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«Wenn das passiert, schliesse ich die Cinémathèque»

In einem Jahr übernimmt Frédéric Maire, derzeit Direktor des Filmfestivals Locarno, die Leitung der Cinémathèque suisse. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, feiert das Filmarchiv bereits am 3. November dieses Jahres seinen sechzigsten Geburtstag. Anlass genug, um mit Freddy Buache, der die Institution während 44 Jahren geleitet hat, auf die Anfänge der Cinémathèque zurückzublenden.

Text: Nicole Hess / 01. Okt. 2008

In einem Jahr übernimmt Frédéric Maire, derzeit Direktor des Filmfestivals Locarno, die Leitung der Cinémathèque suisse. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, feiert das Filmarchiv bereits am 3. November dieses Jahres seinen sechzigsten Geburtstag. Anlass genug, um mit Freddy Buache, der die Institution mit ein paar Monaten Verspätung mitgegründet und später während 44 Jahren geleitet hat, auf die Anfänge der Cinémathèque zurückzublenden.

Im Interview zeigt sich der Vierundachtzigjährige als nach wie vor leidenschaftlicher Verfechter der Filmkunst, schlauer Fuchs und streitbarer Zeitgenosse. Aus dem mehrstündigen Gespräch mit Buache haben wir einige wichtige Stationen seiner Karriere und Begegnungen, die sein Wirken entscheidend prägten, ausgewählt und lassen den passionierten Filmjournalisten, zeitweiligen Kodirektor des Filmfestivals Locarno und Ex-Cinémathèque-Direktor ausführlich im O-Ton zu Worte kommen.

FILMBULLETIN Freddy Buache, Sie haben die Cinémathèque suisse von 1951 bis 1995 geleitet. Wie hat das mit Ihnen und der Cinémathèque begonnen?

FREDDY BUACHE Also erstmal: Die Idee für ein Filmarchiv kam aus Basel, aus dem Kunstmuseum. Ich habe mich damals mit Malerei beschäftigt, kannte daher Peter Bächlin und Georg Schmidt, den Direktor. Das waren Linke, das darf man nicht vergessen. Schmidt war ein ausserordentlicher Mann, der es verstand, Fotografie und Film ins Museum zu bringen – und zwar, bevor die Amerikaner im Moma in New York dasselbe taten. Seit 1943 betreuten sie das Schweizerische Filmarchiv. Zwei Jahre später fanden in Basel Wahlenstatt, die die politische Rechte an die Macht brachten. Diese hat verlangt, dass man sich im Kunstmuseum nur noch um die Picassos, Légers … kümmere. Bächlin und Schmidt verfügten damals etwa über 300 Filmrollen und einige Fotos.

In dieser Zeit war in Lausanne, auf eine Initiative von Henri Langlois hin, der Ciné-Club gegründet worden. Langlois, der charismatische Direktor der Cinémathèque Française, hatte 1945 einen Kongress in Basel geleitet, zu dem wichtige Filmemacher aus Italien, Frankreich et cetera eingeladen waren. 1946 fand die erste Zusammenkunft des Ciné-Club statt, und weil ich damals nicht viel zu tun hatte, wurde ich gefragt, ob ich nicht nach Paris fahren könne, um Filme zu holen. Ich hatte schon einige Erfahrung mit der Cinémathèque Française. Wenn ich kam, hiess es jeweils, ah der Schweizer!

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(Bild: Erstes Büro der Cinémathèque suisse, Place de la Cathédrale 12, Lausanne)

Unser Filmclub war sehr aktiv, und der Präsident, Claude Emery, war auch Präsident der nationalen Filmclub-Vereinigung. Wenn Sie einen Filmclub haben, brauchen Sie Filme. Um an Kopien zu kommen, musste man Beziehungen zu Langlois haben, also musste man versuchen, eine Cinémathèque zu gründen – das war die Überlegung, die Emery 1948 anstellte. Ich war damals noch beim Theater, als Schauspieler und Regisseur. In Lausanne gab es für Film kein Geld, es gab überhaupt nichts – aber Emery wurde der erste Direktor der Cinémathèque suisse, und wir hofften, etwas zu verdienen, indem wir den Filmclubs Kopien vermieteten.

