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Birds nest 03

Auf dem Weg in die gesellschaftliche und politische Gegenwart

Die Mühe des Schweizer Films mit der kritischen Befragung politischer Autoritäten, der Auseinandersetzung mit ungelösten Skandalen oder umstrittenen Institutionen, sticht auch an den 43. Solothurner Filmtagen ins Auge (die Scheu darf auch als Abbild einer fehlenden Streitkultur und eines mangelnden politischen Bewusstseins weiter Teile der Gesellschaft gelten; damit soll jedoch nicht dem Populismus das Wort geredet werden!).

Text: Nicole Hess / 01. Jan. 2008

Am Tag, als Christoph Blocher als Bundesrat abgewählt und an seiner Stelle Eveline Widmer-Schlumpf erkoren wurde, fand sich auf YouTube eine bemerkenswerte Reportage. Unter dem Titel «Gebrüder Blocher» begleitet der Filmemacher Roland Huber den Bruder des scheidenden Bundesrates, Pfarrer Gerhard Blocher, zu Wahlveranstaltungen und ins Bundesratszimmer. Ohne explizite Interpretationsarbeit des Regisseurs, einfach indem er im richtigen Moment zugegen ist, Kamera und Mikrofon installiert und hie und da kumpelhaft nachfragt, entfaltet sich vor unsern Augen implizit ein Netz aus moralischen Verstrickungen: Christoph Blocher erscheint als Akteur einer Familientragödie, in der es um religiösen Fundamentalismus, unverarbeitete Kränkungen des Vaters und wahnhafte Vorstellungen eines diffusen «Auftrags» geht. Gotthelf lässt grüssen, und man denkt an Deutschland in der Nacht.

Politische Porträts von der Hellsichtigkeit und Schärfe des halbstündigen Beitrags von SF DRS sind im Schweizer Dokumentarfilmschaffen nach wie vor eine Rarität. Anders als in Frankreich, wo der ehemalige Staatspräsident Jacques Chirac zu Regierungszeiten in dem bitterbösen Kinodokumentarfilm Dans la peau de Jacques Chirac (Michel Royer/Karl Zero, 2006) demontiert wurde; anders auch als in Grossbritannien, wo der Fernsehsender Channel 4 mit dem amtierenden Premierminister Tony Blair in der ätzenden Satire «The Trial of Tony Blair» (Simon Cellan Jones, 2007) abrechnete, herrscht in der Schweiz gegenüber dem politischen Establishment eine seltsame Berührungsangst – auch eine der Machthaber gegenüber dem Kino. Nahe zu zwanzig Jahre hat es gedauert, bis der Fall Elisabeth Kopps in Eine Winterreise (Andres Brütsch, 2007) filmisch aufgearbeitet wurde; aus dem Porträt «Mécanique politique» über Bundesrat Moritz Leuenberger, das Norbert Wiedmer in dessen Präsidialjahr drehen wollte, ist ein Gerichtsfall geworden. Und es wird wohl noch einige Zeit vergehen, bis ein mit markigen Statements und sprechendem Archivmaterial gespiesenes Couchepin- oder Calmy-Rey-Porträt zur öffentlichen Diskussion beiträgt.

Gartentor kulturminister 01

(Bild: Gartentor, Kulturminister)

Die Mühe des Schweizer Films mit der kritischen Befragung politischer Autoritäten, der Auseinandersetzung mit ungelösten Skandalen oder umstrittenen Institutionen, sticht auch an den 43. Solothurner Filmtagen ins Auge (die Scheu darf auch als Abbild einer fehlenden Streitkultur und eines mangelnden politischen Bewusstseins weiter Teile der Gesellschaft gelten; damit soll jedoch nicht dem Populismus das Wort geredet werden!). In dem rund hundert Dokumentarfilme umfassenden Programm ist nur gerade eine einzige Politrecherche vertreten: Frank Garbelys L’affaire Barschel – Silence de mort, ein Werk von hochgradiger Spannung und Raffinesse. Zudem unternimmt Matthias von Gunten in Max Frisch, citoyen den Versuch, den Zürcher Schriftsteller als einen der letzten einheimischen Intellektuellen mit politischem Selbstverständnis zu würdigen; und mit Gartentor, Kulturminister steuert Andrea Leila Kühni eine Dokumentation der alternativen kulturpolitischen Institution bei.

