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Jener Totalschaden eines Mittelklassewagens

Nur, wer sich von der Heftigkeit der Auseinandersetzungen in West und Ost eine Vorstellung macht, wo mit Aufruhr anfing, was an mehr als einem Ort um Haaresbreite zum Sturz der Regierungen geführt hätte, kann verstehen, wie nahe an der Sache dran auch die Cineasten der Schweiz die Umwälzungen mitverfolgt und ‑vollzogen haben.

Text: Pierre Lachat / 01. Mai 2008

Lenin erklärte den Film zur politischen Waffe, und Entsprechendes brachte die Sowjetunion der zwanziger Jahre zustande. Den Russen ahmte prompt Mussolini nach und liess über die Eröffnungszeremonie der Römer Cinecittà den drohenden Schriftzug spannen: «La cinematografia è l’arma più forte». Freilich, der Ankündigung folgten nur bescheidene Taten. Hitler nahm die deutsche Filmindustrie behende in Gewahrsam, zwecks «Arisierung», legte dann aber, Wochenschau ausgenommen, wenig Wert auf Propaganda in den Sälen. Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg gingen auch England und die USA dazu über, die Bilder für politische Zwecke zu mobilisieren. Selbst die Schweiz reglementierte und zensurierte zaghaft mit, fast ausschliesslich defensiv.

Bei jedem Schritt dieser Art ging das Politische voran. Mehr oder weniger ausdrücklich gelenkt, hatten Kunst und Medium auf dem Fuss zu folgen. Und kaum anders, als es bis gegen 1960 hin die Regel war, haben sich die Dinge auch seither verhalten. Allerdings waren da zwei Ausnahmen, die eine Umkehrung der eingeübten Prioritäten bedeuteten, womit sich wohl auch Ursache und Wirkung in einem gewissen Mass vertauschten. Es war, mit einem Wort, nicht immer und überall so, dass die Siebte Kunst einzig und allein die überwiegend begleitende, kommentierende Aufgabe versah, die ihr gemäss landläufigem Verständnis zustand. In so unterschiedlichen Ländern wie Frankreich und der damaligen Tschechoslowakei gebärdete sich der Film, zwischen 1960 und 1970, als Avantgarde im wörtlichen Sinn: Er preschte vor, die Politik hatte zuzusehen, wo sie blieb.

«Le cinéma est dans la rue»

Die Nouvelle vague so sehr wie die Gruppe von Filmautoren um Milos Forman, Vera Chytilova und Jiri Menzel griffen unmittelbar ins Geschehen ein, ja sie schubsten es wiederholt voran. Der historische Zeitpunkt, der am besten verdeutlicht, wie das Kino, selten genug, auf die Politik einzuwirken vermag, ist in den Demonstrationen zu finden, die im Februar 1968 gegen die Absetzung des Begründers der «Cinémathèque française», Henri Langlois, Paris erschüttern. Einer der Wortführer ist Jean-Luc Godard, so sehr Schweizer wie Franzose, nach eigenem Bekunden aber eher ein Bürger des Weltfilms. Von La chinoise über Weekend bis zu manchen andern widerspiegeln etliche seiner Arbeiten beispielhaft die Einstellung, aus der heraus der Widerstand sich gruppiert. Ein Übriges steuern seine vielzitierten Aphorismen bei, etwas der hinterhältige «La photographie, c’est la vérité. Le cinéma, c’est la vérité vingt-quatre fois par seconde.» Der Satz fragt, ob die Wahrheit, in Sekundenbruchteile zerlegt, noch als eine und einzige, une et indivisible gelten kann. Tatsächlich scheinen Techniken der Automation wie gerade der Film imstande, mit jeder Sekunde vierundzwanzig neue Wahrheiten auszustossen.

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(Bild: Weekend)

So widersinnig es klingt, in diesen Tagen laufen die eigentlichen Kinostücke neben den Vorgängen her. Den Ausschlag gibt ein anderer Umstand: der Film ist auf der Strasse. «Le cinéma est dans la rue», so lautet zwar keiner der damals im Sprechchor vorgetragenen Slogans, aber er wäre bestens geeignet, die entstandene Lage zu beschreiben. Der Protest jener Wochen gibt den unmittelbaren Anstoss zu den nachfolgenden Aufständen des Mai. Nach dem Roman «The Holy Innocents» von Gilbert Adair hat Bernardo Bertolucci 2003 in The Dreamers die Vorfälle gleichsam von den Boulevards auf die Leinwand zurückgeholt.