Nach einer gewissen Zeit überlegten wir uns, wie man die Cinémathèque einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen könnte – und organisierten einen Ball. Er fand 1950 im Palace statt, wir hatten zwei Orchester engagiert, trugen – als Linke! – Smoking, und nach dem Ball gab es eine Woche lang Kino, mehr oder weniger von mir zusammengestellt. Das hat ziemlich viel Geld gekostet. Unser grosses Problem war, dass es damals noch kein Filmgesetz gab, und die Kinobesitzer am Ort sich weigerten, unsere Filme zu zeigen. Ich holte für die Grossveranstaltung Erich von Stroheim, weil ich überzeugt war, dass wir einen Patenonkel brauchten, einen, der bekannt war und etwas hermachte. Stroheim verkörperte für mich das Beste der grossen Stummfilmzeit, er war zudem von Hollywood entlassen worden – es gab also viele Gründe, ihn einzuladen (grinst). Er kam mit seiner Frau, wir haben Greed von 1924 gespielt, und zwar in der Aula der Universität, weil wir keinen Kinosaal fanden. Es war zwar eine furchtbare Vorstellung, denn es waren kleine Rollen, dauernd gab es Unterbrechungen, weil die Rollen gewechselt werden mussten, das war nie und nimmer Stroheims Film, aber er war nett und gab eine Pressekonferenz. Die ganze Veranstaltung war ein Erfolg – nur: als wir am nächsten Tag Bilanz zogen, sahen wir, dass es finanziell katastrophal war. Das Komitee wollte die Cinémathèque schliessen. Emery wollte nach Neuchâtel. Ich traf ihn und sagte: «Wenn du die Cinémathèque schleifen lässt, kümmere ich mich darum.» So begann das mit mir und der Cinémathèque, und ich erinnere Sie daran, dass ich während der ganzen Zeit keinen Vertrag hatte!

FILMBULLETIN Sie sagten, dass Sie in den Vierzigerjahren als Theatermacher unterwegs waren: 1948, bei der offiziellen Gründung der Cinémathèque, waren Sie da zugegen? Welche Erinnerungen haben Sie an den Akt?

FREDDY BUACHE Ich muss damals noch mit der Theatertruppe «Faux Nez», die Charles Apothéloz und ich 1946 gründeten, in Frankreich gewesen sein. Der Verein der Cinémathèque hatte einen Sekretär, der mich später darauf aufmerksam machte, dass ich die Gründungsurkunde nicht unterschrieben hätte. Die Statuten sahen jedoch vor, dass man noch während zwei oder drei Jahren nach der eigentlichen Gründung unterschreiben kann. Das habe ich dann getan – also mit Verspätung. Das ist zwar eine Detailfrage, aber es gibt Leute, die gerne darauf herumreiten. Ich habe nie behauptet, dass ich Mitbegründer der Cinémathèque sei.

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FILMBULLETIN Die Cinémathèque war ab 1952 in einer kleinen Zweizimmerwohnung hinter der Kathedrale untergebracht. Wie muss man sich Ihre tägliche Arbeit vorstellen?

FREDDY BUACHE Meine Arbeit bestand zunächst darin, den Filmclubs in der ganzen Schweiz Kopien zu schicken. Während über dreissig Jahren hatten wir keinen eigenen Vorführsaal und zeigten die 35-mm-Filme in den Aulen von Schulen. 1981, als die Cinémathèque bereits einige Aktivitäten entfaltet hatte und Jean-Pascal Delamuraz Stadtpräsident von Lausanne war – ich kannte ihn sehr gut, auch wenn wir nicht derselben Partei angehörten –, sagte ich ihm: «Hör mal, ich bin in einer kleinen Wohnung hinter der Kathedrale und habe furchtbare Probleme mit den Filmkopien, vor allem mit den Nitratfilmen, die leicht brennbar sind.» Sie müssen wissen: Es gab damals fünfundzwanzig verschiedene Orte in der Stadt, wo die Filme aufbewahrt wurden. Da hat Delamuraz für mich eingefädelt, dass wir ins Casino de Montbenon, an den heutigen Sitz der Cinémathèque umziehen konnten.

