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Space tourists 16

«Regie führen heisst beim Dokumentarfilm antizipieren»

Der Traum, dass ganz normale Menschen unseren Planeten für Ferien, so zum Spass verlassen können, wurde auf eine Art Realität, die so ganz anders aussieht, als man sich das «ewige Zukunftsthema» Weltraumtourismus vorstellte! Die Landung zum Beispiel erfolgt in einer kleinen Kapsel – so gross wie eine Hundehütte, wo man in Embryonalstellung engst aneinanderliegt –, einer Kapsel, die wie ein brennender Komet vom Himmel fällt und hart auf dem Boden aufschlägt.

Text: Walt R. Vian / 01. Sep. 2009

FILMBULLETIN Was hat dich am Thema «Weltraumtourismus» fasziniert?

CHRISTIAN FREI Der Traum, dass ganz normale Menschen unseren Planeten für Ferien, so zum Spass verlassen können, wurde auf eine Art Realität, die so ganz anders aussieht, als man sich das «ewige Zukunftsthema» Weltraumtourismus vorstellte! Die Phantasie war ja, wie es etwa Stanley Kubrick 1968 im Presseheft seines legendären 2001 – A Space Odyssey formulierte, dass man sich absolut sicher war, dass normale Menschen spätestens im Jahr 2001 die Erde in bequemen Raumschiffen verlassen. In luxuriösen, geräumigen Raumschiffen mit allem Komfort! Tatsächlich flog im Jahr 2001 mit Denis Tito der erste zahlende Passagier in den Weltraum. Nur, er flog eben nicht in einem hyperbequemen Raumschiff, das innen aussieht wie, sagen wir mal, die Businessclass von «Emirates», mit einer Stewardess, die dir den Füllfederhalter ins Revers schiebt, weil du gerade eingenickt bist. Als dieser Weltraumtourismus wahr wurde, sah die Realität ganz anders aus – faszinierend anders. Die Landung zum Beispiel erfolgt in einer kleinen Kapsel – so gross wie eine Hundehütte, wo man in Embryonalstellung engst aneinanderliegt –, einer Kapsel, die wie ein brennender Komet vom Himmel fällt und hart auf dem Boden aufschlägt.

FILMBULLETIN Eine Landung einer Weltraumkapsel findet nicht alle Tage statt. Man muss vor Ort sein, um so was zu drehen, und die Finanzierung des Films sollte gesichert sein.

CHRISTIAN FREI Es war die Landung der iranischstämmigen Anousheh Ansari, der ersten weiblichen Weltraumtouristin. Diese Landung habe ich im Jahr 2006 gedreht. Damals war ich eigentlich noch in der Recherchephase.

FILMBULLETIN Ich stelle mir jetzt mal vor, drei Leuten gegenüber zu sitzen: einem Produzenten, einem Autor und einem Editor. Ich werde also versuchen, ausser dem Autor auch den Produzenten und den Editor ein bisschen anzusprechen.

CHRISTIAN FREI Space Tourists ist insofern ein typischer Film für einen Autorenproduzenten, als eine grosse arbeitsteilige Professionalität mit vielen Produktionsassistenten wenig bringt, wenn es darum geht, im richtigen Moment am Ende der Welt mit der Kamera neben dieser rauchenden Kapsel zu stehen, aus der die Weltraumtouristin, einer Geburt vergleichbar, herausgezogen wird. Diese unmittelbare Nähe erreichte ich nur, weil ich monatelang recherchierte und dabei auf Schweizer Weltraumbriefmarkensammler stiess, die mir sehr gute Kontakte zu russischen Kosmonauten verschafften. Teil meiner Arbeit, auch Teil der Faszination an meiner Arbeit ist, dass ich eben mit sehr viel Geduld und sehr gründlicher Recherche plötzlich Dinge erreiche, die nicht so leicht zu erreichen sind. Und das Hauptproblem war ja bei diesem Film, dass im Umfeld der Weltraumfahrt alles extrem reglementiert ist. Man bleibt hinter Scheiben, man sitzt in Pressekonferenzen – eigentlich ist man ständig weit weg von Emotionen, Konflikten und Authentizität. Ich fragte mich: Wie kann ich dennoch eine Kinoqualität erreichen, eine Unmittelbarkeit und Nähe? Und ich erreichte sie nur über Umwege! Der Besuch der Jahresversammlung Schweizerischer Weltraumbriefmarkensammler im Restaurant «Metzgerhalle» in Oerlikon führte zu einem exklusiven Kontakt mit dem für das Öffnen der Kapsel zuständigen Mann in Moskau. Und während dem Öffnen der Kapsel hat der mich plötzlich herangewunken, und ich durfte ganz nahe an die Öffnung vorrücken und kriegte so die Kinoqualität, die ich mir wünschte. Wenn man an das Thema Weltraumtourismus rangeht, ist es zunächst etwas ganz Grosses, etwas das weit weg liegt. Aber dann geht es natürlich darum, etwas sehr Nahes, mit Menschen Verbundenes zu entdecken. Die Grösse des Themas liegt für mich nicht darin, dass ich möglichst gross im Sinne von grosser Crew da ranging. Ich habe Space Tourists in der Tradition meiner vorhergehen den Kinodokumentarfilme realisiert, hab gründlich recherchiert und versucht, Beziehungen aufzubauen, um dann beim Drehen ernten zu können, was ich vorher aufgebaut oder wie der Bauer gesät habe.

