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Von Bord an Land, von Land an Bord

«Le métier de cinéaste c’est essentiellement de porter un regard sur le monde, les choses, les gens. Pour ça il faut une caméra.» Eine Hommage an Alain Tanner, der am 6. Dezember achtzig Jahre alt wurde.

Text: Pierre Lachat / 01. Dez. 2009

«Le métier de cinéaste c'est essentiellement de porter un regard sur le monde, les choses, les gens. Pour ça il faut une caméra.»

Ohne viel Aufhebens nahm er vor ein paar Jahren den Abschied. Bei den Pariser Éditions du Seuil erscheint 2007 noch der knapp drehbuchlange Essay «Ciné-mélanges», sprich «Vermischtes vom Kino», der mit dem schneidenden Satz beginnt: «Meine Filme gehen nie von einer Geschichte aus, die mir zu gefallen hätte, sondern eher von einer oder mehreren Figuren, an denen ich Gefallen gefunden habe.»

Aber schon vier Jahre zuvor sollte Paul s’en va Alain Tanners letzter von mehr als zwanzig Filmen gewesen sein. Der Titel hiess den Helden seines Weges gehen und ordnete damit unmissverständlich eine fällige Demission an. Das Aufgeben, Verlieren, Fliehen ist eines seiner wiederkehrenden Motive, doch sind manche Endpunkte statt unverrückbar nur provisorisch gesetzt.

Offenbar gaben die Schubladen nichts Unverwirklichtes mehr her, das er eigenhändig zu realisieren gedachte. Über die Welt, die höchstens noch der Spur nach verständlich schien, war eine neue Zeit hergefallen. Zudem hält einzig das Klischee die Autoren dazu an, hängig gebliebene Projekte zu hinterlassen und sich eine Nachfolge zurechtzulegen. Die Mühe von vierzig Jahren, beschied Tanner, habe als abgeschlossen zu gelten, und er sage das unbelastet von jeder Bitternis oder gar Ranküne.

Wieso hätte eine derartige Erklärung bei so manchem andern seines Schlages dubios geklungen? Nun, es hat eben keine seiner Arbeiten jemals penetrant passend, korrekt im Trend sich suhlend, fadenscheinig opportunistisch oder auch nur anbiedernd nahe beim überwiegenden Geschmack gewirkt, oder noch, mit dem einen treffenden Wort: zweifelhaft. Statt dem Publikum an der Brust zu kleben, hat er sich, zwischen 1969 und 1995, vom notorisch flatterhaften Erfolg antizyklisch finden und wieder abweisen lassen. Zweihunderttausend Besucher im Quartier Latin an der Seine, pflegte er vorzurechnen, bildeten seine Stammkundschaft: unzuverlässig und nur schwer auszuweiten.

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Angebrauchtes Leben

Anders als mancher Deutschschweizer Autor seiner Generation hat sich Tanner, ein Ausreisser, seiner Herkunft nie vorbehaltlos verschrieben. In der Filmpolitik der entscheidenden Periode jedoch, zwischen 1970 und 1985, hat er zur regionalen wie nationalen Entwicklung einen Beitrag über seine beispielgebenden Filme hinaus geleistet. Seine Rolle im Genfer Groupe 5, das auch Kollegen wie Michel Soutter und Claude Goretta umfasste, wies die Richtung.

Der Kino-Erstling, Charles mort ou vif, folgt programmatisch einem gefeierten Genfer Fabrikanten, der sich allem entrückt, was er draussen in der Welt erreicht hat, inklusive seinem höchst komfortablen Plätzchen darin. Er tut es, um sich vor dem bisherigen Leben tot zu stellen und in einem weiteren, aber noch ganz und gar weltlichen wieder wach und munter zu werden. Es ist heute leicht, in der Gestalt des Sohnes, der kein Wort von den Beweggründen des Vaters kapiert und nichts als Besitz und Status im Kopf hat, einen Vorläufer der Pleiten-Manager der neunziger Jahre zu erblicken.

Die meistzitierte Szene aus La salamandre dann zeigt die Titelheldin des Zweitlings beim Abfüllen von Fleischmasse in einer Wurstfabrik. Ehe sie den Job hinschmeisst, lässt Rosemonde das glibberige Zeugs auslaufen, so dass es, statt in die Häute zu schlüpfen, einen satten, runden Haufen wie frisch aus jedermanns WC-Schüssel formt. Ist das Dasein Scheisse, muss es durch den Enddarmausgang abgeführt werden und mit etwas Appetitlicherem, noch Unverdautem ersetzt werden.