Während Delamuraz Stadtpräsident war, habe ich ihn auch dazu ermuntert, einmal pro Jahr eine gewisse Geldsumme für die Filmproduktion freizumachen. Im gleichen Jahr feierte das Tourismusbüro 500 Jahre Zusammenschluss der Cité und Ouchys, da entstand die Idee, einige Kurzfilme über Lausanne zu drehen. Ich erstellte eine Liste mit Regisseuren wie Francis Reusser, Yves Yersin und anderen. Eines Tages, um die Mittagszeit, habe ich Jean-Luc Godard erzählt, woran ich gerade arbeite, und der sagte: «Du hast eine Liste gemacht und mich nicht drauf genommen?» Ich sagte: «Hör mal, es gibt kein Geld und ein Film über Lausanne, das interessiert dich doch nicht.» Aber doch, er wollte auf die Liste und hat dann Lettre à Freddy Buache gedreht: Es gab einen grossen Skandal, warum man einen Film über Lausanne ausgerechnet von dem Typen drehen lasse et cetera.

Als wir nach Montbenon umgezogen waren, gab es ein grosses Eröffnungsfest. Ich habe eine komplette Hommage zu Claude Autant-Lara veranstaltet, Bundesrat Hans Hürlimann kam zu Besuch – da hat Bern doch langsam angefangen, sich für die Cinémathèque zu interessieren. In dem Zusammenhang hat man mir dann geraten, aus dem Verein eine Stiftung zu machen; das habe ich getan. Man hat mir auch gesagt, dass es nun einen Stiftungsrat brauche mit einflussreichen Persönlichkeiten wie Bankiers, die Checks bringen würden. Und dann wartete ich auf die Checks … Später, als Delamuraz Bundesrat war, habe ich mit ihm darüber gesprochen, dass alle Filme, die je über die Schweizer Grenze kamen, in der Cinémathèque aufbewahrt werden müssten. Das bescherte uns natürlich riesige Platzprobleme. Wenn Sie nur schon einen e.t. mit achtzig Kopien haben … Doch in dieser Zeit, den Achtziger- und Neunzigerjahren, fand das Archiv wirklich seine Rolle.

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(Bild: Claude Emery, Erich von Stroheim und Denise Vernac anlässlich des Eröffnungsfestes in Lausanne am 2. November 1950)

FILMBULLETIN Ihre tägliche Arbeit bestand unter anderem darin, Filmkopien an die Cinéclubs zu schicken, Lagerräume für die Kopien zu beschaffen, Geld aufzutreiben et cetera. Nun hat ja eine Cinémathèque im klassischen Sinne noch ganz andere Aufgaben. Was sah Ihr – selbstgemachtes – Pflichtenheft vor?

FREDDY BUACHE Die erste Aufgabe war, Filme zu retten. Wir befinden uns in der Zeit vor dem Fernsehen! Wenn ein Verleiher einen Film in Cannes oder sonstwo kaufte, hatte er damit das Recht erworben, den Film während einer gewissen Zeit – normalerweise waren es fünf Jahre – im Kino zu zeigen. Wenn er sehr gut lief, wurden die Rechte noch um zwei Jahre verlängert. Das heisst, zu einem gewissen Zeitpunkt besass der Verleiher zwar den Film, für den er bezahlt hatte, durfte ihn aber nicht mehr spielen. Da zerstörte man einfach die Kopien! Ich begann also damit, die Verleiher aufzusuchen. Henri Langlois, der auch die Statuten für den Verein der Cinémathèque erarbeitet hatte, lehrte mich, was zu tun sei. Ich ging in die Labors und sagte: «Sie haben doch 1942 die Kopien von Film xy gezogen – haben Sie die Negative noch?» So sammelte ich die Negative. Dann kannte ich in Genf einige Verleiher, vor allem französischer Filme, die ich fragte, ob sie Filmrollen hätten, die sie zu vernichten gedächten. Ich stellte ihnen ein Papier aus, dass ich die Kopien nicht mehr benützen würde. Schritt für Schritt habe ich so die Kopien erhalten. Man muss wissen: Damals gab es kein Filmgesetz; das kam erst 1963.