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FILMBULLETIN Wer hat entschieden, dass diese Szene von der Landung, die von der Chronologie her am Schluss erfolgt, an den Anfang gestellt wird? War das der Autor, der Produzent oder der Editor?

CHRISTIAN FREI Das ist dann der Editor. Es schien mir einfach zu banal, dass man mitfiebert: Kommt diese Weltraumtouristin lebend wieder runter oder nicht? Die Grossartigkeit dieses Bogens finde ich ja toll, aber es schien mir ein bisschen zu simpel, einfach auf Spannung zu machen. Ich wollte gleich zu Beginn einen bestimmten Blick etablieren. In dieser Landschaft, die aussieht wie das Ende der Welt – die flachste Landschaft, die ich je angetroffen habe, 360 Grad bis an den Horizont: flach –, da landen sie. Diese Bremsraketen, die da plötzlich zünden! Es sieht so aus, als ob das Ding explodieren würde. Ich wollte das Rohe, das Rauhe, das ziemlich Toughe an dieser Landung etablieren. Wie sie dann rausgetragen sind, kriegt Anousheh diesen Apfel als Symbol: du bist jetzt wieder zurück auf der Erde.

FILMBULLETIN Du hast diese Aufnahmen 2006 gemacht, waren das die ersten Einstellungen, die du gedreht hast?

CHRISTIAN FREI Ja, absolut, ich hab so begonnen.

FILMBULLETIN Es gibt den einen Bogen oben im Weltall und den anderen unten auf der Erde. Dann, als Gegensatz: eine Frau in einem mehrheitlich männlich geprägten Umfeld. Da müssen also ein paar Dinge zusammenkommen, damit das Konzept aufgeht.

CHRISTIAN FREI Ich muss ein bisschen ausholen. Ich hatte ja schon alle möglichen Protagonisten in meinen Filmen. Revolutionäre, Kriegsfotografen, Höhlenbewohner, einen Journalisten, von dem man behauptete, er stehe der Al Kaida nahe. Aber Milliardäre – und das sind nun mal die Kunden, die sich diese Reise ins Weltall leisten können –, die waren schon eine ziemliche Herausforderung für mich. Nicht, weil ich reiche Menschen grundsätzlich abwerte oder weil ich, weil sie reich sind, mit einem Stereotyp an sie herangehe. Sondern einfach deshalb, weil diese Menschen vor einem solchen Start von einer Entourage von Anwälten abgeschirmt werden und von Mediensprechern umgeben sind. Diese erste weibliche Weltraumtouristin ist mir quasi vom Himmel gefallen – auch vom Projekt her. Tatsächlich sollte ein Japaner fliegen, ein junger, eben sehr reicher, japanischer IT-Mensch. Über den habe ich recherchiert, habe auch versucht, so was wie eine Beziehung zu ihm zu etablieren. Ich merkte aber bald, dass es schwierig würde, meine Instinkte und meine normale Arbeitsweise als Dokumentarfilmer beizubehalten. Plötzlich standen da Fragen im Raum wie: «Reichen Ihnen zwei Minuten für das Interview?» Man wollte mich in die Schlange mit den TV-Crews einreihen. Als ich sagte, dass ich Kinofilmer bin und viel aufwendiger drehen will, hab ich bei diesem Japaner sofort gespürt, wie er sich plötzlich in Hollywood sah oder an eine Imax-Grossproduktion dachte – und das war ja absolut überhaupt nicht das, was ich wollte.

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FILMBULLETIN Also war das dann eher ein Glücksfall …

CHRISTIAN FREI Es war tatsächlich ein Glücksfall. Drei Wochen vor dem Start wurde der Japaner aus medizinischen Gründen zurückgezogen und durch Anousheh Ansari ersetzt. Ich hatte bereits alle Bewilligungen. Man muss diese Bewilligungen jeweils sechs Monate im voraus einholen, und es ist ein unglaublich komplizierter Prozess. Die amerikanischen TV-Crews und HBO, die sofort versuchten, die erste Weltraumtouristin journalistisch zu begleiten, die waren zu spät, die kamen nicht mal mehr rein nach Kasachstan. Eigentlich kam ich zu meiner Protagonistin wie die Jungfrau zum Kind. Ich kam zu einer Protagonistin, die ich erst kontaktierte, als ich in der Montage meines Films weit fortgeschritten war.

FILMBULLETIN Moment – das musst du ein bisschen ausführen.

