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Schneiden als produktive Kritik

Die Faszination für Film fing bei mir im Alter von etwa zehn Jahren, Ende Primarschulzeit an. Es gab da in Kleinbasel, in jenem Quartier gleich jenseits der mittleren Brücke, wo ich aufgewachsen bin, einen kinderfreundlichen Optiker, der jeweils am Samstagnachmittag aus seinem Laden Filme auf die Schaufensterscheibe projizierte.

Text: Walt R. Vian / 01. Juni 2007

FILMBULLETIN Beginnen wir beim Anfang. Wie kam es, dass du beim Film arbeiten wolltest?

GEORG JANETT Die Faszination für Film fing bei mir im Alter von etwa zehn Jahren, Ende Primarschulzeit an. Es gab da in Kleinbasel, in jenem Quartier gleich jenseits der mittleren Brücke, wo ich aufgewachsen bin, einen kinderfreundlichen Optiker, der jeweils am Samstagnachmittag aus seinem Laden Filme auf die Schaufensterscheibe projizierte. Draussen standen die Kinder des Quartiers und haben sich über alles mögliche gefreut: kurze Chaplin-Filme, aber auch Dokumentarfilme. Für mich war das absolut faszinierend, da ich damals – als etwas, das mit Bildern operierte – nur die «Schweizer Illustrierte» kannte. Aber das waren eben »stehende Bilder. Und da im Schaufenster: »eine Oase und Palmen, die sich im Wind bewegen – das hat mich einfach hingerissen. Das ist mir die Mittelschulzeit hin geblieben. Ich fing relativ früh an, ins Kino zu gehen. Es gab damals noch die schöne Errungenschaft der Doppelprogramm-Kinos, wo man zwei grundverschiedene Filme für relativ wenig Geld anschauen konnte. Bald einmal bemerkte ich, dass ich mehr von den Filmen habe, wenn ich mitten im Programm reingehe, das konnte man, und mich einfach der Hälfte des ersten Films aussetze, dann den zweiten Film anschaue und dann die erste Hälfte des ersten Films nachhole. Und wenn es mir sehr gut gefallen hat, bin ich einfach noch länger sitzen geblieben – auch das konnte man.

Später, an der Mittelschule, wo so die vagen Gedanken um die Berufswahl kursierten, hab ich einfach alles gestrichen, was für mich nicht in Frage kam, und es blieb dann wenig übrig. Ich war – Lehrer würden wohl sagen – eine ziemlich einseitige Begabung. Sprachen, Geschichte, Zeichnen, die musischen Fächer, auch Turnen ging gut, in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern war ich ziemlich schwach. Meine Eltern sahen mich auf Grund einer gewissen Leichtigkeit des sprachlichen Ausdrucks als Juristen, aber das wollte ich nicht. Ich habe die Rekrutenschule vorverschoben, um noch ein bisschen Zeit zu haben, mich wirklich zu entscheiden. Nach absolvierter RS im Alter von neunzehneinhalb Jahren hab ich mich dann bei der Kern Film AG, der einzigen Möglichkeit, die es für mich in Basel damals gab, bei dem Auftragsfilmunternehmen des Filmpioniers August Kern beworben und bekam einen auf vier Jahre ausgerichteten baselstädtischen Lehrvertrag. Ich musste, wie das üblich war – das hat sich dann relativ schnell erledigt, weil ich häufig nicht konnte, weil wir bei Aussenaufnahmen weg waren –, zusammen mit den Fotografen die Gewerbeschule besuchen und hab bei dieser Gelegenheit einen jungen Fotografen kennengelernt und mit ihm die Schulbank gedrückt, den ich dann zehn Jahre aus dem Blickfeld verloren habe, bis er plötzlich auch beim Film wieder auftauchte: Pio Corradi.

Die Bekanntschaft mit dieser Kern Film AG verdanke ich der Tatsache, dass ich damals eine junge Dame kennenlernte, und, wie häufig bei irgendwelchen Lebensläufen, müsste man da nach dem klassischen Motto fragen – beziehungsweise sagen: «cherchez la femme». Diese junge Dame hat bei Kern Film eine Lehre als Cutterin gemacht, zuerst Negativschnitt, dann auch Positivschnitt. Anne ist allerdings, unmittelbar bevor ich bei Kern angefangen habe, nach Zürich weggegangen. Sie hat den Kameramann Andreas Demmer geheiratet und hat ihm einen Sohn geboren, der jetzt auch beim Film tätig ist. Anne Demmer hat eine Weile bei den Filmen, die Mitte der fünfziger Jahre in der Schweiz entstanden sind, als Assistentin gearbeitet, hat später selber geschnitten, ist aber leider den mannigfachen Anforderungen, die dieser Beruf stellt, vorab auch was psychische Stabilität betrifft, nicht gewachsen gewesen und relativ traurig als Alkoholikerin gestorben.

FILMBULLETIN Anne Demmer hat da als Cutterin gearbeitet. Wie war deine Ausbildung bei Kern?

GEORG JANETT Ich hatte einen Lehrvertrag, der mir binnen vier Jahren eine Ausbildung zum Filmregisseur (lacht) versprach. In der ersten Zeit habe ich als angelernter Kameraassistent gearbeitet, mit der Zeit nahm mich Kern auch ein bisschen zum Schneiden mit. Das war damals noch die mühsame Geschichte mit Klebstellen, Hobel und so weiter – also ich durfte ein bisschen kleben. Es war damals bei Kern insofern interessant, als er sich ein Trickatelier – sowohl Zeichen wie Sachtricks – leistete mit dem deutschen Spezialisten Hans Schütz, und manchmal musste ich dann am Tricktisch auch Tricks aufnehmen.

Nach gut zwei Jahren wurde ein Spielfilm in Basel gedreht, irgendein Schreckenswerk der mittleren fünfziger Jahre, eine Dialektkomödie, die auf einem Schwank beruhte, der hiess wie der Film Wenn d’Fraue wähle – und das zeigt, worum es etwa geht. Ein fürchterlicher Schmonzes. Ich wurde von Kern als Schnittassistent an diese Produktion vermietet. Das hat mir die zwar kurze, aber nachhaltige Bekanntschaft mit dem Cutter Henri Rust eingetragen. Rust war ein damals wohl schon auf dem absteigenden Ast sich befindender Star des französischen Films, der immerhin Filme wie Les enfants du paradis und Le salaire de la peur geschnitten hat.

Rust war eine absolut imposante Figur, ein gepflegter Gentleman, immer im Zweireiher mit Krawatte, der da souverän auf dem Schneidetisch rumfunktionierte, zwischendurch hat er auch mal nur angezeichnet und mir die technische Arbeit überlassen, ging ins Tonstudio neben dem Schneideraum, hat sich an den Flügel gesetzt und präludiert – so vor sich hin. Das ist mir unvergessen. Es hat mir auch leidvoll in Erinnerung gerufen, dass ich leider Gottes relativ wenig von Musik verstehe.

Ich habe mit der Zeit dann rausgekriegt, dass Kern für mich pro Tag etwa das einkassierte, was ich pro Woche ausbezahlt erhielt. Das hat mir nicht sonderlich gepasst, und ich hatte auch generell gewisse Probleme mit dem älteren, recht patriarchalischen, autoritären August Kern. Das hatte zur Folge, dass ich, vermutlich zum einzigen Mal in meinem Leben, weil das nicht zu meinen Stärken gehört, eine diplomatische Glanzleistung vollbrachte und mich nach knapp zweieinhalb Jahren mit Kern auf die gegenseitige gütliche Auflösung des Lehrvertrags einigte.

Das fiel mir umso leichter, als ich durch Anne Demmer mittlerweile ein Angebot hatte, bei einer vergleichbaren Firma in Zürich als Kameraassistent von Andreas Demmer zu arbeiten. Das war die Montana Film von Viktor Staub, dem Bruder des Kabarettisten Peter W. Staub, der in den fünfziger Jahren eine recht gute Karriere hatte – so als ewiger Lausbub in den deutschen Komödien gehandelt wurde.

Montana Film machte jene Auftragsfilme, wie es eben üblich war. Unter anderen einen Film über die Entstehung des Kraftwerks Göschenen, wo ein riesiger Erddamm aufgeschüttet und die ganze Infrastruktur in den Berg hinein gebaut wurde. Wir sind so alle drei Wochen mal für drei, vier Tage nach Göschenen gefahren, in irgendwelchen Kavernen verschwunden und haben – bis zu den Knöcheln im Wasser stehend und mit der entsprechenden Beanspruchung des Materials – gedreht, was die da gebohrt und installiert haben. Hinterher hab ich die Scheinwerfer, die Kabel und alles gereinigt.

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(Bild: Wenn d'Fraue wähle)

FILMBULLETIN Noch kein 16 mm?

GEORG JANETT 35 mm. Damals gab es noch gar keinen hochempfindlichen Farbfilm. Das war eine ziemliche Lichtkiste. Dieser Baufilm hatte schon was. Einer der schrecklichen Filme, die wir da machten, war eine Auftragsarbeit für die Schweizerische Verkehrszentrale nach einer Suite auf die Schweizer Seen – fünf Minuten Murtensee, vier Minuten Neuenburger See, und das musste man nun bebildern …

Nach einem Jahr lief mein Vertrag aus. Ich hatte das Gefühl, ich müsste irgendwie wechseln, um einen umfassenden Überblick zu gewinnen und nicht als Kameraassistent und dann vielleicht mal mit der Zeit als Kameramann meine Brötchen zu verdienen. Ich wollte unbedingt Regieassistenz machen und hatte zwei, drei vage Kontakte, aber das hat sich alles zerschlagen. Damals konnte man noch nicht stempeln, und ich sass also da: ohne Arbeit. Nach drei Monaten musste ich schweren Herzens nach Basel zurück, musste wieder bei den Eltern wohnen und mir irgendwelche Zwischenarbeit suchen.

Ein Vierteljahr arbeitete ich als Zügelmann – Umzüge, Klavier schleppen; ein Vierteljahr als Hilfsarbeiter in einer Druckerei, wo gerade die Telefonbücher im Schichtbetrieb gedruckt wurden, was zur Folge hatte, dass ich heute am frühen Morgen keine Vögel mehr hören will, weil ich damals morgens um fünf Uhr quer durch die Stadt mit dem Velo zur Morgenschicht antraben musste. Und dann war ich noch ein gutes halbes Jahr als Bierfuhrmann beim Depot Basel der Brauerei Feldschlösschen tätig. Das war insofern nützlich, als es einerseits eine körperlich relativ anstrengende Arbeit war, bei der man physisch automatisch einigermassen in Form kam. Es war zweitens lustig, weil man die Innereien und Keller der Innenstadtkneipen kennenlernte, die man sonst nur von der Gaststube her kannte. Es war – ebenso wie die Zügelmanntätigkeit – auch interessant für Geschichten. Wenn ich eine private Filmschule hätte, wäre das Pflichtprogramm. Gut für die Kondition und gut für das Zusammenreimen von Geschichten aufgrund der Indizien, die man vorfindet, wenn man in eine Wohnung reingeht. Da kann man sich – auch in Kombination mit dem Punkt, an dem man startet und an dem man die Sachen wieder abgibt – so Geschichten ausdenken: Aufstiege, Fallgeschichten – rundum spannend.

Als Bierfuhrmann sind mir zwei Dinge geblieben, die mir unter den robusten Kollegen ein gewisses Renommee verschafft haben. Zum einen war ich Mitglied der neu gegründeten Firmenfussballmannschaft, war schneller als die meisten anderen und hab deswegen diverse Tore erzielt. Zum andern hat mir ein entscheidendes Erlebnis auch für den Film klargemacht, wie wichtig Form ist. Ich arbeitete als Beifahrer mal mit einem Chauffeur, mit dem niemand arbeiten wollte, weil der einen sagenhaften Ruf als absoluter Faulpelz hatte. Nach einiger Zeit fragten die Kollegen: «Wie läuft es so?» Ich antwortete: «Er trägt die Verantwortung und ich die Kisten.» Das war ein grosser Lacher, und noch Wochen später kamen sie und fragten: «Wie hast du das jetzt gesagt?» Ein vergleichsweise harmloser Einfall, der, nur weil er auf eine bestimmte Art formuliert wurde, nachhaltig geblieben ist.