Sehr viel später, es muss in den Siebzigerjahren gewesen sein, trank ich in Cannes einmal ein Glas Wein mit jemandem, der mir erzählte, er sei gerade Direktor von 20th Century Fox geworden. Ich sagte: «Oh là là, c’est formidable!» Als ich nach Genf zurückkam, traf ich den Direktor von Fox Switzerland, der schon mehrmals zugegeben hatte, es sei wirklich lächerlich, dass er die Filmrollen nach Avenches schicken müsse, um sie dort vernichten zu lassen, anstatt sie mir zu geben. Aber diese Erlaubnis habe er nicht. Ich sagte ihm: «Aber in deinem Büro hängt doch die Foto deines neuen Chefs, der auch nach Locarno kommen wird.» Im Rahmen des Festivals habe ich diesen dann wieder gesehen und wollte wissen, ob er plein pouvoir habe? «Ich habe alle Kompetenzen!» «Dann haben Sie also auch die Kompetenz, mir die Kopien zu überlassen!» Zurück in Genf, liess mich der Fox-Chef wissen, er hätte Anweisung, keine Filme mehr zu zerstören. Und: «Jetzt musst du mit mehreren Camions vorfahren!» Etwas später habe ich dann Kontakt mit dem Chef von Warner Bros. in Zürich aufgenommen und ihm gesagt: «Es ist seltsam. Fox gibt mir alle Filme, warum tut das Warner nicht?» Und Schritt für Schritt kam auch Warner …

Ich muss gestehen, es gab auch andere Fälle. In Basel hat mir einmal einer gesagt, also Ihnen gäbe ich die Kopien nie und nimmer! Ich war lange Zeit bei Pro Helvetia, auch in der Filmkommission des Bundes in Bern, und während dieser ganzen Zeit habe ich immer wieder versucht, das Ciné-Journal Suisse, die Schweizer Filmwochenschau, die der Eidgenossenschaft gehörte und auch von ihr finanziert wurde, für die Cinémathèque zu bekommen. Ich hätte gerne die Negative und die Journale gehabt. Das ging eine Zeitlang hin und her, bis eines Tages drei Oberste – in Uniform! – in Lausanne auftauchten, um mir mitzuteilen, dass die Filmwochenschau nicht in der Cinémathèque gelagert würde. Man werde in Thun eigens Blockhäuser errichten, um die Journale dort aufzubewahren. Ich habe geantwortet: «Wenn das passiert, schliesse ich die Cinémathèque!»

Die Filmwochenschau startete am 1. August 1940 und wurde bis 1975 weitergeführt. Damals war die Vereinigung der Schweizer Kinobesitzer in eine deutschschweizer und eine welsche Sektion unterteilt. Die Deutschschweizer hatten beschlossen, die Filmwochenschau obligatorisch in ihren Kinos zu zeigen, die Welschen passten sich an. Am Ende des Krieges kam es aber zu Differenzen. Die Deutschschweizer verstanden sich als Eigentümer des Ciné-Journal, weil sie ja dessen Mieter waren. Das war der Zeitpunkt, an dem Rechtsanwälte die Sache klären mussten. Ich meine: Das Faktum, dass Sie jeden Tag im selben Restaurant essen, macht Sie ja auch noch nicht zu dessen Besitzer! Es war eine unglaubliche Geschichte! Ich habe noch einmal gedroht, dass ich bei einem Nein die Cinémathèque schliessen und einen riesigen Skandal veranstalten würde. Endlich bekam ich die Negative. Eines Tages fuhr ein Camion vor. Der Chauffeur von Bundesrat Hürlimann persönlich brachte die Kopien, und mit ihnen einen Mitarbeiter, den ich mit dem Filmmaterial sozusagen einkaufen musste. Später ging die Geschichte dann weiter, als das Fernsehen die Kopien wollte. Das war eine Zeit, in der rechtlich das alles noch nicht geregelt war.

