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Der Schweizer Film in Flip-Flops …

Text: Alberto Chollet / 01. Sep. 2009

Stellen Sie sich einen ruhigen, friedlichen Ort im Halbschatten vor. Tische auf einer Terrasse. Kaffee und Orangensaft. Die Gespräche verlaufen ruhig, sind zugleich aber differenziert und pointiert. Ja, sogar leidenschaftlich. Das Thema: die Schweizer Filmpolitik. Oder besser: «Was müssen wir gemeinsam tun, um dem Schweizer Film eine erfolgreiche Zukunft zu geben?» Im August, unmittelbar nach dem Filmfestival von Locarno, treffen sich auf Initiative von SRG SSR idée suisse auf dem Monte Verità in Ascona um die fünfzig Personen in Flip-Flops, um Antworten auf diese Frage zu suchen.

Nach einem ersten Halbjahr, in dem Filme, die in Schwierigkeiten stecken, und die Unzufriedenheit eines Teils der Branche mit der Leitung der nationalen Filmförderung für Feuer im Dach sorgten, ist der Wunsch, konstruktiv und solidarisch zu sein, zurückgekehrt, begleitet von Respekt für unterschiedliche Meinungen und andere Überzeugungen – der einen wie der anderen. Jemand warnte zwar bereits: «bis zum nächsten clash». Vielleicht – oder bis zum nächsten konkreten Vorschlag, der das eine oder andere Partikularinteresse tangiert.

Die grosse /  kleine Familie des Schweizer Films hält inne und gibt sich Rechenschaft. Sie entdeckt, dass sie ziemlich unbedeutend ist im Vergleich zu einem internationalen Kino, das grandios ist (oder sein möchte) in seinen Ideen oder Ambitionen und universell in Bezug zum lokal  / globalen Dorf, das in seiner Vorstellung eine immer umfassendere und mannigfaltigere Gestalt annimmt. Erfasst von der ständigen Pendelbewegung zwischen seinen Triebfedern, zwischen Kunst und Kommerz, Massenerfolg und zierlicher Erfindung für eine Nische von klugen Eingeweihten, reagiert das Weltkino und zeigt seine Krallen, um sich zu verteidigen und Farbe zu bekennen. Was hingegen wird von einem Häufchen Schweizer Künstler übrigbleiben, wenn sich ihnen gegenüber Verdacht und Misstrauen festsetzen sollten? Jenseits von bereichsabhängigen Zielen, von verzweifelten Egozentrismen, blinden Visionen, kultureller oder sprachlicher Arroganz bleibt nur der Weg, Ideen aufeinanderprallen zu lassen: «jung» und «alt», «welsch» und «toto», «Regisseure» und «Produzenten», «Künstler» und «Beamte», vielleicht auch «Männer» und «Frauen» … Trotzdem ist es sich der Schweizer Film schuldig, in seiner Vielfalt eins zu sein. Nicht mehr und nicht weniger.

Sprechen wir also von den grundsätzlichen Fragen und den in Ascona entwickelten Ideen, im Wissen darum, dass Ideen Ideen bleiben werden, wenn das Bedürfnis, sie zu konkretisieren, wieder nachlassen sollte. Allem voran ist da die Frage einer Vision: einer «Allianz» mit gemeinsamen Zielen und einem Vorgehen, das geeignet ist, die kulturellen und strategischen Probleme unseres Filmschaffens zu synchronisieren und zu lösen. «Wer sind wir, was machen wir – und für wen tun wir das?» Gute Fragen, die – auch wenn sie altbekannt sind – noch immer wesentlich und unumgänglich sind.

Oder, ein weiteres Mal, die Frage der Ausbildung, immer im Spannungsfeld zwischen Talent und Beruf, Schule und Weiterbildung, Theorie und Praxis. Weiss die Schweiz den Herausforderungen der audiovisuellen Welt von heute und morgen, in all ihren Facetten und hunderten von Tätigkeitsfeldern zu begegnen?

Und wie kann der finanzielle und produktionsbedingte «Spiessrutenlauf» des Produzenten, der für seinen Film um die nötigen Mittel kämpft, vereinfacht werden? Wird seine Forderung nach Autonomie (durch die Erweiterung des automatischen Fördersystems) von einer konsequenten Übernahme von Verantwortung begleitet sein? Und: Verantwortung wem gegenüber? Wie sieht dann die künstlerische Autonomie und die finanzielle Unabhängigkeit der Drehbuchautoren und Regisseure aus?

All diese Fragen, und viele mehr, haben ein klares Ziel: den Erfolg! Der Kinogänger – er ist auch Leser von Filmbulletin – könnte sich nun fragen, inwiefern solche Überlegungen zu einem guten Film beitragen. Einem guten Schweizer Film obendrein. Hat Talent wirklich solche Prozeduren, Allianzen und Gesetze nötig? Ist es nicht so, dass Qualität, wenn sie sich einstellt, überall erkennbar ist?

Es gibt eine Überfülle von Festivals auf den fünf Kontinenten, die sich mit Fäusten um die ungefähr fünfzehn wirklich guten Filme der internationalen Genies raufen. Man kann feststellen, dass an Strukturen und Mitteln arme Länder praktisch aus dem Nichts Werke von einer derartigen Intensität des Blickes und einer existentiellen Dimension der Gedanken hervorbringen, dass die mit öffentlichen Geldern subventionierten und abgesicherten Produktionen Europas daneben blass aussehen.

Ja, das ist wahr. Teilweise wahr. Oft wird der Finger auf ein «Dringlichkeitsdefizit» unserer Cineasten gelegt. Sind sie noch fähig, zu informieren, anzuprangern? Entrüsten sie sich ab und zu? Können sie noch erzählen, unterhalten oder zerstreuen? Was macht sie zu Künstlern?

Solche Wünsche und Bedürfnisse aber sind das Herz des schöpferischen Prozesses. Wen nichts derartiges antreibt, der lässt besser andere machen. Sollte es hingegen einen «Schöpfer» geben – und sollte es auch nur ein Einziger sein –, ist es absolut notwendig, ihn auf konstruktive Art zu unterstützen, ein Umfeld zu schaffen, das ihn motiviert und ihm eine Existenz ermöglicht. Jedem seine Aufgabe und seine Verantwortung. So wie Beamte ein offenes Ohr haben müssen, wenn sie Spielregeln erarbeiten und umsetzen, so sollen sich Filmschaffende (vom Drehbuchautor über den Produzenten bis zum Verleiher) ihrerseits verpflichten, dieses «offene Ohr» zu respektieren und mit konsequenter Arbeit zu antworten.

Es gilt also, einen Vertrag zu erarbeiten, wobei die Festlegung der gegenseitigen Verpflichtungen viel Professionalität erfordert. Eine Neuschöpfung ist immer etwas Zartes und Kostbares, nicht nur für das Individuum oder den Autor, sondern für die ganze Gesellschaft. Man muss die Werke schützen. Aber selbst in einem Land, in dem Absicherung die Regel ist, ist es bestimmt wenig hilfreich, sich hinter Rollen und bequem gewordenen Arrangements zu verstecken. Welche Öffentlichkeit, welches potentielle Publikum, sollte sich sonst für den Schweizer Film interessieren?

Alberto Chollet

Koordinator «Pacte de l’audiovisuel» SRG SSR)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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