Ohne sich den Zusammenprall von Kultur und Politik im Paris und Prag jener Jahre zu vergegenwärtigen, ist die Bedeutung des Films für sämtliche Vorgänge, die mit der Bewegung von 68 zu tun haben, nur halbwegs zu ermessen. Und nur, wer sich von der Heftigkeit der Auseinandersetzungen in West und Ost eine Vorstellung macht, wo mit Aufruhr anfing, was an mehr als einem Ort um Haaresbreite zum Sturz der Regierungen geführt hätte, kann verstehen, wie nahe an der Sache dran auch die Cineasten der Schweiz die Umwälzungen mitverfolgt und -vollzogen haben.

Weltheimat Schweiz

Französische oder tschechoslowakische Zustände bleiben hierzulande aus. Das Kino hält sich die Strasse weitgehend vom Leib. Aber das heisst keineswegs, dass im helvetischen Umfeld die Filme wenig Wirkung zeigen oder dass da nichts Ausreichendes wäre, was sie widerspiegeln könnten. Im Gegenteil, was von 1962 an bis gegen 1980 entsteht, hebt das Tempo und die Intensität der Veränderungen im In- und Ausland deutlicher hervor, als es jede der andern Künste zur fraglichen Zeit tut.

Zumal für Dokumentaristen wie Alexander J. Seiler oder Richard Dindo, für Spielfilmautoren wie Alain Tanner, Claude Goretta oder Francis Reusser oder noch für den lebenslang experimentierfreudigen Fredi M. Murer fügen sich die Vorgänge im In- und Ausland bis über das Jahr 1980 hinaus zu einem festen Bezugsrahmen. Noch dort, wo die Filmemacher, sei’s bedauernd, sei’s bekräftigend, darauf beharren, sie lebten in einem provinziellen, übersiedelten Land, das kaum je die Welt noch werde bewegen können, gewinnt der internationalistische Geist der Bewegung immer wieder die Oberhand. Die Eidgenossenschaft ist Heimat oder müsste es sein oder werden. Doch gilt das für die Welt nicht minder.

Ganz der vorausschauende Pionier, geht Seiler mit seinem Klassiker Siamo italiani eine der Grundfragen der Bewegung, die Naturalisierung der Ausländer, schon 1964 exemplarisch an. Das Land wird in der Folge, bis gegen 2000 hin, nur wenige Filme hervorbringen, in denen die Fremden auf ihrer Suche nach einem Zuhause oder wenigstens nach einer einstweiligen Bleibe nicht prominent oder doch am Rande vorkommen. Und sollte ihnen daselbst, ausser der Achtlosigkeit aller Orte und aller Zeiten, auch ein Mass an Toleranz, Fairness und sogar Freundschaft widerfahren sein, dann hat das Kino davon einiges reflektiert, vielleicht sogar inspiriert.

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(Bild: Siamo italiani)

Von Siamo italiani ausgehend über Braccia sì, uomini no von Peter Ammann, Die Schweizermacher von Rolf Lyssy, Reise der Hoffung von Xavier Koller und noch bis 1992 und Babylon 2 von Samir behandeln die Cineasten die Integration der Migranten statt als ungelöstes Problem als überlebenswichtig, und zwar für die Beteiligten samt und sonders, ob zugewandert oder eingesessen. Als das wahre politische Ungemach wird allein die Frage empfunden, mit welchen Mitteln jedermann von der Notwendigkeit zu überzeugen wäre.

Tot oder lebendig

Vergleichbar und nahezu gleichzeitig wie Seiler verfährt Fredi M. Murer in Pazifik oder die Zufriedenen mit den eben neu hervortretenden opponierenden Künstlern. Sie rechnen sich der lockeren Gruppierung der Nonkonformisten zu, wie sie provisorisch heissen, und gewärtigen davon eine weitergehende Freiheit. Eine lange Reihe von Reportagen und Essays wird künftig den Künstlern und Intellektuellen des Landes gelten. Nebst etlichen weiteren provisorischen Arbeiten Murers wie Chicorée oder Picnic von Georg Radanowicz geraten Josephson, Stein des Anstosses von Jürg Hassler oder Max Frisch, Journal i–iii von Richard Dindo zu ausgereiften Beispielen. Aber die Serie liesse sich auch auf Ramuz, passage d’un poète zurückführen, den Alain Tanner schon 1960 realisiert hat. Oft erscheinen die Porträtierten in ihrer provozierenden schöpferischen Kraft als Wegbereiter und -gefährten: als Zeugen, auf die der Widerstand sich beruft. Kultur und Politik bildeten zwei Seiten derselben Sache; diese Auffassung beginnt sich durchzusetzen.