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(Bild: Freddy Buache)

FILMBULLETIN Im Filmporträt, das Michel van Zele* kürzlich über Sie gedreht hat, sieht man Sie mit Jean-Luc Godard an einem Tisch sitzen. Es gibt zwischen Ihnen beiden verschiedene berufliche und persönliche Bande. Wo und wann haben Sie sich kennengelernt?

FREDDY BUACHE Ich hatte eine bewegte Jugend; auch beim Studium habe ich die Sachen nicht wirklich verfolgt. Ich interessierte mich für das Theater, die Malerei und trieb etwas Poesie – bref: 1945, am Ende des Krieges, nachdem die Russen gewonnen hatten, gab es eine seltsame pro-russische Bewegung. Wir verstanden uns alle ein wenig als Weltbürger. Ich hatte Schriftstellerfreunde in Genf, die ich oft besuchte, und Jean-Luc war auch ein paar Mal da. In diesem Kreis führten wir oft heftige Diskussionen über Literatur. Ich war ein überzeugter Sartre-Anhänger, hatte ihn und Simone de Beauvoir in Paris getroffen und konnte mit der Céline-Anbetung meiner Freunde nichts anfangen. Ich wusste, wer Godard ist, und kannte Rachel, eine seiner beiden Schwestern, die leider gestorben ist. Seine andere Schwester lebt heute in Paris. Zudem war ich bekannt mit Jean-Pierre Laubscher, einem Freund aus Lausanne, mit dem Godard seinen ersten Film, Opération béton (1954) über den Bau des Staudammes Grande Dixence, schrieb.

Eines Tages vernehme ich von Adrién Porchet, dem Kameramann, dass der Film fertig sei. Godard war ja nicht für die Hacke gemacht; vielleicht hatte er die Kamera gestohlen – was weiss ich. Ich habe mir den Film angeschaut und gesagt: Der hat aber nicht gerade Talent! Später habe ich ihn hin und wieder in Paris gesehen, bei Veranstaltungen oder privaten Treffen. Aber ich muss gestehen, ich gehörte nicht zu dem Zirkel, für den er ein Genie war. Ich sagte ihm auch, dass – wann immer er einen Film realisiere – ich darüber schreiben würde, vielleicht aber schlecht. Seine ersten Filme habe ich sehr kritisch rezensiert. Vor allem À bout de souffle, den ich wegen Belmondos Art, mit den Frauen umzugehen, nicht mochte. Dieser machistische Blick hat mich geärgert. Und die amerikanische Art der Inszenierung mochte ich auch nicht, darüber habe ich mit Jean-Luc sicher zwanzigmal gesprochen.

Dann drehte er Les carabiniers (1963), der in der Schweiz nie in die Kinos kam, und der überraschte mich. Damals mietete ich in Lausanne ein Schiff, damit die Mitglieder des Filmclubs nach Evian fahren und sich den Film dort anschauen konnten. Zugleich erschien der Film über die Algerier, le petit soldat, den ich nicht mochte. Über Godards Schwester habe ich erfahren, dass es ihn nicht allzu sehr beschäftigte, was ich von seinen Filmen hielt. 1968 waren wir zusammen in Cannes, in jenen Jahren sahen wir uns etwas häufiger. Dann ging er nach Grenoble, weil er nur noch Fernsehen machen wollte. Sagen wir: Ich hatte mit Godard eine Beziehung, aber er war kein sehr enger Freund. Als er mich wissen liess, dass er sich in der Schweiz niederlassen würde, habe ich den ganzen Transport für ihn über die Cinémathèque organisiert. Er hat meine Frau sehr gemocht, die vor zwei Jahren gestorben ist, daher kam er ab und zu auf Besuch.