CHRISTIAN FREI Es ist ganz einfach. Dieser Ausflug in die Weltraumstation dauert jeweils acht Tage. Die Passagiere bereiten sich ein paar Monate im Sternenstädtchen in der Nähe von Moskau vor. Wenn sie nach Baikonur kommen, sind sie schon unter Quarantäne. Ich konnte anfangs also gar nicht mit meiner Protagonistin persönlich sprechen! Sie befand sich permanent hinter Scheiben. Da ich die Bewilligungen alle hatte, konnte ich filmen – auch ihre Familie, ihre Mutter, die beim Start buchstäblich in eine Katharsis fiel. Diesen Start mitzuerleben war ein unglaublich intensiver Moment für die Mutter. Sie bricht in Tränen aus. Dann habe ich weitergearbeitet, habe die Gegengeschichte recherchiert. Der Film war schon weit fortgeschritten, als ich dachte, jetzt hat die Frau ihren Flug wohl verarbeitet, jetzt gehe ich an sie ran. Ich bin nach Dallas geflogen und hab ihr diesen Start gezeigt. Bereits montiert, schon mit dieser Musik von Edward Artemyev. Auch die Szene mit ihrer Mutter und ihrer Tante, die da in Tränen ausbrechen. Ich habe ihr auch gezeigt, wie ich diesen Rollout der Rakete filmte, und erklärt, dass es eben nicht darum geht, einfach nur eine Information zu geben, sondern darum, dabei zu sein, wenn dieses Monster, dieser Riesendinosaurier auf dieser Eisenbahn aus diesem Hangar zur Startrampe hinausgefahren wird. Sie hat mich also über das Material kennengelernt, und erst jetzt habe ich gesagt: «Ich möchte, dass Sie meine Protagonistin sind.» Diese zehn Minuten aus dem Film haben sie sehr beeindruckt. Und nach zwei Tagen kam sie und sagte: «Christian, ich hab hier was für dich. Ich habe oben in der ISS einen Dokumentarfilm gedreht und da sind die Videokassetten.» Sie hatte grossen Respekt vor der Art, wie ich filmte, und sie hat durchaus akzeptiert, dass da ein kritischer Blick auf ihre Reise geworfen wird, der unabhängig ist. Totally independent. Kein PR-Film – ein Blick von Aussen, der normale dokumentarische Blick. Es lief auch bei dieser Milliardärin über den direkten menschlichen Kontakt und über das Vertrauen, das ich etablieren konnte.

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FILMBULLETIN Und so kamst du zu diesen Alltagssequenzen in der Internationalen Raumstation …

CHRISTIAN FREI Was mich an ihrem Material faszinierte, war die Tatsache, dass es ziemlich nahe an den Alltag herankommt, wie er bis jetzt fast nie gezeigt werden konnte. Selbstverständlich gibt es auch da oben so etwas wie einen ganz banalen Alltag, Tischrunde, Schlaf, Toilette. Oder Anousheh, die staubsaugt – das find ich schon ziemlich witzig, wenn man doch immerhin 20 Millionen Dollar für diesen Urlaub zahlt.

FILMBULLETIN Aber um das zu finanzieren, um überhaupt nach Kasachstan zu gelangen, um da zu drehen, musstest du – nehme ich mal an – irgendwo Konzepte einreichen. War das Konzept so offen?

CHRISTIAN FREI Weil ich die Projektentwicklung aufgrund des Erfolges meiner vorhergehenden Filme teilweise selber finanzieren konnte, musste ich anfangs noch nicht soviele Gremien überzeugen. Tatsächlich hat das Bundesamt für Kultur mein erstes Gesuch für die Projektentwicklung abgelehnt. Es war damals eben noch schwierig, genau zu beschreiben, was mich bei diesem Projekt wirklich interessiert. Die Essenz war nicht so vordergründig, nicht so offensichtlich wie bei Giant Buddhas, wo klar war, dass das Zerstören der Buddhas eine Metapher für diesen Kampf der Kulturen und der Religionen ist. Hier war es etwas, was ich irgendwie spürte, aber nicht so genau formulieren konnte. Deshalb habe ich mich einfach mal auf den Weg gemacht. Das konnte ich mir leisten. Der Film ist gereift.

FILMBULLETIN Meine These war, dass du zuerst den Fotografen kennengelernt hast.

CHRISTIAN FREI Die Gegengeschichte kam erst ein wenig später dazu. Immer, wenn ich in Hamburg bin, besuche ich auch die GEO-Fotoredakteurin Ruth Eichhorn. Ruth erzählte mir von einem Fotografen, der in der Steppe Kasachstans etwas ganz Verrücktes fotografiert hat: Menschen, die davon leben, dass sie Raketenschrott einsammeln und auswerten. Menschen, die mit diesen russischen Lastwagen in die Steppe hinausfahren, steil hinauf in den Himmel blicken und warten, bis ein Stück Rakete vom Himmel fällt. Das war genau die Geschichte, die ich suchte! Aber es war dann überhaupt nicht einfach, diese Geschichte zu filmen.

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FILMBULLETIN Wenn du einen Film finanzieren willst und nicht in der komfortablen Lage bist, dass du mit eigenen Mitteln zu Drehen beginnen kannst, dann musst du etwas einreichen, das überzeugend ist.

CHRISTIAN FREI Klar. Das habe ich in der zweiten Stufe dann auch getan. Die Produktionseingaben waren relativ problemlos.

FILMBULLETIN Als Produzent …

CHRISTIAN FREI Ich bin Autorenproduzent. Bin langsam schon wie Erich Langjahr und mache fast so viel wie er – ausser dem Verleih (lacht) – und habe fast so viele Schafe im Film wie er, darauf bin ich stolz bei diesem Thema.