Ich habe während dieser Zeit die Kontakte nach Zürich aufrecht erhalten und wusste so von einer Produktion, bei der Leute gesucht wurden. Ich hab mich mit dem entsprechenden Produzenten verabredet und bin nach Zürich gefahren, um Erwin C. Dietrich zu treffen, ehe er der Kultproduzent von gehobenem Porno wurde. Er erzählt die Geschichte so: Er hatte einen Posten als Script zu vergeben und fragte mich, was ich denn als Vorbildung mitbringe. Dann hätte ich (lacht) gesagt: «Bierfuhrmann». Und das fand er ein bisschen komisch. Würde ich auch komisch finden – aber er hat eben weggelassen, dass ich vorher bei Kern, der als ehemaliger Spielfilmregisseur die Angewohnheit hatte, in jeden Auftragsfilm die eine und andere Spielszene einzubauen, ab und an Script machen musste und wusste, dass ich das kann.

Ich machte also Script bei jenem filmischen Meisterwerk, das da hiess Zwei Bayern in Bonn. Eine hauptsächlich deutsche Produktion mit dem bayrischen Urviech Beppo Brem in einer Hauptrolle. Das war eine relativ abenteuerliche Filmproduktion, gedreht in Berchtesgaden und Umgebung. Produktionsleiter war der Kameramann Georges C. Stilly – Juri Constantinovitch Stylianudis, wie er richtig hiess –, ein Armenier, der immerhin mehr als die Hälfte der Filme von Kurt Früh gedreht hat. Stilly war als Emigrant anfangs der Krisenjahre in die Schweiz gekommen, ein Abenteurer, Lebenskünstler und als Kameramann, schwarzweiss, mit der russischen Filterschule vertraut. Er hatte sich in der Vorkriegszeit, als Secondunit-Kameramann und Spezialist für Aussenaufnahmen, europäisch einen Namen gemacht, hat unter anderem für den werther von Max Ophüls gedreht.

Nach diesem Dietrich-Abenteuer, das ich soweit unbeschadet überstanden habe, machte ich Script bei Demokrat Läppli mit interessanten Leuten, wie zum Beispiel Hans Schneeberger, an der Kamera, ein alter Arnold-Fanck und Leni-Riefenstahl-Bergfuchs und immerhin auch Second-unit-Kameramann bei Der dritte Mann, ein stämmiger, untersetzter Bayer. Da habe ich auch Rolf Lyssy kennengelernt, der da Kameraassistenz machte. Nach dieser Scriptarbeit habe ich als Schnittassistent am Film mitgeschnitten, den der Produzent Walter Kägi selber geschnitten hat.

Dann kam ich in den Schneideraum von Hans Heinrich Egger, hatte zum ersten Mal mit Kurt Früh zu tun. Das war Es Dach überem Chopf, wo wir bei Hans Heinrich Egger, den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, drei Assistenten waren. Er hat angezeichnet, die dritte Assistentin hat das Material den Vorgaben nach auseinandergeschnitten und wieder zusammengeklebt – mittlerweile schon mit Klebebändern –, Anne Demmer hat als erste Assistentin die Synchronisation, also die Schleifen vorbereitet und angelegt, und ich hab als zweiter Assistent dann die Feinarbeit gemacht. Das war zwar noch eine Gloria-Produktion mit Max Dora, aber wir haben damals in den Schneideräumen der Praesens-Film – im ersten Stock oberhalb des Jecklin, beim Pfauen – geschnitten. Und so bin ich auch mit der Praesens ein bisschen in Berührung gekommen, was zur Folge hatte, dass ich da bei zwei, drei Filmen in Nebenfunktionen tätig war. Bei Der Arzt stellt fest immerhin als zweiter Assistent von Eugen Schüftan, der ein liebenswürdiger, aber damals schon sehr alter Herr war – nicht mehr ganz von dieser Welt –, der auf mich ein bisschen wirkte wie eine Figur aus einem Stück von Beckett. Auch immer mit dem Zweireiher, aber mit Ärmeln, die gerade so die zwei, drei entscheidenden Zentimeter zu kurz waren. Die Hauptarbeit für uns Assistenten war, ihn beim Drehen daran zu hindern, seinen alten, abgegriffenen Belichtungsmesser auf die sterilen Laken des Operationstisches zu legen, wenn gerade eine Operation oder eine Geburt gefilmt wurde. Wir haben ihn buchstäblich gehalten, und er hat ganz verzweifelt gestöhnt: «Ich muss doch mein Licht messen können!» (lacht)

Mit Egger habe ich dann, in dieser Hin-und-Herzeit, wie ich mich da freischaffend durchgeschlagen habe, mindestens noch Erwin Leisers freien Dokumentarfilm wähle das leben in gleicher Besetzung gemacht. Während des Films ist Anne Demmer dann allerdings ausgestiegen, weil sie Geld und Geist von Franz Schnyder als Cutterin machen konnte, und Schnyder, da in Burgdorf, immer auch einen Schneidetisch gleich daneben hatte und parallel zum Drehen mindestens den Rohschnitt machen wollte. Dadurch bin ich sozusagen automatisch zum ersten Schnittassistenten aufgerückt, hatte da Kommentar anzulegen und damit zu leben, dass mir die Ehrfurcht vor Erwin Leiser durch die Arbeit ziemlich geschwunden ist. Ich muss ein bisschen ausholen: Ich war mit Erwin Leiser in Paris, um Archivmaterial bei den Actualités françaises, bei Pathé und dem französischen Filmarchiv zu besorgen. Leiser machte sich das insofern bequem, als er, unter Anspielung auf seine Vergangenheit, mich jeweils an der Pforte abgegeben hat und sagte: «Sie wissen schon, was wir suchen. Ich kann das nicht sehen.» Ich aber fand, wenn jemand Dokumentarfilme macht und dann noch mit diesem Thema, muss er solche Bilder einfach ertragen, und habe da eine, sagen wir mal, berufsethisch begründete Abneigung gegen Leiser entwickelt.

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(Bild: Geld und Geist)

Die Feinmontage von Geld und Geist wurde in den Schneideräumen der Praesens in Zürich gemacht, und ich wurde wieder Assistent von Anne Demmer. Franz Schnyder, über den ich später mit Christoph Kühn den Film FRS – Kino der Nation machte, war im Grunde genommen ein Volkserzieher mit einigen neckischen Eigenheiten. Einen Hauch von Sado-Masochismus sagten ihm alle Beleuchter nach, der sich unter anderem darin ausdrückte, dass er als ständigen Begleiter immer einen Hund hatte, und wenn er gut gelaunt war, hob Schnyder seine Hosen etwa auf Kniehöhe an, um einem die Narben im Schienbein zu zeigen, die er von seinem Hund hatte. Die Schneideräume der Praesens waren zwei durch eine Tür getrennte Räume, Schnyder tauchte manchmal auf und stellte sich in die Mitteltür und guckte auf beide Seiten, was da so geht – das von ihm «Hündchen» genannte Hündchen zu seinen Füssen. Ich war im kleineren Schneideraum mit irgendeiner Tonarbeit beschäftigt, und jedesmal, wenn ich am Steenbeck nach unten zu einem der Knöpfe der Tonregulierung greifen wollte, knurrte der Hund und schnappte nach meiner Hand. Ich hab das dreimal durchgespielt, dann sagte ich: «Herr Schnyder, solange der Hund da ist, arbeite ich nicht mehr.» «Da Hündli blybt hiä.» Ich hab die Arme verschränkt, ab und an zu Schnyder geguckt, der hat ab und zu auch geguckt, keine Miene verzogen, aber nach dem Mittagessen ist er nicht mehr gekommen, und ich konnte wieder arbeiten. Solche Geschichten. Das sind so meine Erlebnisse mit den Figuren in der mittlerweile als klassisch geltenden, na ja auslaufenden klassischen Periode des Schweizer Films.

Dann habe ich bei der Dokumentarfilm AG angeheuert. Anfänglich empfand ich das als einen Rückschritt, aber es geschah nicht viel zu der Zeit, und ich musste arbeiten. Diese Dokumentarfilm AG war ebenfalls eine Auftragsfilmfirma. Ihr Chef, Doktor Adolf Forter, war auch eine Nummer für sich. In jungen Jahren hatte er Musik studiert, wohl auch ein bisschen komponiert, während des Krieges war er Chef des Armeefilmdienstes, und nach dem Krieg hat er sich mit dieser Dokumentarfilm AG selbständig gemacht.

Damals hat die eigentliche Zusammenarbeit mit Kurt Früh angefangen, der das gut Gemachte schätzte – ob man das dann Kunst nennen wollte oder nicht, war ihm relativ egal. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis mit Kurt. Ich hab damals sogar ein halbes Jahr bei ihm gewohnt, mit partiellem Familienanschluss, so zum Nachtessen, nicht immer, aber häufig. Sie hatten – das gehörte zu diesem bürgerlich-repräsentativen Haus am Römerhof – eine Dienstbotenkammer in der Mansarde oben. Es war ein sehr offenes Haus. Ich hab viele Leute dort kennengelernt, die einfach abends mal schnell vorbeigekommen sind, vom Komponisten Tibor Kasics, der für ihn beinahe schon ein Jugendfreund war, bis zum Schauspieler Fred Tanner, der zu den Freunden der Familie gehörte. Manchmal gab’s auch spannende Diskussionen. An eine erinnere ich mich besonders, weil der Moralist Fred Tanner A Clockwork Orange von Stanley Kubrick, den ich grossartig fand, also wirklich in den Orkus schicken wollte.

Früh war ein sehr offener, sehr geselliger Mensch. Ich habe mit der Zeit auch ein bisschen die Brüche in seinem Leben begriffen. Wir konnten über viele Dinge, die wir gemeinsam hatten, ein Einverständnis herstellen. Über Ödön von Horvath etwa, der sich damals einer langsamen Wiederentdeckung erfreute. Brecht natürlich, der für ihn wohl noch bestimmender war als für mich.

Wir haben bei der Dokumentarfilm AG, ich bin jetzt bei 1964, das heisst ich bin siebenundzwanzig, zuerst ein filmisches Pamphlet gegen die Hochrheinschifffahrt gemacht – ein gigantomanischer Technokratenwahn jener Zeit. In Anlehnung an Robert Jungks damaligen Bestseller «Die Zukunft hat schon begonnen» bekam er den Titel Welche Zukunft hat begonnen? An der Finanzierung hat sich unter anderen die SBB beteiligt, weil die ganze Strecke den Rhein entlang transportmässig ohnehin nicht genügend ausgelastet sei. Verschiedene Verkehrsvereine rund um den Bodensee haben den Film mitfinanziert, und ein privates Komitee, geführt von einem Schaffhauser Ständerat, hat Geld gesammelt, weil sie die Hochrheinschifffahrt einfach nicht wollten. Das waren recht interessante Dreharbeiten. Das Spannendste für mich aber war, dass die fanden, wenn ich schon beim Drehen dabei gewesen sei, könne ich den Film auch schneiden. Das habe ich gemacht, und es ist auch recht gut rausgekommen. In dieser Zeit etwa wurden die Qualitätsprämien eingeführt, die damals nur für Dokumentarfilme vorgesehen waren, und Welche Zukunft hat begonnen? war einer der ersten Filme, die diese eidgenössische Qualitätsprämie bekommen haben.

Und sonst habe ich in dieser Dokumentarfilm AG mit Kurt Früh einen Berufsbildungsfilm über das Bäckergewerbe als Spielfilm gemacht. Da war ich auch gleichzeitig wieder Script und Kameraassistent. Dann hat Kurt Früh ein Drehbuch für einen Film über das katholische Familienblatt «Der Sonntag», das im Walter-Verlag herausgegeben wurde, geschrieben. Heute würde man sowas wahrscheinlich Public-Relation-Film nennen. Werbefilme waren zu jener Zeit drei bis fünf Minuten lang, und wenn es dann noch etwas dokumentarischen Hintergrund hatte und eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten dauerte, dann war das eben ein Industriefilm – auch wenn keine Industrie dahinter stand. Der damalige Geschäftsführer dieses Blättchens wechselte dann zum Sport-Toto beziehungsweise zur Sportillustrierten «Tip», die vage mit dem Sport-Toto zusammenhing, und fand relativ bald, eigentlich müsste er für den «Tip» auch einen Film haben.