Ich gestehe, ich habe meine Meinung über sein Werk ein bisschen geändert. Was mir wirklich wesentlich erscheint, sind Numéro deux (1975) und Sauve qui peut (la vie) (1980), das war für mich ein herausragender Film. Ich habe ihn gefragt, ob er an der Fernsehproduktion von Michel van Zele nicht auch teilnehmen möchte; er hat es gerne gemacht. Die Equipe hatte ein bisschen Angst, weil er als unberechenbar gilt. Ich habe mit Godard einige Bücher gemacht, eines über Langlois, zu dem er hätte die Einleitung verfassen sollen. Stattdessen wollte er es in Interviewform machen. Beim Abtippen habe ich dann gemerkt, dass er unglaublich viele Sätze beginnt und sie nicht beendet. Er ist in einem Zustand geistiger Unordnung. Er sieht das alles vor sich, zieht an einem Faden – und verliert sich.

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(Bild: Cinémathèque suisse)

FILMBULLETIN Sie haben als Direktor der Cinémathèque suisse, als Filmkritiker und als Kodirektor des Filmfestivals von Locarno bei der Entstehung des neuen Schweizer Films in den Sechziger- und Siebzigerjahren eine wichtige Rolle gespielt; auch für den «Groupe 5». Nun ist man ja als Zeitzeuge nicht immer objektiv in seiner Beurteilung. Welche Kriterien haben Sie angewendet?

FREDDY BUACHE Ich war Mitglied der Filmkommission des Bundes, anschliessend in derselben Funktion bei Pro Helvetia – und kehrte danach abermals nach Bern zurück. Ich war also während rund zwanzig Jahren in den Förderkommissionen – viel zu lange! Ich sah Leute wie Alain Tanner, Nicolas Bouvier oder Luc Boissonat vorbeiziehen. Wichtig für die Beurteilung war, ob man den Typ schon kannte oder nicht, ob also eine Vorgeschichte existierte. Meiner Ansicht nach gibt es keine Kriterien. Entweder man liebt das, was jemand macht, oder eben nicht. Ich spreche zwar nicht so gut deutsch, aber wir haben auch Deutschschweizer Filmemacher wie Fredi Murer oder Daniel Schmid unterstützt.

Natürlich hatten wir in der Kommission mit Boissonat, Bouvier oder Yersin eine gewisse Aufmerksamkeit für den «Groupe 5» oder die Lausanner Filmemacher wie Jacqueline Veuve, aber es gab keine Regeln. Ich war damals in der Kommission mit Hans Heinrich Egger, der mich immer wieder geärgert hat, weil er eine Art Schema wollte, um ein Projekt beurteilen zu können.

Das gilt im Übrigen auch für meine Arbeit als Filmkritiker. Ich sage, was ich denke, und vielleicht täusche ich mich. Natürlich täusche ich mich! Ich habe gewisse Standpunkte: das amerikanische Kino mag ich nicht sehr, und dennoch liebe ich einzelne amerikanische Filme. Das hängt damit zusammen, dass mich die industrielle Herstellung von Filmen nicht wirklich interessiert. Ich ziehe es vor, wenn Regisseure etwas wagen – und vielleicht auch verpassen. Im französischen Kino bleibe ich nah bei Jacques Rivette oder Eric Rohmer.

Man kann sich täuschen, das gehört auch zum Alltag der Filmförderung. In La Rochelle wurde dieses Jahr die Reedition von Christian Schochers Reisender Krieger (1981) gezeigt. Diesen Film habe ich geliebt. Sofort. Ich mochte die Geschichte um diesen Handelsreisenden in seinem Verhältnis zur Schweiz, zur Schweizer Landschaft; diesen Typen, der von einem Dorf ins nächste spaziert, sich langweilt et cetera. Die Amerikaner haben es eine Zeit lang verstanden, in Roadmovies solche Figuren zu zeichnen.