Indessen, erstmals ganz auf den Punkt bringt Tanner die neuen Formen der Auflehnung in Charles mort ou vif, hart gefolgt von Francis Reusser mit dem noch recht provisorischen und etwas gar feuerköpfisch-aufgeregten Vive la mort. Zu einem beträchtlichen Teil sind von 1969 an die einschlägigen Arbeiten der entscheidenden Zeit französisch gesprochen, was sich wohl nur damit erklären lässt, dass die Romandie über drei Jahrzehnte lang, seit den Anfängen des Tonfilms, einen Rückstand ertragen hat, den sie jetzt, die Gunst der Stunde nutzend, stürmisch wettmacht. Hinzu kommt, dass in Genf neue Formen kollektiver Zusammenarbeit unter den Filmemachern erprobt werden, die den Einklang mit den sozialen Forderungen der Zeit suchen. Das Autorenprinzip wird sozusagen vergesellschaftet. Urheber kann jeder werden, der das nötige Talent mit einer egalitären Einstellung verbindet. Im Übrigen sind in den Reihen der Renitenten die Sprachregionen gleichmässig vertreten.

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(Bild: Chicorée)

«Ich filmte während des ganzen Monats Mai in Paris.» Im kürzlich erschienenen Buch «Ciné-Mélanges» erinnert sich Alain Tanner, der damals für das Genfer Fernsehen berichtete, an die heikelsten Momente. «Viele von den Studenten wähnten, sie vollzögen die Revolution. Ich war 38, das liess mir etwas Abstand. Der Mai war ein grosses Happening, ein grosses Strassentheater, verspielt, eine Befreiung des Wortes. Barrikaden errichten war spektakulär, aber kaum sinnvoll, höchstens als Symbol für die Kommune von Paris und als Erinnerung an sie, doch ohne Blutvergiessen. Meine beiden ersten Kinofilme, Charles mort ou vif und La salamandre, widerspiegeln die Ereignisse aus der Distanz und verdanken ihnen auch den Erfolg.»

Die Verrückten

Tanners Titelheld, der spät von anarchistischen Vorstellungen heimgesuchte Industrielle Charles Dée, hat eine Tochter, die sich in verschiedenen Städten unmittelbar an den Aktionen der Studenten beteiligt. Sie ersucht gar, mit Erfolg, ihren Vater um Unterstützung für die Rebellen. Ihr Bruder, sein Sohn, ein Schwachkopf, der alles nachbetet, was die Unternehmensberater vorschwatzen, betreibt so schamlos wie tapsig die Entmachtung des Patriarchen, etwa mittels eines Privatdetektivs, der dem Alten hinterherschleicht.

Ihn selber, Charles, der allmählich von allein ans Aussteigen denkt, aber noch keineswegs ans Aufgeben, verschlägt es, aus dem hassgeliebten, scheinweltoffenen Genf heraus, zu einem typisch alternativen Pärchen auf dem Lande, das ein Dasein quer zu den geltenden Normen und Werten fristet. Die beiden führen dem ungerufenen Gast aus der Stadt vor, wie es sich auch ohne den standesobligaten Mittelklassewagen auskommen lasse. Das Vehikel landet mit Getöse und unter Triumphgeheul in einer Kiesgrube, total beschädigt. Der Besitzer sieht sich so gut wie immobilisiert. Sollte aus sämtlichen Schweizer Filmen ein einzelnes Bild für den Geist von 68 stehen, dann wäre dieses wohl eine vertretbare Wahl. Reform heisst voraus bedenken, wie etwas besser zu machen sei, ehe es ab- und aufgelöst wird. Revolution bedeutet das Gegenteil: einen wahren Neubeginn lasse allein der irreversible Ruin des Bestehenden zu.