Kurt Früh hat auch da ein Drehbuch geschrieben, mit zum Teil recht fröhlichen Liedchen, die Walter Baumgartner vertonte, und dann wurde Kurt krank. Was jetzt? Der Forter fand, ich könne die Regie führen, und das hab ich dann gemacht. Der Film null bis dreizehn, dreizehn bis null ist nichts Überwältigendes, aber für die damalige Zeit wohl ein relativ cleverer, gleichzeitig aber auch biederer Film.

FILMBULLETIN Mit Spielszenen und Schauspielern?

GEORG JANETT Mit jeder Menge Spielszenen, mit durchgehenden Figuren beziehungsweise einer durchgehenden Familie, und das war die Familie Keiser. Cés Keiser, Margrit Läubli und die beiden Söhne.

FILMBULLETIN Kurze Zwischenfrage. Ich nehme mal an, du gingst weiterhin ins Kino. Gab es da nicht eine Diskrepanz zwischen dem, was du im Kino gesehen, und dem, was du selber hergestellt hast?

GEORG JANETT Sicher. Das waren einfach zwei verschiedene Welten. So hat man das zur Kenntnis genommen. Wenn man mal einen Spielfilm machen würde, würde er wohl eher in die und die Richtung gehen. Wobei wir über A bout de souffle etwa noch wacker gestritten haben, weil es natürlich allen gängigen Regeln Hohn sprach, wie er geschnitten war. Wir jugendlichen Fachsimpel empfanden das eigentlich eher als Armutszeugnis. Das Gefühl dafür, dass es sehr viel mehr formale Möglichkeiten gibt, als man sich gemeinhin eingesteht, ist erst im Laufe der Zeit gewachsen und sicher dann entscheidend von den Filmkursen 1967/68 und der Berührung mit den damals jungen Leuten geprägt worden, die diese Imprägnierung durch das Klassische schlicht nicht kannten.

Zwei verschiedene Welten also, wobei es doch Berührungspunkte – wenn auch wenige – gab. Heute arbeiten ein paar Filmwissenschafter an der Aufbereitung dieses Genres des Industriefilms, in dem es in unserem schweizerischen Rahmen auch absolute Highlights gab. Filme von Otto Ritter, dem Kameramann, der manchmal auch selber Regie führte, der Poet unter unseren Kameraleuten jener Zeit. Filme von Hans Trommer, die wirklich so waren, dass man den Auftrag dahinter vergessen und einfach den Film anschauen konnte. Auftragsfilme, die ich damals allerdings noch nicht kannte, von Max Haufler zum Beispiel. Natürlich hat man sich immer nach oben orientiert, empfand Kino eindeutig als oben, und wir machen halt die Auftragsarbeit, die man auch besser oder schlechter machen kann. Aber man war natürlich weit entfernt von einem freien Film.

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(Bild: FRS – Kino der Nation)

Nach diesem Sport-Toto-Film habe ich dann noch zwei Auftragsfilme bei der Dokumentarfilm AG gemacht. Einen für die schweizerische Zementindustrie, der schlicht und einfach Zement hiess und zwei, drei für jene Zeit unkonventionelle Dinge hatte, wie etwa den durch Schnitt erzeugten Zeitraffer einer Totalen der ersten Schweizer Raffinerie, die gerade in Cressier am Neuenburger See gebaut wurde. Wir hatten während vierundzwanzig Stunden eine Kamera aufgestellt und alle halbe Stunde eine Sekunde gedreht. Diese Aufnahmen wurden dann – insofern habe ich von den freieren Methoden, von einem Godard oder so, durchaus etwas gelernt – nicht mit Überblendungen, sondern mit Schnitten aneinandergefügt.

In einer hundert Meter langen und zwanzig Meter breiten Fabrikhalle in Holderbank, wo in zwei sich drehenden Rohren Zement hergestellt wurde, konnten wir einfach nicht drehen, denn wir waren in der Regel nur zu zweit unterwegs, der Kameramann Roland Bertschinger und ich. Wir wären nie fertiggeworden mit dem Aufstellen von Licht, für das auch kein Geld da war. Also beschlossen wir – und das hatte durchaus ein Stückweit mit Neugier und selber Ausprobieren zu tun –, wir drehen das auf dem neuen, hochempfindlichen 16 mm-Farbmaterial, blasen es auf und fügen es in unser 35 mm-Material. Einige der älteren Fachsimpel in diesem Industriefilm-Sektor haben hinterher gesagt, so verraucht und verstaubt hätten sie eine Fabrik von innen noch nie gesehen. (lacht)

Das Büro Farner hatte unter anderm PR-Obliegenheiten für den Sanitärinstallateurverband. Unser Film über das Spengler- und Sanitärgewerbe wurde von einem Herrn von Däniker sozusagen dirigiert und überwacht. Däniker war der ranghöchste nach Farner im Büro Farner, war Oberst im Generalstab, einer der Vertreter der atomaren Aufrüstung der Schweiz, also, deutsch und deutlich gesagt: ein Kotzbrocken. Soviel, um auch das Umfeld zu zeigen und die Konzessionen anzudeuten, die man eingehen musste, da man sich die Auftraggeber eben nicht aussuchen konnte.

FILMBULLETIN Aber bereut hast du es nicht? Mit den Träumen vor dem Schaufenster in Basel hatte das ja doch wenig zu tun.

GEORG JANETT Ich habe immerhin mein Geld verdient, und es hatte mit Film zu tun. Und die Dinge, die zwar ein bisschen zur Gewohnheit geworden waren, waren immer noch faszinierend genug. Nein, es war nach den Zwei Bayern in Bonn, als ich mir ernsthaft überlegte, ob ich nicht doch noch studieren soll. Dem Trend der Zeit entsprechend wäre ich nach Frankfurt gegangen, um Soziologie zu studieren bei Adorno. Den habe ich relativ früh entdeckt und mit Genuss gelesen. Diese Entdeckung hatte auch mit Film zu tun. Es gab ja wenig Leute, mit denen man vernünftig über Film reden konnte, entweder waren sie wesentlich älter, so dass man – mit Ausnahme von Früh – kaum das Wort an sie richten mochte, oder eben einfach spürbar verbraucht und festgefahren. Mit Rolf Lyssy konnte man zwar diskutieren, aber der hatte seine für mich zu naturalistischen Vorlieben, sein Abgott zu jener Zeit war Francesco Rosi, ich fand Antonioni spannender. Aber darüber konnte man wiederum mit Rolf nicht reden. Wenn man mit niemandem reden kann, muss man sich notgedrungen an Gedrucktes halten. Als Vorläufer der «Filmkritik» gab es «F Film 56», herausgegeben von den Filmarbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen (Fiag), ab 1957 dann die «Filmkritik», die ich mindestens die ersten zwanzig Jahre stur gelesen habe, und 1958 parallel dazu noch drei Ausgaben «F Film 58», in der Teile aus der medienkritischen Arbeit «Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug» von Adorno und Horkheimer aus ihrer Amerika-Zeit zu lesen waren, von denen ich später in «Minima moralia» noch Dinge fand, die mir ungeheuer eingeleuchtet haben. Dieses Studium habe ich mir eine Weile ernsthaft überlegt, war dann aber relativ bald, wie die Arbeit etwas spannender wurde, davon befreit, dem nachzutrauern.

Ich hatte mir übrigens nach einem Jahr bei Kern schon überlegt, ob ich da nicht aussteigen und doch an die Uni gehen soll, damals allerdings wären meine Interessengebiete Ethnologie und Psychologie gewesen. Dann aber wollte ein gnädiges Schicksal, dass Kern einen völlig depperten Auftragsfilm für die Sandoz machen musste. Die Sandoz hat in Zürich gerade einen internationalen Psychiatriekongress organisiert, und ich war da mit bekannten Namen ehrfurchtgebietender Leute konfrontiert – und die eine Person war schrecklicher als die andere. (lacht) Die Idee mit der Psychologie ist mir damit via Film total geschwunden.

FILMBULLETIN Dann bist du in diese Filmkurse mit Hans Heinrich Egger und Kurt Früh reingerutscht. Das war gewissermassen ein Schritt vom Lernenden zum Lehrer, zum Ausbildenden.

GEORG JANETT Im ersten Kurs war ich Assistent von Kurt Früh und im zweiten Assistent von allen Dozenten, also universal. Wenn ich eine Kurzfassung machen sollte, dann würde ich sagen, die Kurse waren nicht nur für mich eine sehr gute und wichtige Erfahrung. Ich halte es da mit Kurt Früh, der hinterher gesagt hat: «Mindestens einer hat bei diesen Kursen etwas gelernt: ich.» (lacht) Er, der an offiziellen Kenntnissen am meisten mitgebracht hatte. Das zweite, was ich an den Kursen wirklich gut fand, war, dass sie praktisch während der Sommerferien stattfanden. Leute, die studierten, konnten es sich leisten, diese Kurse zu besuchen. Sie verloren vielleicht die ersten zwei Wochen des neuen Semesters, aber im Prinzip ging es. Drittens waren die Kurse ungeheuer praktisch organisiert. Wir haben in diesen rund drei Monaten, je zwei Schüler zusammen, einfach einen kurzen Film produziert. Anhand praktischer Arbeit und mit wenig Theorie alle Stadien einer Filmproduktion durchgenommen. Das Ziel war, was ich für das vernünftige Ziel jeder Schule halte, die Leute zu sich selber zu bringen und sie nicht mit vorgefertigten Erkenntnissen abzufüllen und zu denken, wenn das voll ist, muss man noch etwas schütteln und dann kommt das wieder raus. Es war richtig spannend mitzuerleben, wie von ersten vagen Ideen, über Drehbücher, jenem auch für einen kurzen Film nötigen Minimum an Planung, über die Dreharbeiten und das Schneiden diese Filme entstanden. Es gab ein paar wirklich gute und interessante Leute, die an diesen Kursen mitgemacht haben.

1967 war noch geprägt vom Gefühl einer Pioniertat, und entsprechend haben sich alle reingekniet; 1968 war mit wenig neuen, mehrheitlich den selben Schülern wie 67, dann bis zu einem gewissen Grad etwas bereits Erlebtes. Dann war 68 auch noch geprägt von den parallel stattfindenden, langsam sich entwickelnden Unruhen, Globusprovisorium, Jugendbewegung; auch von der Abspaltung innerhalb der Kunstgewerbeschule – zwei Lehrer, die ihre Vorstellungen, wie man eine solche Schule führen müsste, in der F+F umzusetzen versuchten. 68 war also ein bisschen mühsamer – vorab, weil dann auch Sprüche aufkamen wie «Trau keinem über Dreissig», und 1968 war ich in Gottes Namen eben schon einunddreissig. Aber es ging trotzdem einigermassen über die Runden, bloss gegen Ende gab es einen Aufstand, als man dann erfuhr, dass für den dritten Kurs, als Vorbereitung für die Praxis gedacht, Auftragsfilme gemacht werden sollten – Aufträge, die die Schule sich bei der Schweizer Milchindustrie besorgt hatte. Etwa drei Viertel der Schüler und vom Lehrkörper Früh und ich hatten da das Gefühl, da machen wir nicht mehr mit.

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(Bild: Dällebach Kari)

FILMBULLETIN Dällebach Kari war 1970 dein erster Spielfilm als Cutter. Jetzt hattest du die kreative Führung in diesem Bereich – wohl in Absprache mit Kurt Früh.

GEORG JANETT Früh verstand ziemlich viel vom Schneiden. Es war ja für ihn, von ihm her subjektiv gesehen, bis zu einem gewissen Grad ein Neustart. Er hatte 1965 den letzten Film gemacht, dann etwa fünf Jahre nur fürs Fernsehen gearbeitet und sich an dieser Fabrikmentalität wundgestossen. Es war nämlich so, dass in den Jahren ab etwa 1965 bis 1970 fast die gesamte vorherige Infrastruktur schlicht und einfach verschwunden ist. Viele haben den Beruf aufgegeben, und viele sind zum Fernsehen gegangen. Früh, der Direktor der Abteilung Fernsehspiel wurde, war nur eins von diesen Beispielen – auch sein Produzent Max Dora ist beim Fernsehen untergekrochen, von den Beleuchtern und den anderen Filmtechnikern, die weiterhin arbeiteten, waren die meisten ebenfalls beim Fernsehen beschäftigt.