Le retour d’Afrique geht einem tatendurstigen Burschen nach, der alles eingeleitet hat, um endlich auszuwandern. Seine monotone Existenz soll eine vitale, bahnbrechende, sogar heroische Wendung erfahren und damit überhaupt erst einen Sinn bekommen. Erwartungsfroh erläutert der angehende Exilant das Heranreifen seiner Pläne jedem geduldigen Zuhörer. Bereits ist ein kundiger Freund nach Afrika vorausgereist, um die letzten Unebenheiten an Ort und Stelle zu glätten. Indes birgt die Stellvertretung, wie jede ihrer Art, ein Missverständnis. Bald deutet der ferne Herold unerwartete Hindernisse an. Die Berichte aus Algerien werden spärlicher und sparsamer. Dann meldet die Vorhut, Vincents Nachzug sei vollends undenkbar geworden. Ob der verhinderte Umsiedler ein für allemal zuhause bleiben muss, steht dahin.

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Aus all dem abzuleiten ist der vorhersehbare Fehlschlag von Unternehmungen aus nichts als lauterer Lust und Laune, und das heisst: ohne jene unbedingte Notwendigkeit, wie sie die widerspenstige Wursterin Rosemonde umtreibt oder Charles, den altersgrimmigen Ex-Patriarchen. Mir nichts, dir nichts lässt sich angebrauchtes Leben schlecht, wie bei Peugeot oder VW, gegen ein neueres Modell eintauschen.

Weder literarisch noch narrativ

So tasten sich denn die Stoffe entlang den biografischen Schleifen, Vor-, Wechsel- und Rückfällen, und sie gleiten die Altersstufen, die Generationenfolgen und historischen Abschnitte hinauf und hinunter. Alain Tanner beherrscht und praktiziert ausschliesslich diese eine Methode des Argumentierens und Beschreibens. Familien, Gruppen, Milieus, Schichten, Länder, Sprachen, Kulturen, Epochen werden mindestens theoretisch austauschbar, doch ist keine einzelne Wahl innerhalb der Kategorien einer andern vorzuziehen. Den Ausschlag gibt immer die Entscheidung, die das herausgeforderte Individuum schliesslich zu treffen hat, für sich allein.

Ausser in der Romandie, vornehmlich im rauen, dünn besiedelten Jura, wird in England, Frankreich, Belgien, Italien, Irland, Portugal, Indien gedreht. Das evident Schweizerische nimmt zwar ein messbares Gewicht an, doch hergemacht wird davon nur ein Minimum. Eine gewisse prominente Konstanz kommt hingegen dem Geschlecht zu, in dem sich die eigentliche Individualität ausdrückt, und zwar namentlich dann, wenn es um die regelmässig auftretenden Protagonistinnen geht, wie sie etwa auch La femme de Rose Hill, Messidor oder Une flamme dans mon cœur dominieren. Nebst dem begriffsschweren Sohn hat Charles bezeichnenderweise eine Tochter, die sich immerhin die Mühe nimmt, seine späte Umbesinnung nachzuvollziehen.

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Tanners Filme zitieren immer wieder Texte aus der Literatur, adaptieren zur Not sogar einen Roman und vertrauen auch sonst breit der Sprache. Trotzdem geraten sie weder illustrierend noch musikalisch, weder literarisch noch im landläufigen Sinn narrativ; sondern sie stellen dar und fest, umschreiben und kreisen, situieren und kommentieren, geben zu erkennen und zu überdenken. Fast ausnahmslos, heisst das, sind sie journalistisch und dokumentarisch abgetönt, und gerade Reporterfiguren treten mehrfach auf. Une ville à Chandigarh und weitere eigentliche Dokumentarfilme fallen in die Anfänge, vor 1969, und dann wieder in die neunziger Jahre, mit Les hommes du port. Allerdings zielen die Motive, so sehr sie von wechselnden Gesichtspunkten aus beleuchtet werden, doch nur implizit aufs Politische. Aus seiner Haltung macht Tanner nie ein Hehl, lässt aber keine Transparente schwenken.

