Filmbulletin Print Logo
Han bamk

«Filmemachen ist kein demokratischer Vorgang»

Die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn sind fliessend. Wer definiert die Norm? Gerade in diesem Film stellt man sich die Frage, was ist normal. Aber wenn es eine Wahrheit gibt, liegt sie sicher nicht in der Norm.

Text: Herbert Spaich / 01. Mär. 2004

FILMBULLETIN Der Titel Ihres Films ist ein Zitat Adolf Wölflis, eines Künstlers, auf den gerne in den Feuilletons verwiesen wird, wenn es darum geht, die Affinität von Genie und Wahnsinn zu belegen. Wie sehen Sie das?

ALFREDO KNUCHEL Die Grenzen sind fliessend. Wer definiert die Norm? Gerade in diesem Film stellt man sich die Frage, was ist normal. Aber wenn es eine Wahrheit gibt, liegt sie sicher nicht in der Norm. Die Protagonisten meines Films haben alle eine lange Krankengeschichte hinter sich. Sie sind zwar immer auf ärztliche Behandlung angewiesen, haben aber auch immer lange Phasen, in denen sie ohne diese Unterstützung auskommen können. Für sie ist die Norm die Gewissheit, dass ihre Krankheit jederzeit wieder in ein akutes Stadium treten kann.

FILMBULLETIN Gehört dabei der künstlerische Ausdruck zum Wesen der Krankheit, ist er eine Möglichkeit der Therapie oder ein originärer künstlerischer Ausdruck, der von der Krankheit unabhängig ist?

ALFREDO KNUCHEL Sie haben sicher gemerkt, dass in diesem Film nicht theoretisiert wird: erstens nicht über Psychiatrie – man hört praktisch keine Diagnosen, man sieht keine Ärzte. Das war a priori so festgelegt. Zweitens: ich zeige nur Leute, die einen eigenständigen künstlerischen Willen haben – die also nicht wegen, sondern trotz Ergotherapie über einen längeren Zeitraum hinweg etwas machen, das als Kunst erkennbar ist. Wir erleben in diesem Film Menschen mit einer klaren künstlerischen Identität. Ihre Arbeiten lassen sich künstlerisch

unterschiedlich bewerten. Das geht von der klassischen Art Brut bis zu einem Maler, der akademisch vorgebildet ist. Sie verbindet eine lange Krankengeschichte und einen klaren künstlerischen Ausdruckswillen, der sich immer wieder manifestiert.

FILMBULLETIN Es geht in Ihrem Film nicht um krank oder gesund, sondern um künstlerisches Selbstverständnis.

ALFREDO KNUCHEL Zu meinen grundsätzlichen Entscheidungen bei diesem Film gehörte, die Künstler bei der Arbeit zu zeigen, sie über ihre Arbeit reflektieren zu lassen. Daraus ergeben sich Einblicke in das Grundsätzliche eines künstlerischen Ausdruckswillens überhaupt – wie er sich eine Bahn schafft.

FILMBULLETIN Wie hat sich das auf die Dreharbeiten ausgewirkt – immerhin hatten Sie es mit psychisch Kranken zu tun?

ALFREDO KNUCHEL Dabei musste ich natürlich sehr vorsichtig sein. Es wäre zum Beispiel unmöglich gewesen, einen der Kranken über ein halbes Jahr lang zu filmen, um ihm dann zu sagen, du kommst im Film nicht vor. Deshalb musste ich mir die Protagonisten sehr genau ansehen.

Han steiger

FILMBULLETIN Wie sind Sie bei diesen heiklen Recherchen konkret vorgegangen?

ALFREDO KNUCHEL Der Ausgangspunkt für meine Arbeit war das Psychiatrische Museum in der Waldau in Bern. Darüber ist nämlich noch nie ein Film gemacht worden. In diesem Zusammenhang habe ich Menschen kennen gelernt, die mich dann mehr interessiert haben als das Museum. Deshalb erweiterte ich den Plan zum Film über Waldau-Künstler der Vergangenheit – wie Wölfli – um Künstler, die heute in der Waldau leben. Im Laufe der Arbeit an diesem Projekt hat sich der Schwerpunkt mehr und mehr auf die Lebenden verlagert, weil man von und mit ihnen besser erzählen kann. Bevor ich mit der Kamera in die Waldau gegangen bin, hatte ich mit den Leuten bereits über ein halbes Jahr Kontakt, und die Dreharbeiten haben sich über ein Jahr hingezogen. Die Befindlichkeit dieser Menschen ist sehr unterschiedlich, mal geht es, mal geht es eben weniger. Darauf musste ich Rücksicht nehmen.