Kurt Früh empfand diese Filmkurse wirklich als Erholung, aber auch als Rückbesinnung auf Dinge, die ihn früher mal interessiert hatten. Bezeichnenderweise war es Samuel Müri aus dem Filmkurs, der ihm, als er wieder mal im Spital lag, die Anekdotensammlung von Dällebach Kari vorbeibrachte, mit der Bemerkung: «Das wär doch ein Film für Sie.» Früh wollte zunächst gar nicht so richtig anpacken, aber dann kam da noch dieser Jungproduzent, der ganz beglückt war von der Idee, das sozusagen mit einem Altmeister zu machen.

Dällebach Kari war ja vom Tonfall her doch etwas beladener und weniger Judihui und Heiterkeit als die Mehrzahl der Filme, die Früh vorher machte. Bei der Montage ging es einfach darum … Wenn ich verallgemeinere, sag ich: Ich hab noch nie einen Spielfilm so abgegeben, wie er im Drehbuch stand. Es gibt immer Korrekturen, Umstellungen, die sich als segensreich erweisen, einzelne Sequenzen werden weggelassen, oder man steigt früher aus bestimmten Szenen aus. Solche Korrekturen gegenüber dem Drehbuch gab es in dällebach kari relativ wenig.

Es war allerdings eine Schinderei, weil es ein über weite Strecken nachsynchronisierter Film war. Traditionen verlieren sich ja schnell beim Film. Viele der Schauspieler hatten Mühe mit Synchronisation, kriegten das einfach nicht mehr richtig hin. Es wurde also ein ziemliches Gebastel im Schneideraum, das unter Zeitdruck so gut wie möglich synchron hinzukriegen.

FILMBULLETIN Bei Der Fall stehst du zusammen mit Kurt Früh als Drehbuchautor in den Credits.

GEORG JANETT Es war für Früh ein Aufsteller, dass Dällebach Kari relativ gut lief, und er hatte nun das Gefühl, man könne sich eben doch ein bisschen mehr Freiheiten nehmen, als er es sich bislang gewohnt war. Er lebte davon, Filme zu machen. Also musste ein neuer her. Und vage, aber wirklich ganz vage inspiriert von der Geschichte von Meier 19 – der berühmte Polizist, der rausgeflogen ist, weil er einen Vorgesetzten des Zahltagdiebstahls verdächtigte – ergab sich von ihm her die Idee, man müsste das doch weiterspinnen. Der Globuskrawall war hinter uns, und es hatte sich doch einiges geändert, oder es war zumindest einiges spürbar im Wandel begriffen – auch in einer Stadt wie Zürich. Gleichzeitig hat Kurt Oerlikon entdeckt. Das führte dann zur Kombination, dass Der Fall etwas mit der Vorstadt zu tun haben müsse, also auch Sechstagerennen und das Drumherum. Gegeben war auch Walo Lüönd, der wieder eine Hauptrolle spielen sollte, und Annemarie Düringer.

Dann haben wir da abwechslungsweise ein bisschen weitergesponnen, uns auch immer mal wieder getroffen, Dinge ausgetauscht, uns gegenseitig korrigiert, und so ist die Geschichte entstanden, die von mir aus gesehen makaberer hätte werden müssen. Aber das war wohl nicht drin bei Kurt – oder bei den zur Verfügung stehenden Schauspielern. Ich sah Der Fall als eine Art Chabrol – und davon ist er doch ziemlich entfernt.

Unter anderem scheiterte es an der Besetzung der jungen weiblichen Hauptrolle. Da haben wir zwar ein Riesencasting veranstaltet – aber niemanden gefunden, der wirklich überzeugend war. Am Ende blieb das resignierte Einverständnis, es mit Katrin Buschor zu machen, die wenigstens einigermassen aussah und ein Minimum an Erfahrung hatte – sie hatte vorher einen Fernsehfilm gemacht – und der sanfte Selbstbetrug: es wird ja wohl nicht so auf die ankommen, sie ist im Prinzip eh nur eine Projektionsfläche für die Hauptfigur. Ausgegangen sind wir für diese Figur – ich hatte Kurt in diesen Film geschickt – von einer ungeheuer sexy Rothaarigen in einem Schwimmbad im englischen Spielfilm Deep End von Jerzy Skolimowski. Da war Katrin halt schon ein paar Zacken braver.

Bei Der Fall haben viele von den Teilnehmern an den Filmkursen mitgearbeitet. Das hat auch damit zu tun, dass wir – fast alle der ausgestiegenen Schüler, Kurt und ich – uns ein halbes Jahr lang alle zwei Wochen bei Kurt Früh getroffen haben, weil er als Gegengewicht zu den Auftragsfilmen im dritten Kurs parallel dazu einen Omnibus-Spielfilm drehen wollte, wo jeder ein bisschen eine Geschichte machen kann. Das Thema wäre, wenn ich mich recht erinnere, die Strasse gewesen. Also ein Universalthema, wo jeder etwas hätte machen können. Das hat sich dann leider zerschlagen, aber Elemente davon sind wohl auch in der fall eingeflossen.

Bei Dällebach Kari war klar, dass man alles absperren musste, weil es ja ein historisches Dekor war, da konnte man sich nicht irgendwelches unkontrolliertes Leben reinpfuschen lassen. Aber im Shopville gegenüber den Rolltreppen haben wir ganz bewusst nur Walo Lüönd inszeniert. Edi Winiger sass mit der Kamera in einer Riesenkartonschachtel mit einem kleinen Loch und hat mitten im Shopville einfach gedreht. Immerhin haben wir auch die authentischen Hell’s Angels dazu gebracht, ein bisschen mitzuspielen, und auch beim Sechstagerennen waren wir immer mitten im Zeugs drin. Ganz kurze Ansagen, wenn jemand nicht im Bild erscheinen möchte, soll er sich von da bis da verziehen – und dann haben wir drauflosgefilmt.

Dann war es auch der erste in der Deutschschweiz auf 16 mm gedrehte Film, der dann auf 35 mm aufgeblasen wurde. Das brachte ein paar technische Probleme, es war nicht immer perfekt. Und das Wetter hat auch nicht mitgespielt, denn es war der kälteste Winter seit Jahren. Es gehört zu den Anekdoten, dass ich in diesem Film hauptsächlich gelernt habe: wenn es so scheisskalt ist, dass jeder Schauspieler gleich eine Dampfwolke vor sich herstösst, sobald er spricht, dann muss er eben kurz vor der Aufnahme einen Eiswürfel in den Mund nehmen. Während die Klappe geschlagen wird, spuckt er ihn aus – und das reicht in der Regel für die Szene, die er zu sprechen hat.

FILMBULLETIN Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass nicht alles telefoniert wird – es wird nicht in der ersten Szene erklärt, in welchen Schwierigkeiten der Mann steckt.

GEORG JANETT Das war Absicht und eine Folge dessen, was Kurt bei Dällebach Kari gemeint hat, gelernt zu haben, dass das eben gehe, viel weiter zu gehen, als er es sich je getraut hatte. Und dann hat sich herausgestellt, dass es doch ein bisschen zu weit war.

FILMBULLETIN Inwiefern?

GEORG JANETT Lobende Kritiken, aber keine Zuschauer. Nicht zu unterschätzen ist übrigens, dass vieles, was da geschieht, vorab am Anfang, also wenn man dabei ist, «sich einen Namen zu machen», geschieht auf Grund von persönlichen Beziehungen, die man sich geschaffen hat, etwa im vorherigen Film, mit Leuten, die dann etwas anderes machen als damals, als man sie kennengelernt hat. Meine Filmografie scheint zwar eine gewisse Logik aufzuweisen, aber das ist ein purer Irrtum. Es waren Beziehungen aus früheren Dreharbeiten, oder es waren Beziehungen, die sich aus den Filmarbeitskursen ergeben haben. Rolf Lyssy kannte ich von Demokrat Läppli her. Und Pierre Koralnik, wo ich Script gemacht habe, kannte ich via Rolf Lyssy, der bei Koralnik Regieassistent war. Wenn ich mit Fritz Maeder gearbeitet habe, dann hatte das damit zu tun, dass er bei Dällebach Kari die Kamera gemacht hat. Ein Teil meiner Anfänge in den siebziger Jahren hat eben mit dem Filmkurs zu tun. Markus Imhoof und Roman Hollenstein habe ich in den Filmkursen kennengelernt und Richard Dindo an den Solothurner Filmtagen. Robert Boner habe ich bei der fall kennengelernt, der dort als Beleuchter gearbeitet hat, aber damals schon mit den experimentellen jüngeren Filmern bekannt war und mit dem Ciné-Circus durch die Lande reiste. Boner dürfte derjenige sein, mit dem sich eine Zusammenarbeit wohl am längsten fortgesetzt hat. Mit Boner hab ich letztes Jahr noch den Animationsfilm Max & Co gemacht.

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(Bild: Der Fall)

FILMBULLETIN Was hast du gemacht? Schnitt?

GEORG JANETT Regieassistenz. Formal-juristisch heisst das Regieassistenz, lief aber nach dem französischen System, auf deutsch würde man wohl eher von Aufnahmeleitung reden, Planung, Kommunikation zwischen den verschiedenen Departements garantieren, das heisst, allen nachrennen und gucken, ob sie alle begriffen haben, worum es geht. Das war eine Schweinearbeit. Ich hab fast jede Woche einen neuen Drehplan für neun Monate erstellt. Da, in drei Wochen soll in einem neuen Dekor gedreht werden, aber nun heisst es, das werde erst zwei Wochen später bereit sein. Dann schiebst du wieder. Auch die Puppen kamen zum Teil mit Verspätung, haben aber dennoch ihre Abfolge. Es war manchmal ziemlich zum Verzweifeln, aber war auch eine ungeheuer spannende Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

Vorab auch, weil es mir etwas eingetragen hat, was ich vorher – ich gestehe es – total unterschätzt habe. Ob du drehst, oder ob du schneidest, es pendelt sich ein gewisser Rhythmus ein. Früher waren es beim Drehen etwa zwei Monate, jetzt sind es vielleicht noch sechs Wochen, wenn es gut geht. Früher beim Schneiden drei bis vier Monate, heute sind es auch nur noch zwei, aber du fängst an und hast – vor allem wenn der Film nicht so einfach ist – ein absehbares Ende. Bei Max & Co kam ich mir buchstäblich vor wie ein Mittelstreckler, der zum ersten Mal einen Marathon läuft. Die Stars im Unternehmen waren ja die Animatoren, die die Puppen bewegen, und die guten, aber wirklich nur die guten, machen zwei Sekunden pro Tag, heisst zehn Sekunden die Woche, heisst alle zwei Wochen Mustervorführung, die eine Minute dauert. Als ich am 1. Februar – noch bei den letzten Vorbereitungsarbeiten – angefangen habe, da waren es sechs Sets mit verschiedenen Dekors und etwa dreissig Leute.

Wie ich am 1. September gegangen bin, waren sechsundzwanzig fixe Dekors eingerichtet und hundertdreissig Leute beschäftigt. Darunter waren Leute mit jenen merkwürdigen Berufen, von denen ich vorher keine Ahnung hatte – der Rigger zum Beispiel. Rigger sind jene Spezialisten, die so in der zweiten Hälfte der Drehzeit, als die Dinge anfingen, komplizierter zu werden, auftauchen und die Puppen, wenn sie sich in extremen Positionen, also etwa in einer extremen Schräglage befinden, von unten her durch den Dekorboden im Dekor festschrauben. Jede dieser Puppen hat quasi ein Gewinde in der Fusssohle, und die Rigger sind also die Leute, die unter den Tischen durchkriechen und am festgelegten Punkt die Puppen festschrauben. Ein Beruf.

Ich habe bisher nur zwei, drei schöne Fotos gesehen, wo die Nachbearbeitung gemacht war. Da, wo’s zum Beispiel Wasser haben sollte, ist jetzt «richtiges» Wasser zu sehen, und da, wo vorher ein blauer Hintergrund war, ist jetzt je nach Situation ein schöner Wolkenhimmel, ein «realer». Ich bin sehr gespannt, wie das mit dieser Art von letzten Endes magischem Realismus mit realen und absolut künstlichen Bestandteilen auf der Leinwand wirken wird.