Den scheintoten, in seiner souveränen Ironie höchst robusten Charles verkörpert der führende Schweizer Schauspieler des Augenblicks. François Simon ist der Sohn des kindlich polternden, bauernschlauen Alt-Anarchisten Michel Simon, der in Frankreich viele illustre Hauptrollen vor der Kamera interpretiert hat. Nur ein Jahr später verkörpert der Nachgeborene den Titelhelden von Le fou. Der Film von Claude Goretta schickt einen Protagonisten vor, der sich in der «reprise individuelle» übt. So heisst, in den Theorien der Herrschaftslosigkeit, jene Kunst und Pflicht des Einzelnen, alles, was ihm ganz legal abgenommen oder vorenthalten worden ist, höchst illegal, aber unter Berufung auf eine persönlich umschriebene Legitimität sich anzueignen oder zurückzubeschaffen.

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(Bild: Le fou)

Der Gedanke, wer selbst in einem so satten Land noch glaube, von der Mittellinie idealer Rechtschaffenheit abweichen zu müssen, bei dem sitze doch gewiss eine Schraube locker, zieht sich in der Folge, begleitet von einem unverhüllten Stolz auf die ganz ohne fremde Hilfe entwickelte Verrücktheit, durch mehr als einen weiteren Film, etwa Murers Episode 2069 in Swissmade oder, etwas später, Armand Schulthess, j’ai le téléphone von Hans-Ulrich Schlumpf.

Revolution for the Hell of it

Nachdem er die Frage zunächst in die männliche Perspektive gerückt hat, wendet sich Tanner in La salamandre der andern Seite des Spektrums zu, nämlich der, die von den Geschlechtern her gesehen vis-à-vis liegt. Rosemonde ist keine Feministin in dem eindeutigen Sinne des Begriffs, wie er sich gegen 1970 hin festigt, sondern sie ist es «avant la lettre»: im Vorgriff darauf. Wer immer die Bewegung der Frauen mitträgt oder bejaht, findet in der Heldin eine Figur, von der sich behaupten lässt: Schaut her, ohne es zu wollen oder zu begreifen, waren sie alle sozusagen naturwüchsig schon immer Rechtlerinnen, auch sie, diese rose du monde oder Rose des Erdkreises, die freilich auf etlichen maskulinen Flankenschutz angewiesen ist.

Ausdrücklicher denn je fällt den Weiberscharen nunmehr die Aufgabe zu, die Ordnung der Geschlechter und damit die männlich bestimmten Realitäten durcheinanderzuwirbeln. «Elle ne pouvait éternellement ne pas être dans sa peau.» So wird von der impulsiven Rosemonde gesagt. Der Satz, der da meint, sie hätte nicht ewig nicht in ihrer Haut stecken können, lässt sich wohl auf alle anwenden, auch Männer, denen ein gewisses physisches Wohlbehagen abgeht an den Zuständen in der Welt von 1968: mit den Massakern in Vietnam und dem schmählich niedergeschlagenen Prager Aufstand.

Das feuerfeste Weibchen des Salamanders ist von allen Heroen und Heroinnen auf den helvetischen Leinwänden der Zeit zweifellos die eine, die es weniger als sämtliche andern und bestimmt weniger als Charles Dée schert, was denn künftig an die Stelle der zu überwindenden Verhältnisse treten soll. Rebellion ist nicht Mittel, sondern ihr eigener Zweck. «Revolution for the Hell of it.» In ihr drückt sich mehr Vitalität als Weltanschauung aus, mehr Energie als Methode, mehr Notwehr als Voraussicht, mehr Instinkt als Gewähr.

Aus dem Lot

Für die psychische Ausstattung des Widerstands spielen die Qualitäten des Weiblichen eine hervorragende Rolle: eine grössere vielleicht als die von den Frauen selbst organisiert übernommene. Tanner gehört zu den ersten überhaupt, die das Thema auf der Leinwand einer Deutung von solcher Art unterziehen. Une flamme dans mon cœur, den er fünfzehn Jahre danach zusammen mit der Hauptdarstellerin Myriam Mézières realisiert, wird einen Nachgedanken zu jener spontan drauflos handelnden Rosemonde fassen. Aus den gemachten Erfahrungen versucht der Film zu ergründen, warum sich Männlein und Weiblein auf eine praktikable Teilung der Kompetenzen selbst dann so schwer einigen können, wenn es immerhin, gewichtig genug, eine bessere Welt zu entwerfen oder zumindest die bestehende zu vernichten gilt.

