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Snow white 05

Filmen aus der Kitsch-Ecke

Geprägt durch meine politische Radikalität und meine politischen Aktivitäten in den siebziger Jahren, habe ich mich gefragt, was ist, wenn wir die klassenlose, kommunistische Gesellschaft erreicht haben? Wenn alles da ist und wir im materiellen Überfluss leben. Zu meiner eigenen Verblüffung musste ich feststellen, dass zum Beispiel die Menschen an der «Goldküste» in Zürich alles haben und Gleiche unter Gleichen sind – hier ist eine Art Kommunismus Wirklichkeit geworden.

Text: Herbert Spaich / 01. Sep. 2005

FILMBULLETIN Sind Sie in Snow White einer «verlorenen Generation» auf der Spur, die von den Eltern und der Gesellschaft verlassen, in ihr Verderben läuft?

SAMIR Das ist sicher ein Aspekt meines Films. Dabei spielt der Club-Besitzer Boris eine wichtige Rolle. Er gehört – wie ich – zur Generation der 68er, die damals auf der Strasse «Illegal, legal, scheissegal!» skandiert haben. Anschliessend haben sie damit ein gutes Geschäft gemacht. Mit ihrem Grundwissen darüber, wie Politik funktioniert, haben sich die Boris’ aus der Gesellschaft zurückgezogen und sind Unternehmer geworden. Dabei verstehen sie sich immer noch als Rebellen, die nicht so spiessig sein wollen wie der Rest der Gesellschaft. Zusammen mit unserer Väter-Generation haben wir gegenüber der heute jungen Generation versagt, in dem wir ihnen keine «Schulung» mitgegeben haben, wie man sich in der Gesellschaft als Bürger und Teilnehmer der politischen Landschaft bewegt. Das hat dazu geführt, dass diese junge Generation unpolitisch ist und Dinge macht, auf die wir nicht einmal im Traum gekommen wären – in Bezug auf Sex, Drogen und den Zynismus der Warengesellschaft.

FILMBULLETIN Psychologen raten, «Grenzen» zu setzen. Geht es in Ihrem Film auch darum, dass Ihre Protagonisten keine Grenzen kennen beziehungsweise Grenzen erst dann erkennen, wenn es bereits zu spät ist?

SAMIR Grenzen zu setzen ist auch ein wichtiger Aspekt in meinem Verständnis dafür geworden, wie die Gesellschaft funktioniert. Meine Generation erlebte ja noch die alte Gleichung, die da hiess «Jugendkultur ist Rebellion». Die Dreifaltigkeit Sexualität, Drogen und Popmusik verkündeten per se die Rebellion, weil die Gesellschaft versuchte, uns permanent Grenzen aufzuzwingen und uns unter Druck zu setzen. Im Nachhinein betrachtet hatte das auch seine guten Seiten. Wir waren gezwungen, uns damit auseinanderzusetzen. Die jungen Leute von heute müssen das nicht mehr in dem Masse tun. Alles, wofür wir gekämpft haben – die freie Sexualität, den selbstbewussten Umgang mit Drogen, den Einzug der Popmusik in die Medien –, das ist ja jetzt alles nur noch ein Riesengeschäft. Diese Erkenntnis war für mich ein Grund, diesen Film zu machen.

Snow white 01 gross

FILMBULLETIN Im Prinzip sind die Jugendlichen in Ihrem Film ziemlich clever. Warum merken sie nicht, dass etwas schief läuft in ihrem Leben?

SAMIR Es fehlt in einer Welt des «anything goes» das Moment der Selbstreflexion. Es kommt darauf an, genügend egoistisch zu sein. Dann wird alles gut. In meinem Film kommt der Moment, in dem die Hauptdarstellerin merkt, dass etwas nicht stimmt. Sie versucht, sich davon zu lösen. Aber sie hat kein Instrumentarium, um damit umzugehen. Ich meine im tatsächlichen reflektierenden Sinn. Insofern ist mein Film eine Anklage, ein Spiegel des Versagens meiner eigenen Generation. Wir haben versäumt, unseren Kindern konkrete Handlungsanweisungen in Sachen Selbstreflexion und analytischer Wahrnehmung der Realitäten zu geben.

FILMBULLETIN Der Titel Snow White hat einen doppelten Sinn: Es wird so reichlich wie schon lange nicht mehr in einem Film «Schnee», das heisst Kokain, konsumiert. Gleichzeitig spielen Sie mit Motiven des Märchens vom «Schneewittchen» und der Kolportage …

SAMIR Geprägt durch meine politische Radikalität und meine politischen Aktivitäten in den siebziger Jahren, habe ich mich gefragt, was ist, wenn wir die klassenlose, kommunistische Gesellschaft erreicht haben? Wenn alles da ist und wir im materiellen Überfluss leben. Zu meiner eigenen Verblüffung musste ich feststellen, dass zum Beispiel die Menschen an der «Goldküste» in Zürich alles haben und Gleiche unter Gleichen sind – hier ist eine Art Kommunismus Wirklichkeit geworden. Dabei sind das die traurigsten Menschen, die ich kennen gelernt habe. Sie führen eine Art «Schneewittchen»-Existenz in einem luxuriösen gläsernen Sarg. Dazu kommt, dass ich in meiner Kindheit im Irak durch jede Menge Bollywood-Filme sozialisiert wurde. Das hat zu einer Kitsch-Ecke in meiner Persönlichkeit geführt. Das muss ab und zu raus, und das äussert sich dann in einem Melodram wie Snow White.

FILMBULLETIN Sie haben also keine Berührungsängste, was Kitsch betrifft. Trifft das auch auf Klischees zu wie die Erkenntnis, dass Geld allein nicht glücklich macht?

SAMIR Ich bin der Überzeugung, dass jeder Film den Charakter seines Machers widerspiegelt. Wer meinen Film aufmerksam liest, entdeckt alle meine Abgründe, meine Emotionalitäten. Aber auch meine Reflexionen über die Dinge, die mich in dieser Gesellschaft beschäftigten.

Das Gespräch mit Samir führte Herbert Spaich

Snow white 07 sw

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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