Wenn du denkst, Filmemachen mit grösserem Budget – das Budget war eher ein grösseres – bedeute, dass man schnell produzieren und professionell im Sinn von arbeitsteilig vorgehen kann, dann ist das ein Irrtum. Ich hab bei Space Tourists extrem viel Zeit gebraucht, um eben so nahe an die Leute heranzukommen. Es hat wirklich alles mit diesem Gestus der Geduld zu tun. Dreharbeiten in einem Land wie Russland sind schwierig. Der Umgang mit den Medien ist da mittlerweile so, dass man dir ganz klar sagt: wir wollen, dass die Dinge so gefilmt werden, wie sie sein sollten, und nicht unbedingt so, wie sie tatsächlich sind. Das Argument, dass man der Realität doch möglichst nahe kommen und adäquat filmen möchte, zählt wenig. Bei den Raketenschrottsammlern gab es zwar eine Drehbewilligung, aber die Behörden haben deutlich gesagt: «Wir wollen nicht, dass diese Alkoholiker gezeigt werden, die sollen Helme tragen und Handschuhe. Wir stellen Ihnen eine Mannschaft zusammen, die den Abbau von Raketen für das Filmen so darstellen, wie es hier Vorschrift wäre.» Da hab ich gesagt: «Die echten Raketenschrottsammler tragen nie Helme und Handschuhe. Ich bin auch nicht einverstanden, dass sie als Alkoholiker abgestempelt werden. Das sind wunderbare Menschen, für mich sind das absolut faszinierende, grandiose, ganz wertvolle Menschen.» Die Antwort war: «Njet, das können Sie nicht zeigen.»

Und wenn du mich jetzt fragen würdest, wie hast du es dann trotzdem geschafft, kann ich nur sagen, die absolute, letzte Wahrheit kann ich keinem erzählen. Voraussetzung war eine akribische Recherche. Man muss sich auskennen in dieser flachen Landschaft. Ich liess von meinem Assistenten von Google Earth das ganze Gebiet in grösster Vergrösserung ausplotten, bis in die kleinsten Punkte. Als ich alle Karten, mit den entsprechenden geographischen Koordinaten, studiert hatte, kannte ich diese Landschaft so gut, dass wir uns überraschenderweise von unten annähern konnten – und nicht von da, wo sie dachten, dass wir herkämen. Aber die Vorbereitung auf diese eine Reise hat allein schon ein Jahr gedauert. Ich würde mich allerdings sogar zur Behauptung versteigen, dass das nie zuvor gefilmt wurde und wohl auch nie wieder gefilmt werden wird.

FILMBULLETIN Der entsprechende Zwischentitel lautet: «Ein Tag früher.»

CHRISTIAN FREI Nein, das ist klar, wir waren nicht innerhalb von zwei Tagen an beiden Orten. Alle sechs Monate startet eine bemannte Sojus, es gibt eine Frühlingsrakete und eine Herbstrakete. Mit der Geduld des Autorenfilmers und Autorenproduzenten konnte ich etwas filmen, was andern nicht gelungen ist. Es gab eine polnische Crew, die für einen Film nur über Raketenschrottsammler im Altai, wo die zweite Stufe herunterfällt, sehr viel Aufwand treiben wollte. Aber die gaben nach drei Wochen auf. Das ging nicht. Es gibt genug Menschen und Geheimdienste, die dir das Filmen verunmöglichen wollen und können.

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FILMBULLETIN Sie scheinen sich nicht darum zu kümmern, was da runterfällt, so dass die Teile von Schrotthändlern eingesammelt werden können.

CHRISTIAN FREI Sie interessieren sich eben schon. Diese Raketen, auch die Booster, die in der Nähe von Baikonur runterfallen, werden sehr wohl verfolgt, denn wenn es auch nur die kleinste Abweichung in den Flugbahnen gibt, dann wollen die Ingenieure wissen, welcher Booster ihnen Mühe gemacht hat, und dann wird der gesucht. Die Sojus, die es seit vierzig Jahren gibt, ist einfach die tollste Rakete, die jemals gebaut wurde. Diese Raketen sind begehrt, die wollen alle. Den Aspekt der Geheimhaltung habe ich akzeptiert und deshalb nicht alles gefilmt. Ich sage nur: es war eine wunderbare Kooperation auch mit dem Geheimdienst. (lacht)

FILMBULLETIN Das heisst faktisch, die Schrotthändler waren doch nicht die ersten vor Ort.

CHRISTIAN FREI Das stimmt. Dennoch werden die wenigen, die sich auskennen, bestätigen, dass mit Ausnahme gewisser Details vom Innenleben dieser Raketen, die der Geheimhaltung unterliegen, alles so gezeigt wird, wie es stattfindet.

FILMBULLETIN Ich versuche nochmals den Produzenten anzusprechen: Wie stellst du das Budget auf?

CHRISTIAN FREI Das ist schwierig. Schmiergelder zum Beispiel sind schwierig zu kalkulieren, aber notwendig, bei so einem Thema. Ich hatte eine sehr gute Beraterin, Simone Baumann, mit ihrer Firma LE VISION, eine deutsche Produzentin, die auf Russland spezialisiert ist. Sie hat mir produktionell sehr viel aufgegleist, indem sie mir ihr Büro in Moskau zur Verfügung stellte, mit dem grossartigen Thomas Schmidt, der mein Line producer und Übersetzer war. Die Kontakte zu den Behörden und die Nähe zur komplexen, russischen Raumfahrtwelt hat er etabliert und während fast zwei Jahren sehr sehr viel für mich gearbeitet. So habe ich mir das Russland-Know-how geholt, das in diesem Fall sehr wichtig war. Ich hab schliesslich nicht mit Simone koproduziert, weil ich der Meinung bin, dass die Radikalität, in der ich arbeiten will, nur gewährleistet ist, wenn ich unabhängig bleibe und nicht zuviele Köche, etwa bei der Abnahme, mitsprechen. Ich habe die Produktion also nicht aufgeblasen, sondern LE VISION ausbezahlt und im Nachspann als beratende, aber nicht als koproduzierende Firma erwähnt. Gerade weil ich abenteuerlich vorgehen musste, buchstäblich abenteuerlich, musste ich die totale Flexibilität, die totale Freiheit des Autorenfilmers behalten.