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(Bild: Armand Schulthess, j'ai le téléphone)

Bis dahin freilich haben die Cineasten der deutschen Schweiz nachgezogen. Krawall von Jürg Hassler dokumentiert 1969 die Zürcher Ereignisse des vorangegangenen Juni mit einem noch ganz jungenhaften Erstaunen über die eigene Tollkühnheit. Es ist, als wären die Filmemacher selber nur halbwegs imstand, alles zu kapieren oder zu verkraften, was da binnen weniger Monate ihre so trefflich verwaltete Stadt aus dem Lot gebracht hat. In einem gewissen Mass geht für einmal das Kino, Kamera in der Hand, wahrhaftig auf die Strasse, ein Stück weit nur, um symbolisch Prügel zu beziehen. Murer wiederum weist mit seinem skurrilen Beitrag 2069 zum Episodenfilm Swissmade auch in eine andere Richtung. Nach hundert Jahren, prophezeit diese Fiction, werden sämtliche Querköpfe, wie einst die Indianer Nordamerikas, in eigens eingerichteten Reservaten interniert sein. Jenseits von Gut und Böse heisst bekanntlich: unbelehrbar.

Häufiger mit den Mitteln der Reportage, wo Tanner oder Goretta die Fiktion bevorzugen, begleiten nun die Deutschschweizer den Fortgang der Dinge landauf, landab, etwa mit die früchte der arbeit von Seiler, kollegen von Urs Graf oder Ein Streik ist keine Sonntagsschule von Hans Stürm, Nina Stürm und Mathias Knauer. Eine zweite Wegmarke erreicht die Kollektivarbeit Züri brännt. Auf ähnliche Weise, wie Hassler es mit denen von 1968 tut, rekapituliert dieses vorlauteste Stück dadaistischen Agitprops, das die Schweiz produziert hat, die Unruhen von 1980 und tut es gerade auch in dem Mass, als es sich um eine Neuauflage der älteren handelt.

Ici et ailleurs

Nach 1970 erweitern die Autoren ihre Themen und Horizonte in einem Mass, das dem internationalistischen Eifer der Bewegung nachzuleben versucht und teilhaben möchte am kulturellen Reichtum der Völker und an ihrem politischen Fortschritt. Francis Reusser besucht für Biladi, une révolution gelinde gesagt waghalsig die Trainingslager des palästinensischen Widerstands, dessen blutige Überfälle zum Teil auf wenig Verständnis in der Welt stossen. Le grand soir gar erwartet mit ungeduldiger Bestimmtheit den nahenden Niedergang der herrschenden Weltordnung und tut es unter einer Überschrift, die im Verständnis der Französischen Revolution die Dämmerstunde des Ancien Régime bezeichnete: dessen «grossen Abend».

Peter von Gunten eröffnet mit Bananera libertad eine stattliche Reihe von kritischen Berichten aus der, wie sie noch länger heissen soll, Dritten Welt. Das Ausschwärmen über den weiten Erdkreis versteht sich auch als Gegengewicht zu einer Nabelschau, von der es rasch einmal spöttisch heisst: Vor lauter Schweiz sehen die bald keine Welt mehr.

Ab 1970 wird es von allen Autoren Richard Dindo am besten gelingen, die über Kreuz geratenen Perspektiven, das ici et ailleurs, in eine breite kosmopolitische Sicht zu rücken, die auch den alten Gegensatz zwischen Kultur und Politik ohne viel Aufhebens ausser Kraft setzt. Ob er im Rheintal dreht oder im Libanon, in Südafrika, Prag, Mexiko-Stadt oder um die Ecke auf der Rathausbrücke über der Limmat, wird keinen wirklichen Unterschied mehr machen. Entsprechend zählt kaum noch, wie nahe er dem Geist von 68 bleiben oder wie weit er über ihn hinausgehen mag.

Oder auch, anders gesagt: wie lange jemand noch so ganz genau weiss, wie es war. Sprich: wie wir waren, was wir dachten, zwischen kühnen Entwürfen und ernüchternden Resultaten. Die Welt hat uns verändert, wir sie auch. And we’re history; which we made.

(Titelbild: Krawall; letztes Bild: Bananera libertad)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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