FILMBULLETIN Von 1967 bis 1970 haben Sie zusammen mit Sandro Bianconi das Filmfestival Locarno geleitet. Wenn man sich die damaligen Programme anschaut, stösst man auf sehr ausgesuchte, engagierte Selektionen. Im Wettbewerb gab es Beiträge aus Osteuropa, Südamerika, der Schweiz …

FREDDY BUACHE Sandro und ich haben vor allem Retrospektiven von Leuten zusammengestellt, die man damals überhaupt noch nicht kannte, wie Satyajit Ray oder Luchino Visconti. Es schien uns wichtig, ein Festival zu konzipieren, das sich als Gegengewicht zu den Gewohnheiten der Schweizer Kinos und Verleiher verstand. Aus diesem Grund zeigten wir tschechische, ungarische, polnische Filme. Ich reiste mehrmals nach Moskau und kannte da auch einflussreiche Leute. Die Staatssicherheit führte darüber – wie ich später dann den akribischen Fichen entnahm – ganz genau Buch. Im Unterschied zu anderen Kinemathek-Direktoren bin ich auch sehr viel an Festivals gereist. Einmal, als ich in Moskau in einem Hotel war, glaubte ich, hinter der Tür meinen Namen zu hören. Wer ist dahinter, fragte ich einen Angestellten. Es waren Studenten, unter ihnen Otar Iosseliani (!), die von mir sprachen.

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(Bild: Casino de Montbenon in Lausanne, seit 1981 Hauptsitz der Cinémathèque suisse)

FILMBULLETIN Während Ihrer gesamten beruflichen Karriere waren Sie immer auch Filmkritiker. War das eine Leidenschaft fürs Schreiben, eine Möglichkeit, mit dem aktuellen Filmschaffen in Kontakt zu bleiben – oder vielleicht etwas Anderes?

FREDDY BUACHE Es war die Leidenschaft für das Kino. Ich schaute mir viele Ausstellungen von Malern an, ich war im Theater – ein bisschen wie ein romantischer Intellektueller, der sich für alles interessiert, was kulturell passiert. Zuerst schrieb ich, weil das eine Möglichkeit war, Geld zu verdienen. Ich habe den Begriff der Kritik nach Lausanne, vielleicht auch in die Schweiz gebracht. Vorher gab es da keine Filmkritiker. Die Kinokarten wurden in der Redaktion abgegeben, und irgendeiner ging dann hin, schaute sich den Film an und verfasste etwas Kleines.

Ich hatte aber auch Probleme. Einmal schrieb ich gegen Walt Disney, da hat man mir die Karten weggenommen und wollte mich nicht mehr ins Kino lassen. Zu der Zeit machte Walt Disney unter dem Titel «C’est la vie» Dokumentarfilme, und die Leute schauten sich die Filme in Farbe an, nicht mehr in Schwarzweiss. Allein schon diese Tatsache hat mich geärgert. Einmal gab es eine Produktion über Biber, und in einem Text hiess es, der Kleine liebe sein Mami und seinen Papi, er opfere sich ganz und gar auf et cetera. Für mich war das ein Film über die amerikanischen Soldaten im Koreakrieg. Das hatte ich in meinem Text auch gesagt, und Walt Disney meckerte. Ich hatte Glück, weil ich den Patron von Edipresse gut kannte, der das Kino und den Jazz liebte; der hat mich immer unterstützt, etwa auch, als man von einem Text von mir über Antonioni sagte, das sei unlesbar. Einige Artikel über das amerikanische, französische und italienische Kino, zu meiner Zeit die wirklich grossen Kinematographien, habe ich später für meine Bücher überarbeitet. Für mich waren Fellini, Antonioni, Visconti und andere die grossen Entdeckungen.

