölfjährigen kann ja nicht alles gewesen sein. Dazu beizutragen, diesen Sprachschatz zu pflegen, allenfalls gar zu erweitern, kann nur gut sein für die Filmkultur. Neben Pio Corradi auf der Bühne zu stehen, der an der Preisverleihung sagt: «Geld kann man immer brauchen» – das war dann noch einmal eine neue Solothurn-Erfahrung.

Wo wäre der Schweizer Filme ohne die Solothurner Filmtage? Branchen-Verbände wurden in Solothurn gegründet oder wiederbelebt; die Filmförderung war bei den ersten Filmtagen bereits ein zentrales Thema – wahrscheinlich wird dies auch so bleiben.

(Letztes Bild: Das Boot ist voll)

Das boot ist voll

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 9/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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