Anders als letztes Jahr, als sich die Schweiz in Solothurn vor allem als Land der Bergler, Bauern und Künstler repräsentiert sah, das im Gestus eines stolzen Pragmatismus auf traditionellen Werten und anerkannten Grössen beharrt, zeugt der Jahrgang 2008 von einer inhaltlichen und formalen Öffnung. Zwar sind auch diesmal nicht wenige handwerklich saubere, routiniert gemachte Porträts zu sehen – so etwa Christoph Schaubs und Michael Schindhelms Architekturporträt Bird’s Nest – Herzog & De Meuron in China –; und vor allem Tessiner Produktionen steuern klassische Bauern- und Auswanderergeschichten bei (Die letzten Bergbauern von Prugiasco von Remo Legnazzi; Piodascia – Chronik einer Tessiner Familie von Angela Meschini).

Glorious exit

(Bild: Glorious Exit)

Neben diesem konventionellen Bodensatz wartet die Solothurner Werkschau jedoch auch mit Premieren etablierter Regisseure und Newcomer auf, deren thematische und gestalterische Ambition über wohlbekannte Sujets und Macharten hinausführt. Die Palette reicht vom filmisch schlichten Selbstversuch einer Fastenkur No Way to Heaven von Janos Tedeschi) über die Hommage einer Filmkoryphäe im Kleid der Vorlesung (In einem halbdunklen Raum – Georg Janett im Gespräch von Fred van der Kooij) bis hin zu veritablen Filmessays. Jacques Sirons poetischer Bild-Ton-Teppich Thèbes à l’ombre de la tombe, zu dem Pio Corradi die schwebenden Aufnahmen liefert, und Cyrill Schläpfers schnaubende Dampfschiffsymphonie Die Waldstätte gehören zu den Highlights der Filmtage.

Doch nicht nur formal reizen gewisse Filmschaffende die Möglichkeiten dokumentarischen Erzählens aus, indem sie sich auf die Grundbedingungen des Mediums, Bild, Ton und Schnitt, zurückbesinnen und gerade durch die Konzentration die Grenzen des Genres ausdehnen. Auch thematisch wagen einzelne Regisseure den Blick über das vordergründig Sicht- und Hörbare, über nationale, historische und kulturelle Beschränkungen hinaus. So rollt etwa Hidden Heart von Cristina Karrer und Werner Schweizer anhand der ersten Herztransplantation von 1967 in Südafrika die Geschichte der Apartheid auf, hält Paolo Poloni in Salonica mit der Kamera die versprengte jüdische Gemeinde in der griechischen Stadt Thessaloniki fest, verfolgt Kevin Merz in Glorious Exit die Auswirkungen einer europäisch-afrikanischen Herkunft beim Tod des Vaters und ist Felix Tissi in Desert – Who is the Man? in den USA dem menschlichen Wesen auf der Spur.

Mehr als im übrigen Programm erhält der Schweizer Dokumentarfilm in diesen Produktionen sein lebendiges Gesicht. Hier manifestiert er sein Interesse an Lebensfragen und -entwürfen auch jenseits der helvetischen Befindlichkeit und etabliert sich als Teil einer globalisierten und multikulturellen Welt. Nach einer Periode, in der sich das einheimische Filmschaffen fast ausschliesslich in der Rück- und Nabelschau gefiel, sind dies Schritte, die es wieder in der Gegenwart verankern. Es wäre zu wünschen, dass sich die Regisseure mit demselben Mut, derselben Leidenschaft und Akribie, mit denen sie sich «fremden» Konfliktfeldern widmen, auch den gesellschaftlichen und politischen Realitäten der Schweiz stellen – auch wenn die Kleinheit und Enge manchmal hinderlich sind. Wie diese Selbstbefragung unkonventionell gestaltet werden könnte, hat der Fernsehbeitrag «Gebrüder Blocher» gezeigt.

Nicole Hess ist Mitglied der Auswahlkommission der Solothurner Filmtage 2008

(Titelbild: Bird's Nest; letztes Bild: Piodascia – Chronik einer Tessiner Familie)

Chronik einer tessiner 01

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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