FILMBULLETIN Stichwort: Filme, bei denen die Dramaturgie am Schneidetisch gemacht wird. Sind das eher Dokumentarfilme?

GEORG JANETT In der Regel sind es sicher eher Dokumentarfilme, bei denen sich so und so viele Dinge nicht genügend festlegen liessen. Oder Filme, wo – je nach der gewählten Form – eine bestimmte Offenheit zum Konzept gehört, und Offenheit heisst dann eben unvorhersehbare Dinge, die geschehen, die manchmal gut sind, manchmal aber auch nicht. Kurt Früh war der geborene Dramaturg in einem klassischen Sinn, also Tschechow – wenn ich im ersten Akt eine Flinte einführe, muss sie spätestens im fünften Akt losgehen, sonst hat sie auch im ersten Akt nichts zu suchen. Ich denke zwar, dass dies wohl seine grösste Stärke war und dass ich da sicher viel von ihm profitiert habe. Dennoch gibt es mittlerweile neben dieser Art von Dramaturgie – die zweifellos einen latenten Zwangscharakter mit sich bringt – natürlich auch offenere Formen.

Es fängt ja ganz einfach damit an, dass der Cutter gleichzeitig der erste Zuschauer ist und der erste, der Hand an die Dinge legt. Da muss man die beiden Hirnhälften zusammenbringen und sie gleichzeitig aber auch wieder getrennt halten. Immer der erste Zuschauer bleiben und versuchen, völlig neu und naiv dazusitzen, als hätte man das noch nie gesehen. Hinschauen: wirkt das, hat das den gewünschten Effekt, was kommt da raus, wie weit bin ich jetzt, brauch ich jetzt noch eine Verzögerung, oder muss ich bereits einlösen, was ich da vorher aufgebaut habe? Deshalb plädiere ich dafür, dass man im Idealfall nach dem Rohschnitt einen mindest einwöchigen Unterbruch macht. Natürlich geht das bei einem Dokumentarfilm in aller Regel eher als bei einem Spielfilm.

FILMBULLETIN Wenn du bei den Dreharbeiten dabei bist, hast du Eindrücke – da wird es schwierig mit dem ersten Zuschauer.

GEORG JANETT Diese Eindrücke muss man vergessen. Es sind immer die Dinge – das tönt jetzt so locker dahergeplaudert, aber ich würde mich anheischig machen, das als statistische Wahrheit zu deklarieren –, es sind immer die Dinge, die beim Drehen am meisten Mühe gemacht haben, die hinterher am Schneidetisch am wackligsten sind und die im Film vielleicht gar keinen Platz mehr haben. Dann muss man sich davon trennen. Früh nannte das Hühnchen töten. Jetzt bin ich kein speziell guter Hühnchenkiller, aber den Abstand zu nehmen, um zu sagen, das hat hier nichts mehr zu suchen, das ist nicht gut genug oder hält dem Rest nicht stand, raus damit, das muss man einfach können – und das lernt man auch mit der Zeit.

Viel von dem, was da an Geheimnissen, scheinbaren Geheimnissen verkauft wird, ist Erfahrungswissenschaft. Das sage ich, der in meiner Schulzeit zu jener Kategorie von Menschen gehörte (das entsprach damals unserem Bewusstseinszustand und nicht nur meinem), die jedes Mal in einen Lachkrampf ausgebrochen sind, wenn die Lehrer vom Wert der Erfahrung sprachen. Das mochten wir einfach nicht glauben. Wir glaubten an die Vorwegnahme der sich stellenden Probleme im Denken, und damit ist Erfahrung überflüssig.

FILMBULLETIN Wie spielt sich das praktisch ab, wenn du schneidest? Mit Richard Dindo hast du oft gearbeitet, wie geht ihr vor? Macht er dir Vorgaben, entwickelst du was, und er schaut sich das an?

GEORG JANETT Richard gehört zu denen, die – ich hab nichts dagegen – praktisch die ganze Zeit dabei sind. Bei Richard war das nur insofern ein Problem, als ich Raucher bin und er ein überzeugter Nichtraucher. Mit der Zeit haben wir uns halt so zusammengerauft, dass wir alle Stunden zehn Minuten Pause machen und nur reden, während ich meine Zigarette rauche. Bei Richard war die Arbeit sehr stark durch ihn geprägt, weil er genaue, manchmal aber auch sehr fixierte Vorstellungen hat – was es gelegentlich schwierig macht, ihn von einer nicht funktionierenden Idee abzubringen.

Andere, wie ein Rolf Lyssy, kommen einmal am Tag vorbei, und man bespricht, was man am andern Tag machen wird. Dann schaut er sich das an und sagt ja oder, das da scheint mir noch nicht ganz glücklich. So läppert sich das im Lauf der Zeit zusammen. Thomas Koerfer war, in den Filmen, die ich mit ihm gemacht habe, auch die ganze Zeit hinter mir, hat aber mehrheitlich nur ruhig zugeschaut.

FILMBULLETIN Hat Avid Verbesserung gebracht? Die Möglichkeiten, schnell was auszuprobieren, sind grösser.

GEORG JANETT Ich bin da etwas voreingenommen, weil ich das nicht mehr mache. Die Filme, die auf Avid geschnitten wurden, bei denen ich dabei war, da redete ich ein bisschen rein, hab aber die Dinge nicht angerührt – manche würden es vielleicht Supervision nennen, aber ich finde den Ausdruck falsch, weil ich eigentlich nicht über dem andern oder der anderen stehe, die das macht, sondern ein bisschen partnerschaftlich mitwirke. Es hat verschiedene Gründe, dass ich nie mit Avid geschnitten habe. Zum einen – man kann das vielleicht als nachträgliche Rationalisierung sehen – fehlt mir etwas, wenn ich das Material nicht mehr spüre und nicht in Händen halte, sondern quasi nur via Knopfdruck ein bisschen Konzept-Art mache. In den Anfängen, in den neunziger Jahren, wie das langsam kam, dachte ich auch, dass ich wohl ruhig noch mit meiner Art an den klassischen Schneidetischen zu Rande komme, bis ich definitiv genug habe vom Metier – also dass mir nicht mehr viel passieren kann. Die Entwicklung, die damals sehr flach verlief, ist aber binnen kürzester Zeit sprunghaft angestiegen, und schon fünf Jahre später war es in meiner Wahrnehmung schlicht und einfach zu spät. Es gab so viele, zum Teil Jüngere, die damit angefangen hatten, und es gab solche, die sehr viel früher parallel die Umstellung geschafft hatten. Ich hätte mich mit gutem Gewissen nirgendwo mehr als Cutter verkaufen können und wäre dabei ein Anfänger gewesen. Es kommt auch ungeheuer darauf an, dass man immer dranbleibt, sonst verliert man die Handgriffe und die Schnelligkeit – und wenn das Zeugs überhaupt einen Vorteil hat, dann ist es die Schnelligkeit.

Das ist gleichzeitig auch der grösste Nachteil, weil nicht mehr gedacht wird. Es wird ausprobiert. Auch wenn trial and error als Prinzip durchaus zum Schneiden gehört: Es ist nicht alles. Und es darf nicht so dominant werden, wie es heute nach meinem Eindruck ist – in den nicht mehr Schneide-, sondern Editingräumen.

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(Bild: Der Gehülfe)

FILMBULLETIN Was sind das für Gedanken, die man sich macht, wenn man vor dem Material sitzt?

GEORG JANETT Das erste ist immer: Wird das wohl je ein Film? Nach etwa einem Monat, wenn so die ersten Schwierigkeiten aufkommen, ist die nächste Grundüberlegung: Von der Erfahrung her ist es eigentlich noch immer irgendwie ein Film geworden – vergessen wir die Sorgen. Der Rest sind die Details, die haben nicht nur mit Denken, sondern auch mit Spüren, mit Gefühl oder mit den Händen zu tun.

Aber man kann nicht darüber reden. Ich wüsste nicht, wie man das mitteilt. Ich kann nur Negativbeispiele nennen. Wir haben im Techniker-Verband Wochenendkurse mit interessanten Vertretern aus dem Ausland für bestimmte Berufsgruppen gemacht, und einmal hatten wir den sehr renommierten Cutter Henri Colpi – Cutter von Resnais, ein sehr kultivierter Mensch, der viel wusste, der gegen Ende seines Lebens auch noch Filme gemacht hat, eine grosse Figur, er hat auch «Défense de la musique au cinéma» geschrieben –, aber es war einer der peinlichsten Momente in meinem Leben, wie Colpi, provoziert durch eine Frage, sich zu Rezepten hinreissen liess. Zum Beispiel findet er einen Stand vor einem Schwenk langweilig, muss weg, ein Schwenk wird vorne immer angeschnitten. Er hielt Bresson für einen unfilmischen Regisseur, weil die Szenen bei ihm häufig damit anfangen, dass eine Tür aufgeht und jemand kommt rein. Das ist für Colpi der Inbegriff von Theater, hat mit Film nichts zu tun. Dass Bresson trotzdem ein Filmregisseur ist, wollen wir ihm nachsehen. Aber es hat uns doch ein bisschen irritiert.

Das Problem, wenn man anhand von Beispielen über Montage redet, ist, dass du quasi von etwas Vorhandenem ausgehst. Aber Montieren ist im Grunde eine Arbeit in einem Viereck. Eine Ecke ist das, was man grossspurig Vision nennen kann, also eine Vorstellung, die man hat, was wo hinkommen soll. Eine zweite Ecke ist das vorhandene Material, das manchmal dieser Vorstellung entspricht, häufiger aber sich durch kleine Abweichungen von der ursprünglichen Vorstellung auszeichnet. So wie Schneiden die produktive Kritik am gedrehten Material ist, genauso ist das Drehen die produktive Kritik am Drehbuch. Also hat es wahrscheinlich einfach bestimmte Abstände zwischen der Vision und dem, was konkret vorhanden ist. Die dritte Ecke ist der Regisseur und die vierte Ecke der Cutter oder die Cutterin.

Natürlich ist es richtig, wenn man es sich im Normalfall leicht macht und sagt: Im Grunde genommen kann man nicht darüber reden. Aber gleichzeitig muss man darüber reden, muss es können, muss sich auch dazu zwingen, darüber zu reden. Das beginnt bereits an den beiden Ecken Regie und Cutter, denn ohne einen verbalen Austausch, der je nach Person unterschiedlich stark gewichtet wird und der je nach Chemie gleicher oder ähnlicher Gelagertheit stärker oder schwächer ist, ohne irgendeine Form von Kommunikation geht es nicht. Man muss sich irgendwie darauf einigen, wie man die zweite Ecke, das Material, möglichst nahe an die erste Ecke, die ursprüngliche Vorstellung, heranbringt. Und das ist unter anderem Arbeit. Nebst dem, dass man ununterbrochen daran arbeitet, dass man zumindest im Hirn alles wieder ablaufen lässt, muss man sich auch immer wieder in das Material reinbegeben, sich mit dem Material konfrontieren. Auch bevor man eine nächste Etappe beginnt, schlicht und einfach immer wieder mal anschauen: was hat man bis jetzt, was gibt das für einen Rhythmus, was gibt das für Emotionen?

Bei einem Film wie Der Gehülfe von Thomas Koerfer, einem Film, der quasi aus langen tableaux-ähnlichen Bildern besteht, zählt jeder Schnitt ungeheuer, weil er eine Serie von stehenden Einzelbildern, die beinah sowas wie Gemälde sind, bricht und gleichzeitig weiterleiten muss zum nächsten stehenden Bild. Da kommt es viel stärker als bei einem schnell geschnittenen Film auf die Präzision jedes einzelnen Schnittes an. Das ist etwas ganz anderes als ein Schnitt in einer Szene, wo man eine Aktion – die in verschiedene Einzelteile zerlegt ist – möglichst flüssig montieren muss, damit diese Aktion wieder als Ganzes erscheint. Also was die Amerikaner «unsichtbaren Schnitt» nennen, wo man einfach in den entsprechenden Perspektiven Schnitt und Gegenschnitt montiert und dann noch die Wahl hat, ob derjenige, welcher spricht, oder derjenige, der zuhört, im Bild ist. Und wenn derjenige, der spricht, im Bild ist, ob er ganz im Bild ist oder zum Teil im Off überlappt. Das sind dann Fragen, die einesteils vom Rhythmus abhängen, etwas, was man im voraus quasi darüberstülpen will, das aber auch durch die Schauspieler konditioniert ist. Vielleicht gibt es irgendwo einen entscheidenden Moment, den man à tout prix «retten» will, und dann muss man den Rest eben um diesen Moment rumstricken. Insofern wird es wieder schwierig zu verallgemeinern.