Auf der Flucht vor sich selbst

Was unter allen Umständen Vorrang geniesst, ist die Stunde, die es jeweils geschlagen hat. Von ihr aus gesehen lässt sich das Abgelaufene wie das Herannahende überblicken. Wie ist jemand in seine gegenwärtigen Nöte hineingeraten; und wie gelangt es sich aus der Beklemmung wieder heraus und in eine nachfolgende Enge hinüber, die nur vielleicht etwas mehr Atemluft bieten wird oder nur für einen Moment? Das Erleben scheint weder Ruhe zu geben noch einer Richtung zu folgen, weder Ordnung zu finden noch eine Konsequenz zu zeitigen. Es bezieht seinen Unterhalt einzig aus der ihm innewohnenden physikalischen Trägheit. Mit jeder erreichten Etappe trägt es sich wieder frisch dahin wie auf einer Irrfahrt und Flucht vor sich selbst.

Nach klassischer Kino-Manier erzählen aber liesse sich etwas nur dann, wenn es Anfang, Ende und Mittelstrecke gleich schon in sich schlösse oder wenn der Stoff wenigstens nachträglich der dramaturgischen Dreieinigkeit unterzuordnen wäre. Das Diktat, es müsse strikte stracks der Nase nach fabuliert werden, hat der Autor nie ganz ernst genommen, auch wenn er, im Unterschied zu jenem andern Landsmann vom Genfersee, Jean-Luc Godard, die Sprengung des sogenannt allgemein Verständlichen nie betrieben hat.

Immerhin, mit wie viel Unlust Tanners Produktionen ganz gleich was für Vorbedingungen zu erfüllen versuchen, demonstrierte endgültig Dans la ville blanche. Beim achten Durchgang angelangt, darf sich der Autor getrost im Vollbesitz seiner Fähigkeiten fühlen; bloss zieht er daraus, im vornehmsten Sinne des Wortes anarchistisch, einen Schluss, der alles auf den Kopf stellt, was seine Bewunderer jetzt, 1982, von ihm erwarten. «Der Produzent Paulo Branco hatte mich nach Lissabon eingeladen, aber ich hatte keine Idee, was ich dort anfangen sollte», wird er sich später erinnern. «Ich erfinde die Geschichte eines Seemanns, der sein Schiff verlässt, sagte ich mir, weil ich selber auch einmal Seemann gewesen war. Mehr weiss ich nicht.»

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Das hilflose bisschen Skizze wird genügen, um Bruno Ganz zur Übernahme der Hauptrolle zu veranlassen. Die doppelte Gleichung um das Motiv der leidenden Blaujacke bedeutet jedoch nur sehr bedingt, dass Tanner etwa routinemässig auf Autobiografisches zurückgreift. Ob nun auf hoher See gewonnen oder auf Reportage, statt direkt in die Filme einzufliessen hat seine persönliche Erfahrung zuvorderst den Stil geprägt, deutlich mehr als die Themen.

Der helvetische Patient

Eisern wie eh und je hält der Filmemacher an seinen Prioritäten fest. Erst kommt die Figur und möglichst auch gleich der dazu passende Schauspieler, und dann erst, wohl oder übel, folgt auch das, was sich nachmals zu einer Geschichte fügen soll, und zwar möglichst unter Einschluss der sakrosankten drei Eselsbrückenpfeiler. Wie weit die Reise letztlich führt, weiss die Besatzung beim Einschiffen selten und beim Ausmustern nie. Der Matrose flieht von Bord, an Land gegangen aber hat er vor sich den Versuch einer Läuterung aus eigenen psychischen Kräften.

«Ich war krank», versichert der Autor, «und ich erzählte von einem Kranken». Der Befund lautet auf Einsamkeit, und die Erkundung der als melancholisch geltenden, in Wahrheit aber lebensfrohen portugiesischen Metropole, eine Art von verzweifeltem Heimischwerden, könnte präzis das wirksame Seelenpflästerchen sein. Die Stadt am Tejo erscheint weiss wie eine Klinik, in den lichten Tönen des Wohlbefindens. Oder kommt es dem helvetischen Patienten nur in den Träumen so vor? Im Zug zurück nach Basel und zu den verlockenden Kähnen am Rheinknie gesteht der Seemann, in nur einem Land der Welt ein wahres Zuhause zu haben, nämlich auf dem Meer. Dort komme einem oft das Empfinden für die Zeit abhanden.

Die Zitate stammen aus einem Gespräch von Pierre Lachat mit Alain Tanner

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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