Ich habe jedoch mit zwei Fernsehanstalten zusammengearbeitet, mit Urs Augstburger von SF und mit Martin Pieper von ZDF-Arte. Mit diesen Partnern habe ich schon früher produziert, die wissen also, wie ich arbeite.

FILMBULLETIN Vor rund vierzig Jahren lauteten die Standardfragen in jeder Filmdiskussion: «Was hat der Film gekostet und für welche Zielgruppe wurde er gemacht?»

CHRISTIAN FREI Ja gut, ich hatte Erfolg mit den letzten drei Filmen, sicher mit den letzten beiden, und da konnte ich ein bisschen darauf aufbauen und darauf vertrauen, dass da etwas rauskommt, auch wenn ich nicht im Detail schon wusste, wie ich das drehe.

FILMBULLETIN Aber eben: die Zielgruppe – auch wenn das Wort heute nicht mehr aktuell ist. Wenn ich das richtig verstehe, wird auch bei uns zunehmend verlangt, dass sich ein Produzent, schon bevor er sein Projekt einreicht, Überlegungen gemacht haben muss, wie der Film ausgewertet werden soll. Das ist für mich die Zielgruppenfrage von damals.

CHRISTIAN FREI Wenn man einen Kinofilm produziert, muss man sich sicher überlegen, wo der Film hin soll. Aber, um das jetzt mal ganz persönlich zu formulieren, ich bin der Meinung, dass ein Film, der Menschen berührt, wirklich ein Erlebnis ist, Kraft hat und auch eine Radikalität, dass der läuft und sein Publikum findet. Überlegungen kommerzieller Art sind weder bei mir persönlich noch in meiner Funktion als Präsident des Begutachtungsausschusses im Vordergrund.

FILMBULLETIN Hat deine Erfahrung mit der Oscar-Nomination deine Art, wie du Filme produzierst, verändert?

CHRISTIAN FREI Nein, nicht gross.

FILMBULLETIN Hast du zumindest dazugelernt?

CHRISTIAN FREI Ich war auf vielen Festivals und sehe, was produziert wird, was Erfolg hat. Aber Kalkül hilft nicht zum Erfolg. Natürlich hat man ein Konzept, muss wissen, will ich einen Off-Kommentar oder nicht. Was ist mein Personal, was sind das für Menschen und wie ist das Universum dieser Menschen? Wie stell ich sie dar? Wie geh ich mit Interviews um? Aber, es muss ja nicht sein, dass ich – quasi in einem Genredenken – bereits ein Zielpublikum definiere und auch festlege, wie ich diese Leute ansprechen will. Ich glaube, dass die Neugier, die uns allen innewohnt, genügt, um Menschen anzusprechen.

FILMBULLETIN Im ersten Teil des Films fungiert der Magnum-Fotograf als Erzähler.

CHRISTIAN FREI Es gibt keinen Off-Narrator. Wenn ich mit Anousheh ein Hauptinterview im In gemacht hätte – für mich ist ein Hauptinterview immer im In, im Hier und Jetzt, wo man mit einer Person hauptsächlich ist –, dann hätte es dafür nur einen Ort gegeben, nämlich oben in der ISS. Technisch einen Link nach oben zu führen wäre unmöglich gewesen, aus diesem Grund habe ich auf ein In-Interview mit ihr verzichtet. Nach dem Einstieg mit der Landung ist die Erzählung eigentlich linear. Man sieht die Vorbereitungen für den Flug, man sieht den Start, man erlebt den Alltag da oben in der ISS, und dann kommt Anousheh wieder runter. Und das wollte ich eben nicht mit einem Interview brechen, das am Boden gedreht wird.

Bei Jonas Bendiksen – der übrigens das jüngste Mitglied von Magnum ist – wurde irgendwann einmal ziemlich klar, dass er ideal ist, um durch die Bodengeschichte zu führen, weil er so russifiziert ist, weil er einen unglaublichen Draht zu dieser Kultur hat, weil er sich, auf ganz persönlicher Ebene, für seine Wurzeln interessiert. Jonas hat für sein Buch «Satellites» sieben Jahre in den Satellitenstaaten rund um Kernrussland herum – auch im Umfeld von Baikonur – recherchiert und fotografiert. Er hat diese Schrottsammlergeschichte entdeckt und als einziger fotografiert.

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FILMBULLETIN Und den vierten Protagonisten, Charles Simonyi, hast du einfach eingeführt, damit die Vorbereitungsphase noch ein bisschen ausführlicher vorkommt?

CHRISTIAN FREI Einerseits wollte ich zeigen, dass diese Art von Weltraumtourismus mittlerweile kein einmaliges Phänomen mehr ist. Am 30. September 2009 fliegt der Gründer des Cirque du Soleil als Nummer sieben zur ISS. Andererseits war mir diese ganze Vorbereitung in Zvyozdny Gorodok in der Nähe von Moskau schon wichtig. Star City, dieses «Sternenstädtchen», ein durchmilitarisiertes Gelände – kein Zugang über Jahrzehnte für niemand –, wo das Training für diese Flüge stattfindet, ist buchstäblich hinter den Birkenwäldchen versteckt. Und da habe ich einfach den nächsten in der Reihenfolge genommen: Charles Simonyi, ungarischstämmig, ein sehr netter Mensch. Charles war bei Bill Gates schon in der Garage dabei, als sie bei Microsoft noch sieben Leute waren.