Was das Verallgemeinern betrifft, halte ich es mit Sergej Eisenstein, der in seinen Memoiren plötzlich von King Gillette erzählt. Gillette hat, wie er das sieht, im Grunde das Montageprinzip auf den Rasierapparat ausgedehnt. Vor seiner Erfindung – einem Stab, zwei Haltern und dazwischen einer Klinge, die man festschraubt – hat man mit einem Rasiermesser alles an einem Stück rasiert. Erstens einmal kann Eisenstein ein paar Gedanken über Montage an diesem Beispiel ausführen – heute würde er das vermutlich noch ergänzen durch Ikea oder so etwas –und zeigen, wie Montage – also Zerlegen und Zusammensetzen – sich durchs ganze Leben zieht. Er schreibt so nebenbei noch, dass dieser Gillette doch ein recht sozialer Arbeitgeber gewesen sein soll anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts, der Arbeitersiedlungen gebaut hat. Das wird alles schön liebevoll ausgebaut, bis dann ein Schwenk kommt, wo er erklärt, dass er letzten Endes seine ästhetische Theorie Gillette verdanke. Bei diesen früheren Rasierapparaten stand nämlich, man müsse sie bis zum Anschlag zuschrauben und dann eine Vierteldrehung zurückdrehen. Letzten Endes sei es das, was man auch beim Montieren mache: bis zum Maximum gehen und dann eine Vierteldrehung zurück, sonst werde es tot und steril und festgefressen. Diese Vierteldrehung zurück mache genau das Minimum an Spiel aus, das es eben lebendig werden lasse.

Bei allen Montagetheorien, und ich habe diverse Bücher gelesen, ist es letzten Endes das, was mindestens einem Praktiker am ehesten einleuchtet. Alle Versuche, über den Einzelfall, den man eben nur konkret mit einem Regisseur und mit dem Material und mit der Vorstellung, die zugrunde liegt, abhandeln kann, hinaus, Montage allgemeingültig zu erklären, alle diese Versuche scheitern. Es gibt zwar immer wieder den Rekurs auf bestimmte äussere Elemente, um etwas zu beschreiben. Gängiges Beispiel ist, für eine bestimmte Montagesequenz alles gleich lang zu machen. Nehmen wir an: sieben Einstellungen, alle eine Sekunde lang. In diesem Bereich würde man wahrscheinlich diesen Rhythmus spüren, aber sobald es ein bisschen mehr ist, sobald es sieben Mal zwei Sekunden sind, bekommt die einzelne Einstellung mehr Gewicht, beginnt stärker zu zählen – und es hat, wenn ich mich ein bisschen auf die Äste rauslasse, in Gottes Namen jede Einstellung ein anderes spezifisches Gewicht und erzeugt damit, beim Anschauen, einen anderen Eindruck von Länge. Einfaches Beispiel: eine riesige Totale muss ich länger anschauen können, bis ich als Zuschauer etwa das Gleiche erfahren habe, wie wenn mir eine Detailaufnahme gezeigt wird, die sofort einleuchtet. Wenn ich jetzt diese Totale und das Riesendetail gleich lang stehen lasse, dann wirkt es subjektiv vom Eindruck her eben nicht gleich lang. Und von da her bin ich zumindest ein bisschen skeptisch gegenüber solchen Formen von Metrik. Der Rhythmus ergibt sich durch andere Dinge, etwa durch das Ausbalancieren solcher Gewichtsfragen.

Eine gewisse Vorgabe gibt es natürlich vom Drehbuch her, wenn es ein Drehbuch gibt. Eine gewisse Vorgabe gibt es durch Wünsche des Regisseurs. Eine gewisse Vorgabe gibt es von Besetzungen her. Ich kann ein Drehbuch mit einem Helden in der Hauptrolle schreiben. Wenn ich diese Rolle mit einer kümmerlichen, eindeutig schwachen Figur besetze, dann habe ich eine völlig andere Geschichte und damit eine andere Vision. Wobei auch darüber verhältnismässig schwierig zu reden ist, weil sich vieles im Unwägbaren abspielt.

Eigentlich spürt man die Vision am ehesten in Filmen, die an ihrem Anspruch scheitern. Da, wo man spürt, da hätte eigentlich das und das entstehen sollen. Da kann man nun analysieren, wieso, weswegen, warum das nicht geklappt hat. Um den Balanceakt auf die Spitze zu treiben: Wenn ich eine Tragikomödie machen möchte und lande bei irgendwelchem Schenkelklopf-Humor, dann ist es mir einfach missglückt. Wenn ich eine Tragikomödie machen will, und es gibt nichts zum Lachen oder mindestens zum Schmunzeln, sondern alles tieftraurig ist, dann ist auch da etwas schiefgegangen. Solche Vorentscheide hinterher zu korrigieren, ist ziemlich schwierig und in der Regel nicht machbar. Ich kann mich aber an einen konkreten Fall erinnern, wo man bei einem Film, der ein leicht ironischer Krimi sein wollte, der aber um die entscheidende Nuance zu schwer daherkam, hinterher noch einen Off-Kommentar dazugebaut hat, mit Sätzen, die dann genau dieses leicht distanzierte, leicht ironische Klima erzeugten, und obwohl es für das Verständnis der Geschichte gar nicht nötig war, hat es dem Klima des Films gut getan. Das war motten im licht von Urs Egger. Es gibt ziemlich am Anfang eine Stelle, wo ein Einbrecher von einer Dame überrascht wird. Sie schiesst auf ihn, verfehlt ihn aber, er stolpert, haut ab, fährt im Auto davon und sagt nach einer Weile während der Fahrt im Off: «Ich war es nicht gewohnt, dass eine Dame gleich beim ersten Rendez-vous auf mich schiesst. Entweder sie hatte keine Nerven oder sie hatte etwas zu verbergen.» Und schon ist etwas lanciert. Und es tat in der Situation gut. Ein im Grunde genommen toter Moment wurde da ein bisschen aufgeladen. Es war zwar ziemlich schwierig, Stellen zu finden, wo der Text reinpasste, ohne die Handlung entscheidend zu hemmen oder zu stören, und stellte auch Anforderungen an den Drehbuchschreiber, denn es gab eben Längenvorgaben: da dürfen es drei Sätze sein, und da muss einer genügen.

FILMBULLETIN Der Ton beeinflusst die Wahrnehmung auch.

GEORG JANETT Natürlich, deshalb gehöre ich zu denen, die sich nicht sonderlich darüber freuen, dass das schleichend in die Hände der Tonmeister übergegangen ist, auch wenn ich sehe, dass mit der Zunahme von Elektronik, mit diesen neuen Apparaturen – mit denen ich nicht mehr umgehen könnte –, dass diese Technik mittlerweile einen eigenen Fachmann braucht. Aber es stellt neue Anforderungen an die Kommunikation, und da, wo sich die Dinge nicht automatisch von selber ergeben, muss man, wenn man wirklich eine Vorstellung hat, mit dem entsprechenden Tonmeister reden – wenn es diese Möglichkeit überhaupt gibt – und sagen: da hätten wir eigentlich noch, siehst du, da, genau in dem Moment müsste eine Glocke läuten oder die Krähe krächzen.

Bis vor gut zehn Jahren, zwölf Jahren, haben wir im Schneideraum auch den Ton gemacht, also die Mischung vorbereitet. Zwölf, fünfzehn, sechzehn Bänder je nach Grösse des Films. Häufig war das ein ziemlicher Krampf, der diverse Nachtschichten nach sich zog. Dabei habe ich immer wieder festgestellt, dass ich im Zustand der totalen Übermüdung wesentlich besser höre, weil ich sozusagen den visuellen Sinn abschalte – ich meine, das Bild kenne ich eh, damit habe ich mich jetzt ungefähr zwei Monate lang jeden Tag beschäftigt. Dass ich sehr viel besser, sehr viel genauer höre, hat aber einen

Preis: ich kann mich nicht mehr entscheiden. Ich kann dem Regisseur schildern: Hör mal, da im Off fährt dieses Auto durch, das können wir leiser nehmen, dann bleibt das homogen, oder wir können es ein bisschen lauter nehmen, dann wirkt es wie ein kleiner Störfaktor, der aber nachher von einem andern Autogeräusch aufgenommen wird. Man kann es beschreiben, aber entscheiden soll es der – hoffentlich ausgeschlafene – Regisseur. Und das natürlich nicht nur auf ein Geräusch, sondern auf eine Summe von Elementen bezogen, auch auf die Lautstärke der Musik.

Musik ist ja auch wichtig in einem Film, egal ob dokumentarisch oder fiktional, weil sie sehr verschiedene Funktionen haben kann, ob sie jetzt eine Stimmung trägt oder eine Stimmung von weiter vorne im Film wieder aufnimmt, daran zurückerinnert, ob sie etwas vorbaut, ob sie eine Bedrohung schafft, obwohl das, was man sieht, vorläufig noch gar nicht bedrohlich wirkt. All diese kleinen internen Verschiebungen gegenüber dem, was einen vordergründig anspringt, sind Dinge, wo die Musik oder Geräusche eine wichtige Rolle spielen können, mit denen man eben auch arbeiten soll.

Vielleicht ist das ja mit ein Grund, warum ich sage, dass ich zu meinem grossen Leidwesen kein grosser Musikkenner bin. Ich kann so das gängige Repertoire einer mittleren Bildung zuordnen und auseinanderhalten, aber wirklich über Musik mitreden kann ich nicht. Ich bedaure das ungeheuer, zumal ich es auch mit Regisseuren zu tun hatte, die über einen ausgesprochen musikalischen Verstand verfügen. Das fing an mit Kurt Früh, der ungeheuer musikalisch war – dem konnte man Noten in die Hand drücken, er setzte sich ans Klavier und hat das ab Blatt gespielt. Das war zum Beispiel jemand wie Rolf Lyssy, der selber Musik macht, das ist jemand wie Peter Schweiger, der einen sehr umfassenden Musikverstand hat, und das ist jemand wie Friedrich Kappeler, der selber singt, glaube ich. Friedrich hat in den Filmen, die ich mit ihm gemacht habe, nicht mit eigens für den Film hergestellten Neukompositionen gearbeitet, sondern mit bestehender Musik, wobei die Suche nach dieser Musik aber ungeheuer anregend war. Natürlich habe ich auch das Gegenteil erlebt. Leute, die richtiggehend Verständigungsschwierigkeiten hatten mit den Komponisten, weil man in verschiedenen Sprachen miteinander gesprochen hat.

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(Bild: Dreharbeiten zu Konfrontation; Kurt Gloor, Fritz Maeder und Georg Janett)

FILMBULLETIN Beim Schneiden, denkst du dir den Ton einfach mit?

GEORG JANETT Ja, musst du. Du hattest ja nie mehr als zwei Tonspuren, die du parallel laufen lassen konntest, all die andern hast du einfach mitgedacht beziehungsweise mitgehört. Heute musst du das in einem noch stärkeren Mass tun, weil du die Synchronbänder schneidest und da ist nur der Dialog und der Direktton drauf, alles andere musst du dir halt dazudenken.

Das ist auch ein bisschen eine Gedächtnis- und Konzentrationsarbeit. Das sind so Dinge, die es braucht für diesen Beruf. Es gibt – wenn ich mich geschwollen ausdrücken will –einen bestimmten Phänotyp sowohl für die Kamera wie für den Schnitt wie für den Ton. Da gibt es ein paar Kriterien. Sicher gehört die Teamfähigkeit dazu. Ganz am Anfang unseres Techniker-Verbandes haben wir mal bei den Mitgliedern eine Umfrage gemacht, nicht systematisch, aber doch ziemlich umfassend, darüber, wie sie aufgewachsen sind. Die Filmtechniker kamen mit ganz ganz wenig Ausnahmen alle aus kinderreichen Familien, während die überwiegende Mehrheit der Regisseure Einzelkinder waren. Es braucht – positiv formuliert – eine Form von weitgespannten allgemeinen Interessen, die – negativ formuliert – dazu führen, dass man nicht unbedingt sofort eine eindeutige Richtung in diesem breiten Interessenfächer hat und am Ende aufgrund von negativer Auswahl beim Film landet. Dann wohl auch die nötige Breite an Interessen und Flexibilität mitbringt, um auf ganz verschiedene Dinge einsteigen zu können. Ich hab mich immer gegen die allzuschnelle Verfachsimpelung gewehrt und behaupte auch heute noch, wenn man in diesem Metier nur seinen Beruf kann, kann man seinen Beruf eben nicht. Man muss auch von den Dingen links und rechts eine Ahnung haben und wissen, wie sie funktionieren.