Heute schreibe ich noch für jeden Sonntagmorgen in «Le Matin dimanche» ein kleines Stück, sonst sprechen sie nur von amerikanischen Filmen. Dann interessiere ich mich natürlich für das Schweizer Kino. Un autre homme, der neue Film von Lionel Baier, lässt mich ein bisschen an Alain Tanner denken, als er im Jura war. Und natürlich ruft Bulle Ogier am Ende des Films auch gewisse Erinnerungen wach. Ich finde aber, es fehle ihm etwas an Kraft, an Gewalttätigkeit. Lionels Film ist wie ein Magazin de luxe.

Ein wirklich grosser Schweizer Film ist für mich La lune avec les dents (1967) von Michel Soutter. Er hatte keinen Erfolg, natürlich, und handelt von einem Mann, der Mühe hat, in einem Klima zu leben, das er nicht spürt. Einmal öffnet er das Fenster und sagt in etwa: Ah, das tut gut zu atmen. Es tut mir weh, wenn ich an all die Menschen denke, die nicht atmen. Soutter habe ich sehr geliebt, auch Alain Tanner, Claude Goretta und andere, aber Soutter hatte etwas de plus. Es ist dasselbe mit Murer und Schmid. In Daniels Filmen hatte es etwas de plus. Wissen Sie, wir sind in der Schweiz, einem Land, das etwas zu still ist, und mir scheint, da müsste das Kino etwas Gegensteuer geben.

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(Bild: Freddy Buache)

FILMBULLETIN Nächstes Jahr wird Frédéric Maire die Leitung der Cinémathèque suisse übernehmen. 61 Jahre, nachdem sie gegründet wurde, und elf Jahre, nachdem Hervé Dumont Sie abgelöst hat. Was geben Sie Ihrem Nach-Nachfolger mit auf den Weg?

FREDDY BUACHE Zuerst: Ich freue mich über die Wahl von Frédéric Maire. Er wird sich mit Dingen auseinandersetzen müssen, die für mich noch nicht wichtig waren, zum Beispiel den Rechten für die DVDs, für Internet et cetera. Da wird er in gewisser Hinsicht Ordnung schaffen müssen. Das wirkliche Problem ist meiner Meinung nach jedoch die Konservierung und Restaurierung der Filme. Dieses Jahr habe ich in Locarno die restaurierte Kopie von Der 10. Mai gesehen; das war nicht der Film, den ich damals gesehen hatte. Und dann muss Maire dafür sorgen, dass man das Kino von heute liebt! Man darf sich nicht mehr nur auf die historische Produktion konzentrieren. Natürlich ist die Schweizer Kinolandschaft heute breit, dennoch gibt es Filme, die in den kommerziellen Kinos nicht ausgewertet werden. Der letzte Rivette, der letzte Rohmer – nie gesehen. 2006 habe ich mir in Cannes Juventude em marcha, den neuen Film von Pedro Costa, angeschaut, zweieinhalb Stunden lang, ein zwar schwieriges, aber absolut wunderbares Werk. Der Film hat zwar einen Schweizer Verleiher, aber ob der ihn auch je herausbringen wird? Solche Filme muss die Cinémathèque zeigen.

Das Gespräch mit Freddy Buache führte Nicole Hess.

*Fernsehporträt: Michel van Zele: Freddy Buache, passeur du 7ème art, 2008, 53 Min.

An der Universität Fribourg ist 2007, unter Prof. Claude Hauser, eine lesenswerte Lizentiatsarbeit zu Freddy Buache verfasst worden: Andrea Rusconi: «La Cinémathèque, c’est moi!» – Freddy Buache e la Cinémathèque suisse (1948 – 1975); Progetti Culturali e Dibatti Ideologici. Universität Fribourg, 2007

Sehr lesenswert ist auch: Freddy Buache: Derrière l’écran. Entretiens avec Christophe Gallaz et Jean-François Amiguet. Lausanne, Editions Payot, 1995

(Titelbild: Freddy Buache in seinem Büro, Place de la Cathédrale 1975; Letztes Bild: Ein Nitratfilm zersetzt sich)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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