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Johle und werche

Ein Land der Bergler, Bauern und Künstler

Der Schweizer Dokumentarfilm, der unter der kulturpolitischen Devise von «Popularité et Qualité» etwas aus dem Blickfeld geraten ist, präsentiert sich an den diesjährigen Solothurner Filmtagen in reichhaltiger Form.

Text: Nicole Hess / 01. Jan. 2007

Der Schweizer Dokumentarfilm, der unter der kulturpolitischen Devise von «Popularité et Qualité» etwas aus dem Blickfeld geraten ist, präsentiert sich an den diesjährigen Solothurner Filmtagen in reichhaltiger Form. So feiern an der Werkschau des Schweizer Films nicht nur lange gereifte und erwartete Filme wie Karl Saurers Rajas Reise über das Schicksal eines indischen Elefanten oder Andres Brütschs Elisabeth Kopp – Eine Winterreise über die gestrauchelte Bundesrätin Premiere. Die zweiundvierzigsten Filmtage versammeln auch eine ganze Reihe dokumentarischer Werke, in denen sich das traditionelle Schweizer Filmtemperament mit seiner Vorliebe für die teilnehmende Beobachtung, die gestalterische Sorgfalt und Präzision in überzeugender Weise entfalten kann.

Überblickt man das grosse Angebot an Dokumentarfilmpremieren, so stechen einige thematische Schwerpunkte ins Auge: In Solothurn gelangen dieses Jahr auffällig viele Künstlerporträts von ausgewiesenen Schweizer Dokumentaristen zur Uraufführung. Während Friedrich Kappeler etwa seine um neues Material erweiterte Gerhard Meier-Hommage präsentiert, legt Urs Graf mit Jürg Frey – Unhörbare Zeit ein weiteres Komponistenporträt (nach Urs Peter Schneider: 36 Existenzen, 2006) vor. Und während Iwan Schumacher in Markus Raetz den Zeichner und Konstrukteur begleitet, nähern sich Laurin Merz und Matthias Kälin in Josephsohn Bildhauer dem renommierten Plastiker.

Gerhard meier 01

(Bild: Gerhard Meier)

Zahlreiche Filmschaffende rücken zudem öffentliche Figuren ins Zentrum ihres filmischen Interesses; neben Elisabeth Kopp ist dies etwa der Zürcher Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber (Bhüett di Gott von Marcel Zwingli). Schliesslich finden Regisseurinnen und Regisseure im In- und Ausland starke Frauenfiguren vor – Pionierinnen der Wissenschaft, Bäuerinnen und Strassenfegerinnen –, die sie zum Mittelpunkt ihrer Beiträge in der Tradition der Oral History machen. Zu nennen sind etwa Damien Dorsaz mit Maria Reiche – La dame de Nasca, Martina Rieder und Karoline Arn mit Müetis Kapital oder Corinne Kuenzli mit Sweeping Addis.

Formal gesehen sind die 42. Solothurner Filmtage – das lässt sich ohne falsche Scheu behaupten – ein Jahrgang des Porträts. In handwerklich solider, filmisch aber weitgehend konventioneller Form verknüpfen die Regisseure Found-Footage-Material und Interviewsequenzen, oft von einem Kommentar im Off begleitet, zu stimmungsvollen Nahaufnahmen einer Person und ihres Lebens. Was in der Ausbeute dies- und jenseits des Röstigrabens hingegen fast gänzlich fehlt, sind die gross angelegten filmischen Recherchen. Einzig Pierre-André Thiébaud legt mit Voler est un art eine ausgewiesene Enquête über die vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen des legendären Genfer UBS-Bankenraubs vor.

Die dokumentarische Würdigung künstlerischer oder politisch-öffentlicher Figuren ist für den Schweizer Film kein Novum, sondern vielmehr Teil der einheimischen Filmtradition. Ihr gehäuftes Auftreten, gerade jetzt und in der tendenziell ungebrochenen Feier positiver Vorbilder, lässt sich jedoch auch als Ausdruck produktionstechnischer und gesellschaftlicher Realitäten lesen. So kommt das Porträt den Anforderungen der Fernsehproduktion entgegen, die den Schweizer Film in den letzten Jahren sowohl materiell als auch ideell stark unterstützt und geprägt hat. Es ist aber auch die filmische Form, die sich nicht zwingend mit den Komplexitäten und Widersprüchen des Lebens auseinanderzusetzen braucht. Daher entspricht sie einem Bedürfnis nach klaren Verhältnissen und verlässlichen Werten, nach Überschaubarkeit und Harmonie, das wir aus andern Lebensbereichen – Stichwort populistische Strömungen in der Politik und den Medien – kennen.

Voler indices

(Bild: Voler est un art)

Die Tendenz zur Fokussierung auf aussergewöhnliche Figuren, der immer eine gewisse Engführung und Ausschliesslichkeit eigen ist, paart sich mit einer andern Entwicklung im Schweizer Dokumentarfilm, die sich seit ein paar Jahren beispielhaft in den Musikfilmen von Stefan Schwietert manifestiert: Es ist die Hinwendung zur Tradi-tion, die Besinnung auf das Herkommen, die Überprüfung der Wurzeln, sei es musikalisch oder filmisch. (In der Fiktion, aber das ist ein anderes Kapitel, zeigt sich dieser Hang parallel dazu im enormen Erfolg aktueller Heimatfilme wie Die Herbstzeitlosen.)

Die Schweiz, die sich aufgrund dieser Beobachtungen dieses Jahr an den Solothurner Filmtagen präsentiert, ist ein Land der Bergler, Bauern und Künstler. Und möglicherweise ist es kein Zufall, dass der überraschendste Dokumentarfilm Johle und werche von Thomas Lüchinger sich den Naturklangtraditionen der (Vor-)Alpen zuwendet. Im Gegensatz zu all den Dokumentationen, die ein rurales Lebensverständnis transportieren, ist der Stadtfilm hingegen so gut wie inexistent.

Der Befund lässt sich als Reaktion auf die politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten interpretieren. Als Antwort auf eine als konfliktuös und unsicher erlebte Gegenwart findet künstlerisch ein Rückzug statt: Vom Grossen ins Kleine, aus der Öffentlichkeit ins Private, vom Neuen und Unbekannten ins Vertraute. Es sind die Zeichen eines Übergangs, sagen die einen. Andere sprechen von der Krise. Fest steht: Während der Dokumentarfilm international mit Filmen wie Darwin’s Nightmare oder We Feed the World zum Kampf gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung aufgerüstet hat, verharrt der Schweizer Dokumentarfilm im Réduit. Rückbesinnung ist oftmals der erste Schritt zur Neuorientierung.

(Titelbild: Johle und werche; Letztes Bild: Müetis Kapital)

Mueetis kapital

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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