Filmen in einem kleinen Land ist etwas anderes als Filmen in einer entwickelten Industrie. Der Grad der Spezialisierung wird durch die Kleinheit automatisch kleiner. Ein simples Beispiel: Bei uns macht praktisch jeder sowohl Spielfilme als auch Dokumentarfilme. Manche, wie ich, mögen das ausgesprochen gern und haben den Eindruck, dass das eine das andere befruchtet. Andere haben vielleicht Angst vor einem Spielfilm und fühlen sich mit der grösseren Freiheit eines Dokumentarfilms wohler. Wieder andere haben das Gefühl, Film sei eigentlich Fiktion, und was nicht Spielfilm ist, interessiert sie nicht. Diese Tendenz ist in grösseren Ländern natürlich stärker. In Frankreich etwa führt dies zu einer strikten Trennung. Dort darf man einen Spielfilm erst schneiden, wenn man – das werde ich nie verstehen – zum Beispiel drei Dokumentarfilme geschnitten hat. Man muss sich das sozusagen verdienen. In Frankreich wäre ich in meinem Beruf, so wie ich mein Leben lang funktioniert habe, ein Exot. Bei uns läuft die Ausbildung über Assistenzen, und wenn man sich bereit fühlt, es selber zu versuchen, und jemanden findet, der genügend Zutrauen zu einem hat, steht dem nichts im Wege.

Nebst den breitgespannten Interessen und der entsprechenden Flexibilität, die sich nicht nur auf Themen, sondern eben auch auf Leute bezieht – einem gewissen Mass an Anpassungsfähigkeit also an teilweise sehr unterschiedliche Personen, mit denen man dann wiederum, je nach den Umständen jeden Tag acht Stunden zusammensitzt –, gibt es da ganz verschiedene Konzepte, die von den jeweiligen Regisseuren abhängen, die demzufolge von Film zu Film anders sein können. Neben der Anpassungsfähigkeit braucht es aber auch den Widerstand. Jeder kennt den Spruch «Der Krieg ist der Vater aller Dinge». Griechisch-Kenner wissen, dass «Krieg» in der ursprünglichen Bedeutung sehr viel weiter gefasst ist, auch für Auseinandersetzung oder Konflikt stehen kann. Manchmal geht es nicht anders, manchmal muss es im Schneideraum zu Konflikten kommen, und die muss man eben auch durchstehen können. Solche Konflikte haben aber nichts mit der Person zu tun. Ich gehe davon aus, beide wollen das beste – die beiden auf der einen Seite des Vierecks wollen mit der dritten Seite des Vierecks das beste, um an die vierte Ecke heranzukommen. Und von daher muss man in diesen Auseinandersetzungen von der Person abstrahieren können.

Während der Schneidephase habe ich bis zu einem gewissen Grade durchaus den Eindruck, ungefähr gleichwertig zu sein. Der Regisseur, die Regisseurin hat zwar bereits viel Arbeit für den Film geleistet, aber jetzt kommt eine Phase, wo ich eben dazukomme. Manchmal muss man um des lieben Friedens willen aber dennoch Dinge machen, die man eigentlich nicht machen möchte, weil das halt zu den fixen Ideen eines Autors gehört. Ich arbeite zum Beispiel sehr gern mit Archivmaterial, das mir nicht gerade die Wahrheit bringt, aber doch einen Aspekt zeigt, wie ein bestimmter Vorgang, sagen wir 1940, in der Schweizer Wochenschau gesehen wurde. Ich habe aber überhaupt keine Hemmungen, dieses Material dann auseinanderzunehmen und unter Umständen neu zu schneiden. Das ist für jemanden wie Richard Dindo ein unmögliches Verfahren. Für ihn sind das Dokumente, und Dokumente rührt man nicht an, die kann man nur weglassen oder nehmen, wie sie sind. Das sind unterschiedliche Haltungen, die man respektieren muss. Für mich ist die einzelne Einstellung das Dokument und nicht die Art, wie das 1940 geschnitten und vertont wurde. Mit Peter Schweiger habe ich einen Fernsehfilm, der aber outside gedreht wurde, über Arthur Honegger gemacht – ich glaube, damals sogar noch auf 35 mm. Hans Liechti hat gedreht. Da gibt es eine Symphonie, die Honegger in der Kriegszeit geschrieben hat. Wir haben den ersten Satz verwendet, der so ein bisschen von Krieg «spricht» – Musik spricht ja nicht, die evoziert höchstens. Und da war dann die Frage: Wie bauen wir den Krieg sozusagen im Schnellgang ein? Peter Schweiger hat sehr viel, sehr schönes Material aus französischen Archiven besorgt, und ich hab das neu zusammengeschnitten zu einer Sequenz, in der der Krieg in Frankreich daraus besteht, dass die Deutschen in Paris einmarschieren, ein paar Häuser zusammenfallen, ein paar Leute sich grämen, die Amerikaner und De Gaulle marschieren ein – das war etwa die selbe Bewegung mit zum Teil den selben Gesichtern, den selben Strassen. Der Rhythmus war ein bisschen auf die Musik angepasst, und das hat gut funktioniert.

FILMBULLETIN Würdest du Cutter oder Schnittmeister, wie das früher hiess, als deinen Hauptberuf bezeichnen?

GEORG JANETT Ja. Wobei, immer möchte ich das doch nicht machen. Im Winter gehst du aus dem Haus, wenn es Nacht ist, gehst in einen Schneideraum, der dunkel ist, und kommst raus, wenn es wieder Nacht ist. Du lebst eine Dunkel-Existenz. Im Sommer ist es einfacher, aber da leidest du darunter, dass draussen die Sonne scheint und du irgendwo im Dunkeln sitzt – oder mindestens im Halbdunkel. Man sitzt da rum und ist immer eingesperrt. Da packt mich von Zeit zu Zeit der Rappel, und ich muss raus, mach Regieassistenz oder dreh selber was.

FILMBULLETIN Kannst du dir die Arbeit mittlerweile auswählen, selbst bestimmen, was du machen willst?

GEORG JANETT In der besten Phase ja, aber das war vielleicht ein Zeitraum von zehn, zwölf Jahren, wo ich mich jenes Maximums erfreute, das man in der Schweiz als Filmtechniker erwarten kann und das darin besteht, dass man unter verschiedenen Angeboten für den gleichen Zeitraum wählen kann, was einem am ehesten zusagt, einem entspricht, oder wo man das Gefühl hat, mit dem Regisseur möchte man unbedingt mal arbeiten. Sonst aber: nein. Vorher und nachher: nein. Und auch heute wird es den meisten Technikern so gehen, dass sie die Angebote annehmen müssen, die kommen, und es kommen nicht so viele, wenn sie in dem Beruf überleben wollen. Die Zahl der Filme, vorab der freien Produktionen nimmt zwar zu, aber in einem noch stärkeren Masse nimmt auch die Zahl der Kandidaten für die Arbeit zu.

FILMBULLETIN Was war dein kreativer Einfluss auf die Filme? Richard Dindo hat geschrieben: «Ohne dich wären unsere Filme nicht, was sie sind.»

GEORG JANETT Das wiederum müsste man von Film zu Film überprüfen. Wenn ich, wie bei den frühen Filmen von Rolf Lyssy, sowohl beim Drehbuch mitarbeite, Regieassistenz mache und den Film auch noch schneide, ist mein Einfluss klar grösser und eindeutiger als bei Filmen, die ich «nur» schneide.

Wenn man eine Einflussnahme definieren will, dann ist es wohl eher eine Frage der Haltung. Kurt Früh hat mir beim ersten gemeinsamen Dokumentarfilm, bei diesem filmischen Pamphlet, gesagt, wenn ich ihn da nicht dauernd ans Schienbein getreten hätte, wäre der Kommentar wohl nicht so gut geworden, nicht so perfekt auf den Film angepasst.

Ich sag das ungern, und manchmal stört es mich selbst, aber ich habe wohl eine gewisse Tendenz zum Perfektionismus und habe Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, gebraucht, mich damit abzufinden, dass die Filme eben den jeweiligen Entwicklungsstand, den Stand des jeweiligen Wissens und Könnens repräsentieren. Aber anstreben darf man doch mehr – was man ja auch immer wieder versucht. Manchmal glückt’s. Aber es glückt so selten, dass man eigentlich nie zufrieden sein kann. Etwas, was mich zumindest von vielen unterscheidet: ich bin kein zufriedener Mensch. Schlicht und einfach nicht. Weder selbstzufrieden noch sonst irgendwie zufrieden. Ich kann einen Film nach der Premiere für mindestens zwanzig Jahre nicht mehr anschauen, weil ich nur noch die Fehler sehe, die kleinen Fehler, all die Dinge, die nicht genau stimmen. Notgedrungen nimmt man dies dann als Ansporn, es beim nächsten Film vielleicht wirklich so weit zu bringen, dass man da tatsächlich rundherum zufrieden ist. Das heisst, man stösst den Stein wieder hoch, wie weiland Sisyphus, und hofft, er bleibe diesmal oben.

Das kann manchmal etwas verbissen, verbiestert wirken, weil mir leider das Spielerische doch weitgehend abgeht, das wohl der Gegenpol dazu wäre, den es – da bin ich absolut sicher – auch braucht. In dem Sinn habe ich vielleicht die Perfektionswut an «Spieler» herangetragen, und wenn ich mit Perfektionswütigen konfrontiert war, in einer – hauptsächlich intellektuellen – Anstrengung vielleicht das Spielerische mehr betont.

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(Equipe von Die Schweizermacher)

FILMBULLETIN Wie entstehen gute Filme?

GEORG JANETT Mit einer Haltung und den richtigen Mitarbeitern, die im Idealfall zwei Anforderungen erfüllen: Sie können etwas mit dem Thema des Films anfangen, und sie sind von der Chemie her mit dem Regisseur und dem Rest der Equipe kompatibel. Das ist ganz einfach und gleichzeitig ungeheuer schwierig. Und wäre jene Kunst, die vor allem ein Produzent beherrschen müsste, aber – ich hab den Konjunktiv nicht umsonst gewählt.

FILMBULLETIN Und wie schätzt du deinen Einfluss auf den Schweizer Film – durch dein Mitwirken, dein Wissen, dein Können – selber ein?

GEORG JANETT Die berufliche Tätigkeit mag für den einen oder andern Film etwas bedeutet haben, aber für den Schweizer Film generell gesprochen nahm ich höchstens durch meine Nebentätigkeiten etwas Einfluss. Zum Kreativen gehören für mich auch Arbeitsbedingungen. Und für mich hat zur kreativen Arbeit immer auch die Arbeit für den Techniker-Verband gehört, den wir da, am Anfang mit Renato Berta und Madeleine Fonjallaz – André Pinkus nicht zu vergessen – auf die Beine gestellt haben. Anfangs der siebziger Jahre wieder zu einem einigermassen geordneten Gebilde zu kommen, den Kurs durch ein paar entscheidende Vorgaben mitzusteuern, um aus der praktisch Nullsituation wieder zu vernünftigen Verhältnissen mit Vertragspartnern, Sozialpartnern, Produzenten oder Regisseuren zu gelangen, da habe ich wohl schon einiges bewirkt im Sinne einer wechselseitigen Verständigung – die zum grossen Teil allerdings mit der nachfolgenden Generation auch schon wieder in die Hosen gegangen ist.