FILMBULLETIN Weshalb hast du nicht geantwortet, als er dich fragte, ob du den Ferreri-Film gesehen hast?

CHRISTIAN FREI Ich habe La grande bouffe gesehen und ihm auch geantwortet, aber wir haben das einfach rausgeschnitten, denn ich fand es nicht sehr originell.

FILMBULLETIN Man hätte auch früher schneiden können – das ist eine Frage an den Cutter.

CHRISTIAN FREI Ich fand es irgendwie witzig und sympathisch, dass er beim Verkosten der Weltraumnahrung auf «das grosse Fressen» kommt. Für uns war das Testen dieser Speisen ein unglaublich faszinierender Akt, denn auch da steckt wieder eine Zeitreise drin. In der Space Station, ein Ding, das hundert Milliarden Dollar kostet, essen sie tatsächlich noch Speisen, die nach russischen oder sagen wir mal sowjetischen Rezepten zubereitet werden, die heute fast niemand mehr kennt. Da ist die Zeit stehengeblieben. Da oben im All essen die «Buchweizengrütze» oder «Zander in Gelee»!

Da ist auch wieder dieses Grundmanufaktum, das mich interessiert. Das Zukunftsthema findet in einer Sphäre der Vergangenheit statt. Und der Grund, dass die Russen Weltraumtouristen mitnehmen, ist eigentlich ganz banal. Der dritte Sitz in der Sojus war zum Fliegen nie notwendig, war schon immer frei. Da konnte der Kubaner fliegen, da konnte der DDR-Kosmonaut mitfliegen, und das wurde in der Sowjetzeit propagandistisch entsprechend ausgeschlachtet.

Mein Interesse gilt auch der Ökonomie des Ganzen. Weshalb macht ausgerechnet der ehemalige Osten, das kommunistische System, nun ein Geschäft mit dem Weltraumtourismus, während die NASA sich strikt gegen jegliche Kommerzialisierung wendet? Die NASA wird praktisch zur sozialistischen Organisation, die sagt: Wir erlauben keine Weltraumtouristen, nur Forschung. Denis Tito, der erste Weltraumtourist, durfte 2001 nicht in den amerikanischen Teil der ISS, weil die NASA strikt dagegen war. Aber die russischen Weltraumforscher – was sollten sie denn tun? Die Sowjetunion bricht zusammen, und die ganzen Gelder, diese enormen Summen, die für das Propagandainstrument Weltraumflug ausgegeben wurden, bleiben aus. Irgendwie mussten sie überleben. Und ich find es eigentlich nur schlau, dass sie dann darauf kamen, dass man diesen Sitz, den sie schon immer hatten, zur Verfügung stellen, vermarkten beziehungsweise verkaufen kann. Das ist ja auch der Gag. Es wurde keine Erfindung gemacht, damit man nun endlich als Privatperson ins Weltall fliegen kann, sondern es ist nur eine Frage der Krise, der Ökonomie.

FILMBULLETIN Du führst dann noch die Geschichte mit dem Weltraum-Enthusiasten in Rumänien ein. Bist du eher zufällig auf ihn gestossen?

CHRISTIAN FREI Nein, überhaupt nicht. Denn, wenn ich einen Film über den Weltraumtourismus mache, wollen die Zuschauer ja nicht nur eine geschichtliche Annäherung an Baikonur und die grossen Erfolge der sowjetischen Raumfahrt sehen, sondern sie möchten auch einen Link zu dem, was sie in den Zeitungen lesen. Richard Branson ist mit seiner Firma Virgin Galactic ständig in den Medien. Seine kleinen Parabelflüge haben technologisch allerdings wenig mit den richtigen achttägigen Reisen ins Weltall zu tun.

Anousheh hat 2004 den X-Preis gesponsert, der mit zehn Millionen Dollar dotiert war, um einen technologischen Schub im privaten Raumflug auszulösen, und die Verlängerung dieses Wettbewerbs ist nun der Google Lunar X-Preis, ausgesetzt für einen unbenannten Flug zum Mond. Aber es ist ja nicht so, dass ich diesem X-Preis und der amerikanischen Seite viel Zeit widme. Dass einer aus Rumänien mitmacht, der nun wirklich kein Geld hat, der selbst baut und wirklich mit einfachsten Mitteln ins All und vor allem bis zum Mond will, das fand ich dem Gestus des Films angemessen und interessant. Dumitru Popescu ist ein absoluter Enthusiast, ein Verrückter, der mit purer Öko-Energie, ohne jeglichen Umweltschaden anzurichten, die ersten fünfzehn Kilometer raufgeht, indem er einfach einen riesigen Plastiksack – einen grossen Zürisack – von der Sonne aufheizen lässt. Das trägt seine Rakete tatsächlich mal in die Stratosphäre, und der Rest ist ja dann das sieht man sehr wohl – auch Phantasie. Seine Animation zeigt, wie es dann weitergehen soll.

Weltraum ist immer auch Phantasie, ist immer auch Behauptung. Die Auseinandersetzung mit dem All ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Ultimativen. Man will mal ein bisschen von der Erde weg, aber dann denkt man schon weiter. Wo hört das auf? Die Endlichkeit. Die Unendlichkeit. All diese extremen Gedanken, nicht? Sind wir die einzigen Lebewesen im All?

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FILMBULLETIN Welche Aufnahmen aus dem Kosmonautenmuseum verwendet werden, wurde erst beim Schnitt entschieden.