FILMBULLETIN Wie hat die Klinik auf Ihr Projekt reagiert?

ALFREDO KNUCHEL Die Klinik hat mir grünes Licht gegeben – natürlich mit Auflagen. Es durfte selbstverständlich niemand gegen seinen Willen gefilmt werden. Bestimmte Abteilungen waren für uns tabu. Das waren die Abteilungen mit den Schwerkranken. Sie haben mich in diesem Zusammenhang auch nicht interessiert.

FILMBULLETIN Wie haben Ihre Protagonisten auf die Kamera und Ihr Team reagiert?

ALFREDO KNUCHEL Wir haben nie geprobt, wir haben immer das aufgenommen, was möglich war. Mit unterschiedlichen Ergebnissen. Es konnte sein, dass von einem kompletten Drehtag nichts zu verwenden war. Man kann einen solchen Film gar nicht anders machen. Wir haben spontan auf die jeweilige Situation reagiert. Wenn Jonas – der die Collagen macht – nicht wollte, war eben nichts zu machen. Andererseits ist die Sequenz, in der ein grosses Wandgemälde entsteht, in einem Zug gedreht worden.

FILMBULLETIN Bei einem solchen Projekt besteht ja immer die Gefahr des Voyeuristischen.

ALFREDO KNUCHEL Darauf weiss ich nur eine Antwort: um dies zu verhindern, muss eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen allen Beteiligten hergestellt werden. Das braucht Zeit und eine freundschaftliche Distanz. Vor allem aber darf man sich nichts vormachen. Die Absichten müssen auch für den Anderen transparent sein: ich will einen Film machen und du kommst in diesem Film vor. Ich bin Filmemacher und kein Psychiater oder Sozialarbeiter. Auf dieser Ebene kann man sich verständigen. Sobald man aber falsche Hoffnungen weckt, falsche Freundschaften schliesst, dann funktioniert es nicht.

FILMBULLETIN Wie weit kann und darf der Filmemacher also gehen? Wo sind die Grenzen der Kooperation? Immerhin geben die Menschen in Ihrem Film doch eine Menge von sich preis.

ALFREDO KNUCHEL Der Filmemacher muss sich seine Freiheit immer bewahren und wissen, wie weit er gehen kann, wo die Grenzen sind. Filmemachen ist kein demokratischer Vorgang. Es ist ein Vorgang, bei dem ständig Entscheidungen getroffen werden müssen. Und die sind vom Filmemacher allein und unabhängig zu treffen. Ihm obliegt natürlich auch die Verantwortung darüber, wie er mit dem ihm anvertrauten Material umgeht.

FILMBULLETIN Welchen Kontakt haben Sie jetzt, nachdem Ihr Film fertig ist, noch zu den Protagonisten?

ALFREDO KNUCHEL Ich bewahre die Kontakte. Das war bei allen meinen Filmen so, in denen ich ja immer Leute portraitiert habe, die nicht unbedingt im Scheinwerferlicht stehen. Das heisst natürlich nicht, dass wir jede Woche miteinander telefonieren, aber wenn sie irgendein Problem haben, rufen sie an. Doch auch dabei ist das Verhältnis zwischen uns immer klar: ich bin der Filmemacher und er ist die Person, die ich portraitiert habe.

Das Gespräch mit Alfredo Knuchel führte Herbert Spaich

Knuchel

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Interview

01. Mär. 2015

"Es ist eine Fortsetzung meiner Arbeit an der Befreiung des Kaders"

"Ich war überrascht, dass nach der Premiere am Zurich Film Festival meine engsten Freunde gesagt haben, sie hätten mich nie so gesehen. Dass ihnen mein Bezug zu einer anderen Kultur nicht bewusst war, hat mich am meisten erstaunt." Samir über seinen Film Iraqi Odyssey im Gespräch mit Tereza Fischer.