Mir war immer klar, dass Produzent ein Beruf ist. Wenn ein Regisseur, nebst allem andern, was er zu tun hat, sich das auch noch anschnallen will, dann ist das seine Sache. Aber das kann, bei aller Ehrfurcht vor dem Autorenfilm, kein Dauerzustand sein. Gleichzeitig macht mich natürlich unglücklich, dass mindestens gewisse Produzenten heute so dominant geworden sind, dass sie die Stoffe selbst entwickeln, wie Produzenten in Hollywood in seiner industriellsten Phase funktionieren möchten, mit Publikumsumfragen mögliche Stoffe eruieren wollen, sich ihre Equipen zusammensetzen, bei der ein Regisseur, hat man manchmal den Eindruck, nur dazu dient, dem Produzenten die Schauspieler vom Leibe zu halten. Das ist eine Entwicklung, die mir nicht sonderlich passt. Deswegen habe ich auch mehrheitlich mit jenen Produzenten zu tun, die so in den siebziger, achtziger Jahren angefangen haben und einigermassen wissen, was eine funktionierende Equipe, ein funktionierendes Team – inklusive Regisseur – wert ist, und sich nicht mehr in den Vordergrund drängen als nötig.

Natürlich waren viele von den Leuten der heute mittleren Generation einmal Assistent bei mir, und ich nehme an, sie werden schon das eine oder andere mitgekriegt haben, mindestens an Haltung. Sehr viel mehr kann man ohnehin nicht mitteilen, weil die Dinge immer wieder anders sind. Das ist ja auch das, was einen in dem Beruf halten kann: es ist immer wieder anders. Gleichzeitig ist es immer wieder dasselbe. Wenn’s einem stinkt, lebt man vom andern, und wenn’s einem nicht stinkt und man in Euphorie gerät, muss man sich sagen: es ist immer dasselbe. (lacht) Ich hab da ein gewisses Mass an, sagen wir mal, skeptischer Distanz. Das gehört, glaube ich, zu den Grundvoraussetzungen bei diesem Beruf.

Wenn es darum geht, mit Sprüchen um sich zu werfen, hat mir Renato Berta, mit dem ich gut auskomme, einige vorweggenommen. Zum Beispiel, wenn er sein Unverständnis über jene Equipen bekundet, die einen Regisseur deswegen mögen, weil er weiss, was er will. Ein Regisseur muss nicht wissen, was er will, er muss wissen, was er sucht. Das gilt natürlich genauso für mich im Schneideraum wie für ihn als Kameramann. Und das verweist wieder auf diese Vision, die da am Anfang des Vierecks steht.

FILMBULLETIN Eine andere Vision vom Film, vom Kino als …

GEORG JANETT … als eine industrielle Fertigung, völlig klar. Solches Kino stinkt mir in jeder Beziehung; stinkt mir auch als Zuschauer. Ich langweile mich einfach, wenn das Zeugs zu durchsichtig und zu absehbar ist, weil es mit den ausgelutschten Formeln hergestellt wurde. Das merkt man relativ bald, und das macht einfach keinen Spass. So geht’s mir übrigens bei der Mehrzahl der am Sonntagabend laufenden sogenannten Fernsehfilme, die ihre Verdienste ja haben mögen, aber wohl in erster Linie für die Produzenten, die sich damit ein gewisses Mass an Kontinuität sichern können.

FILMBULLETIN Was war denn der beste Film, an dem du mitgewirkt hast?

GEORG JANETT Auf jeden Fall würde ich nicht einen einzigen hervorheben wollen, sondern etwa drei nehmen. Ich würde sagen, Der Gehülfe, weil ich das immer noch für einen der wirklich schönsten halte. Ich würde sagen, Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S., weil es der umstrittenste war, der relativ frühzeitig diese Verdrängungen, die unser Verhältnis zur Kriegszeit gekennzeichnet haben, eliminieren konnte und deswegen auch einen historischen Meilenstein darstellt. Das war natürlich mindestens so sehr Niklaus Meienberg wie Dindo zu verdanken. Dann würde ich sagen Die Schweizermacher, weil das einfach mit Abstand der erfolgreichste war, aber auch weil er – und das entsprach dem Talent von Rolf Lyssy, an das er damals selber noch nicht in dem Mass glauben mochte – das richtige Thema zur richtigen Zeit aufgegriffen hat. Also: eine Angelegenheit der Nase. Für mich eine interessante Arbeit, weil ich – abgesehen davon, dass ich ein bisschen mitgeschrieben habe – als Regieassistent dafür sorgen konnte, dass bestimmte Dinge so gedreht wurden, dass es hinterher noch andere Möglichkeiten gab, sie zusammenzufügen, als die, die im Drehbuch vorgesehen waren. Zum Beispiel: Wann – es ist ja ein Film, der sich über einen gewissen Zeitraum erstreckt –, also wann werden die Leute ihr Kostüm wechseln? Ab welcher Szene im Drehbuch? Denn ich habe von Anfang an gespürt, dass das Drehbuch so im Schneideraum nicht halten wird. Im Grunde ist es ja eine Geschichte von drei Kandidaten, die verschiedene Stufen der Annäherung an das Schweizersein erleben. Das Drehbuch war recht systematisch: A1, B1, C1; A2, B2, C2; A3, B3, C3 und so weiter. Und mir war klar, das würde nicht aufgehen, das ist zu tranig, zu langweilig am Anfang. Und weil ich eben dafür gesorgt habe, dass es bei B3 noch das selbe Kostüm war wie bei B1, gab es im ersten Drittel des Films viele Kombinationsmöglichkeiten, die ich dann beim Feinschnitt ausnutzen konnte. Beim Rohschnitt habe ich das Ganze hintereinander gehängt, wie es im Drehbuch stand, und dann war klar: Da wird man etwas machen müssen. Ich hatte mir schon ungefähr überlegt, wie, was, und es war dann relativ schnell umgestellt und perfektioniert.

FILMBULLETIN Rolf hat nicht gemerkt, dass du die Kostüme so eingeteilt hast?

GEORG JANETT Das war eine Absprache mit der Kostümbildnerin, und die richtet sich, wenn sie nicht mit dem Regisseur reden kann und der hat genug anderes zu tun, eben nach dem Regieassistenten – das war kein grosses Problem. Es waren auch Dinge, die aus dem Drehbuch nicht so eindeutig hervorgingen.

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(Bild: Die Schweizermacher)

FILMBULLETIN Du hattest von der Ausbildung her alle Voraussetzungen, Filme zu machen, was hat dennoch gefehlt, dass es nie einen grösseren Film von dir gab?

GEORG JANETT Da müsste man zwei Dinge voneinander trennen. Etwas, was relativ offensichtlich ist, und etwas, das eher in den psychologischen Bereich gehört. Das Offensichtliche ist, dass ich es mir schlicht und einfach nicht leisten konnte, mal ein halbes oder ein ganzes Jahr für ein Drehbuch auszusteigen. Und ich hab ja genügend miterlebt, wie zäh und mühsam die Finanzierung eines Films sein kann. Daraus entwickelt sich relativ schnell, vor allem in der Kombination mit dem zweiten, was ich nachher nennen will, das Gefühl oder die dauernde Frage: muss es sein, ist es wirklich so wichtig? Ich hab seinerzeit mit grossem Vergnügen die Gelegenheit genützt, meine «Bulles d’utopie»-Serie mit gescheiterten Utopien zu machen. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass mich nicht Utopien interessiert haben, sondern gescheiterte.

Ich hoffe, es handle sich nicht um Altersmilde, aber ich bin ein bisschen davon weggekommen, was ich früher zu sagen pflegte: Ein Film ist dann gut, wenn die Leute auf den Knien aus dem Kino kommen. Ich hatte den Eindruck, man muss wirklich ein starkes und, vielleicht entspricht das meinem Naturell, eher depressives Bild einer nicht allzuschönen Welt zeichnen, damit ein Film Sinn macht. Die Feier des Schönen ist gleichzeitig auch eine Lüge.

Das andere … Wenn ich weit aushole, dann fang ich bei Hugo von Hofmannsthal und dem Brief von Lord Chandos an. In einer Schreibkrise hat er als Rollenprosa einem englischen Lord untergeschoben, dass er nicht mehr richtig an die Sprache glauben mag, dass ihm die Worte im Mund zerfallen und er deshalb wohl eher schweigen müsse. Im Grunde genommen ist es wohl eine Art Hassliebe, die mich mit dem «wirklichen» Film verbindet. Der industriell gefertigte interessiert mich hinten und vorne nicht – auch nicht, ihn selber zu machen. Die Resonanz bei einem Film, der mich interessiert hätte, wäre vorhersehbar, weil ich wohl nur finstere Filme machen könnte, und finstere Filme schaut sich kein Mensch an. Ich hab mich nie zu jener Lebensfreude bekehren können, die wohl auch hinter einem eher dunkel getönten Film stehen muss, damit er noch einigermassen erträglich bleibt. Und nur für’s Archiv zu produzieren, das hätte mich dann doch zu wenig interessiert.

FILMBULLETIN Heisst das, dass du in der Filmförderungskommission vor allem finstere Filme gefördert hast?

GEORG JANETT Nein. Dort habe ich so funktioniert, wie man als Cutter funktionieren muss. Das heisst, aus einem vorliegenden Projekt heraus die Kriterien zu entwickeln, nach denen es beurteilt werden soll, und dann zu betrachten: das ist das Umfeld, das ist der Regisseur, geht das einigermassen zusammen? Ja, das könnte einigermassen aufgehen. Wie läuft das mit der Produktion? Geht das auf? Also mit projektimmanenten Kriterien, denn ich bin ein vehementer Gegner der von aussen herangetragenen Kriterien, wie sie – nicht nur meiner Meinung nach, sondern Erzählungen von Kollegen zufolge und dem Eindruck, den ich aus den Produkten bekomme – zum Beispiel in unserer Fernsehdramaturgie vorhanden sind. Diese «goldenen» Regeln eben, die ja für bestimmte Filme, für eine bestimmte Form von Filmen ihre Gültigkeit haben mögen, die man aber nicht verabsolutieren darf. Ich bin völlig unfähig zu sagen, so oder so muss es sein. Ich kann höchstens sagen: so nicht. Die Offenheit, die braucht es einfach. Und wenn ich da heute wieder sehe – man spürt ja auch beim Bund Tendenzen –, das erste, was die sich überlegen, sind Marktchancen. Aber Marktchancen kann man ja immer nur aus der Vergangenheit herleiten, also landet man ganz schnell wieder bei diesen Rezepten, wie man was machen muss. Und dagegen verwahr ich mich.

Summa summarum: als Folge der Erfahrungen würde ich heute vermutlich sagen, dass ein Film, im Gegensatz zu dem, was bestimmte Leute sagen und woraufhin sie Filme analysieren, wenig bis gar nichts mit Literatur zu tun hat. Ich denke, er ist näher bei der Musik. Musik im Sinne von etwas, das sich letzten Endes dem Begrifflichen entzieht und mehr mit Anspielungen, Emotionen arbeitet. Mit immanenten Baugesetzen, die sagen, wenn dieses Motiv am Anfang mal aufgetaucht ist, wäre es schön, man könnte es, wenn auch wahrscheinlich leicht abgewandelt, da nach drei Vierteln wieder aufnehmen – und hangelt sich so durch die vorgegebene Länge, die in der Regel, simpel ausgedrückt, eben literaturähnlich durch eine Geschichte gegeben ist, wo aber letzten Endes die Geschichte nicht das Entscheidende ist. Ich sehe das mit grossem Vergnügen – ich nehme ein Beispiel – immer wieder bei dem Ingenieur des amerikanischen Kinos Howard Hawks, wo manchmal die Geschichte wirklich ein blosser Vorwand ist, um bestimmte Leute bestimmte Dinge tun zu lassen, und man ist hingerissen, ob der Intelligenz, mit der das geschieht, ob dem Humor, dem Witz, mit dem das geschieht. Es sind solche Dinge, die für mich das Kino ausmachen.Das Gegenbeispiel beziehungsweise die Illustrierung dieser These wäre das, was im Deutschland der Nachkriegszeit Problemfilm hiess, wo irgendwelche willkürlichen Probleme entsprechend literarisch oder theatralisch in lauter schrecklichen Filmen abgehandelt wurden, die mit Film nichts zu tun hatten, mit der Problemabhandlung wenig – und mit Musik schon gerade gar nichts.

Das Gespräch mit Georg Janett führte Walt R. Vian

(Titelbild: Georg Janett während der Filmarbeitskurse; letztes Bild: Der Gehülfe)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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