CHRISTIAN FREI Da ich damals eben noch nicht finanziert und deshalb nur mit dem Übersetzer unterwegs war, habe ich einen rechten Teil dieser Aufnahmen selbst gemacht. Das sind auch nicht die schwierigen Sequenzen, wo ich dann unbedingt mit Peter Indergand, der ja alle meine Filme fotografiert hat, arbeiten wollte und auch konnte. Woody Allen hat ja einmal gesagt, wenn er schon als Schauspieler in seinen Filmen auftrete, dann schreibe er sich, weil er ein schlechter Schauspieler sei, die tollsten Dialoge. Damit er das als schlechter Schauspieler schafft! Und ich sage nun, wenn es einmal so unglaublich visuell und attraktiv ist wie in diesem Baikonur-Museum, dann kann auch ich die Kamera hinhalten, das ist keine besonders tolle Leistung. Das ist ziemlich simpel.

FILMBULLETIN Was sind denn die Qualitäten von Peter Indergand?

CHRISTIAN FREI Die Sequenz bei den Schrottsammlern ist für mich eine Wahnsinnssequenz. Ich meine, das ist wie Spielfilm. Nur schon das Warten – wie Peter das kadriert hat. Und dann hatten wir einfach die paar Minuten, das Zeug fällt ja nur einmal vom Himmel, das kann man nur einmal drehen. Wir haben nicht gewusst, wo genau die Raketenstufen runterfallen werden. Es gab Gegenlicht, die Sonne stand genau da, wo Baikonur liegt. Wir sahen die Rakete nicht steigen. Ich hatte die zweite Kamera. Die Uhr war bei mir schon sechzig Sekunden über der Zeit. Ich dachte, Scheisse, wir haben eine Riesenpanne, die sind nicht gestartet, denn die müssen pünktlich starten, das hat mit der Erdumdrehung und der Physik zu tun. Wir und die Schrottsammler haben alle verzweifelt versucht, irgendwas am Himmel zu sehen. Und dann gab es diesen Unterschallknall, diesen extremen lauten Knall, wenn diese Booster vom Himmel fallen. Und Peter rennt auf den Sascha zu, der mit dem meisten Testosteron, und Sascha zeigt in den Himmel, wo nun was zu sehen ist – und Peter erwischt das in einem Take. Das ist einfach ein Wunder. Aber das ist bei ihm ständig so. Immer wieder erleb ich so was mit ihm. Ich hab diese Sequenz, die etwa zehn Minuten dauert, einmal geschnitten und nie mehr angerührt. Das ist eine dieser Sequenzen, die einmal geschnitten, funktioniert und in allen Fassungen immer gleich bleibt. Das stimmt einfach.

FILMBULLETIN In den Vorbereitungen informierst du Peter Indergand darüber, was läuft?

CHRISTIAN FREI Wir reisen zusammen, wir sprechen ganz intensiv, stundenlang, tagelang. Regie führen heisst beim Dokumentarfilm antizipieren und den Kameramann vorbereiten, beim Drehen mach ich nicht mehr so viel. Vielleicht mach ich ein bisschen Ton, aber ich kann nichts Wesentliches mehr tun. Und dann erntet Peter mit der Kamera, und dazu muss er wissen, was ich will. Natürlich muss er sehr gut vorbereitet sein, was jetzt da geschehen könnte.

Wir sind sehr unterschiedlich in unserer Art, wie wir die Welt sehen, aber wir ergänzen uns hervorragend, gerade weil wir uns nicht ähnlich sind. Irgendwo haben wir einen Draht zueinander gefunden und Vertrauen aufgebaut. Ich gebe ihm Infos, Infos, Infos – und er hat das irgendwo im Kopf –, aber nachher lasse ich ihn komplett machen. Bei mir wird praktisch nie irgendwas wiederholt. Das läuft dann einfach.

Es war natürlich grossartig, mit diesen Schrottsammlern unterwegs zu sein. Man ist einfach buchstäblich mitten im Nichts, in einer Landschaft, flach bis an den Horizont. Man hat nur noch Satelliten über sich, an denen man sich orientieren kann. Wasser, die Technik, die wir brauchen, und den ganzen Rest schleppt man mit. Das ist mein Job, ich organisiere das. Die ganze Logistik aufzubereiten ist durchaus auch ein Aspekt meiner Arbeit, der mir Spass macht. Das ist Chefsache bei mir. Ein Production Assistent, der mir etwas abnehmen soll, aber zuerst im Atlas nachschlagen muss, wo Kasachstan liegt, hilft mir nicht weiter. Schliesslich ist alles lokal, alles konkret. Das war schon bei War Photographer so. Am Schluss ist man an einem Ort. Und da hat es eine Stimmung, man antizipiert etwas, einen Konflikt etwa, je nach dem auch eine Gefahr, ein Ereignis – und meine ganze Logistik und meine Hartnäckigkeit zielt darauf, dass Peter Indergand mit der Kamera im richtigen Moment am richtigen Ort steht. Ich vergleiche mich ganz bewusst mit Jean-Baptiste Grenouille in «Das Parfüm», weil ich diese Besessenheit des Wartens habe. Und die Essenz, die ich zu finden erhoffe, die bei ihm über die Nase geht, ist bei mir visuell. Allerdings gehe ich nicht über Leichen!

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FILMBULLETIN Den Ton machst du weitgehend selber, und dann kommt je nach dem ein bisschen Musik dazu. Manfred Eicher als Stichwort.

CHRISTIAN FREI Die Musik hat bei meinen Filmen eine wichtige Funktion. Sie wird nie am Schluss darübergeklebt, sondern sie ist in meinen Projekten Teil des Prozesses, sie liegt auch beim Schneiden darunter und nicht am Schluss darüber. Ich wähle schon in einer frühen Schnittphase – mit Beratung des Münchner Musikproduzenten Manfred Eicher – Stimmungen aus, die mir helfen, eine Überhöhung zu erreichen – ob Puristen das nun lieben oder nicht. Ich liebe puristische Filme, aber für mich habe ich durchaus den Anspruch, dass ich Kino herstelle. Wenn diese Schrottsammler mit diesen Lastwagen losdonnern, dann ist es ein Kinoerlebnis.

Bei den Recherchen dachte ich immer wieder an Tarkowskij. Baikonur ist eine Zone, aber auch die Fallzone, wo diese Rüben, diese Booster, diese Raketenstufen runterfallen, ist eine Zone. Natürlich interessierte mich dann der Komponist, der stalker, solaris vertont hat, dieser wunderbare Edward Artemyev, der als ganz grosser Komponist in Russland natürlich sehr sehr bekannt ist. Ich dachte einfach, dass ich mir den, ehrlich gesagt, nicht leisten kann. Das war auch die Meinung meiner Beraterin, der Simone Baumann von LE VISION, die sagte: «Du hör mal, der macht wie Philip Glass die ganz grossen russischen Kisten. Den kannst du dir nicht leisten.» Es hat mich dann unglaublich gefreut, dass auch Edward Artemyev über den direkten Zugang, über das Sehen von Material, mir diese Musik zur Verfügung stellte. Ich glaube nicht, dass die Leute diese Musik irgendwie als Stalker-Zitat lesen. Ich hab die Musik auch ganz anders eingesetzt. Aber dieses Metall, das da permanent in dieser Musik drin liegt, diese ganze wunderbare Fülle von Metallgeräuschen, Eisenbahngeräuschen, die passen nun wirklich sehr gut zu Baikonur. In diesem Weltraumbahnhof mit siebzehn Startrampen, so gross wie die Schweiz, ist ja nicht nur Leere, da ist ganz viel Geschichte, ganz viel Konflikt, ganz viel Erfolg drin. Vom Sputnik über Laika bis zu Gagarin sind da alle rauf, und ich wollte das füllen. Einfach ein bisschen Wind, ein bisschen Kamelgeräusche, das ist nicht adäquat für diesen Ort.

Dann, auch mit Beratung von Manfred Eicher, Musik von Jan Gabarek und den guten alten Steve Reich mit einem Stück für achtzehn Musiker, das er in den siebziger Jahren geschrieben hat, ein Stück, das siebzig Minuten dauert, wunderbare Musik. Ich fand’s angemessen für die Sequenz, wo Charles Simonyi bei seinem Training im Sternenpark mit seinem Mountainbike durch den Schnee hetzt und immer Angst hat, er komme zu spät zur nächsten Lektion. Ich fand das toll, dass eben auch diese Milliardäre, ohne Chauffeure, sondern mit dem Mountainbike von einem maroden Gebäude zum andern gehetzt und militärisch gedrillt werden.

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FILMBULLETIN Und dann kommt noch die Mischung, mit Florian Eidenbenz.

CHRISTIAN FREI Bei Florian habe ich wieder den Vorteil, dass ich auch der Produzent bin. Denn er schimpft sehr viel mit mir, zurecht, weil ich kein perfekter Tontechniker bin. Diesmal hatte er ein bisschen mehr Verständnis, weil er wusste, dass ich etwa die Landung selbst filmte, mit dieser grossen Kamera. Aber was willst du denn machen in einem Helikopter? Auch ein Tonprofi kann da nicht viel machen. Es ist einfach laut.

Vom Konzept her, überlegt man sich, was sind die wirklich wesentlichen Geräusche, und da bin ich plötzlich wieder am Punkt, wo es gar nicht so entscheidend ist, dass ich den Ton eben schlechter hergestellt habe als ein professioneller Tontechniker. Wenn ich so lange drehe, bei giant buddhas waren es fünfzehn Wochen, hier waren wir auch wieder mindestens fünfzehn Wochen unterwegs, dann fällt ein zusätzliches Honorar, ein Lohn für einen Tontechniker, die Flüge, die Unterkunft, langsam ins Gewicht.

Bei bestimmten Aufnahmen habe ich auf jeden Fall Tönler dabei, aber nicht immer. Es ist auch eine Frage der Einteilung meines Budgets. Ich wahre mir lieber die Chance, nochmals hingehen zu können, als dass ich jetzt einen strukturierten Drehplan mache, wo ich planmässig fertig werden muss, weil dann auch das Budget ausgeschöpft ist.

Raketen sind nicht nur etwas vom Lautesten, sondern sie sind auch etwas Gewalttätiges. Ich wollte in Space Tourists aber nicht immer nur laut sein. Das Grundkonzept war: das Grosse ganz klein zu machen und das Kleine ganz gross. Etwa 120 Sekunden vor dem Start der Sojus habe ich das Gedicht «Posredine Mira» von Arsenij Tarkowskij plaziert, ganz ganz leise gesprochen, wie es leiser fast nicht mehr geht. Mit dieser Nachdenklichkeit will ich die Zuschauer auf die Reise schicken. Ich wollte den Pathos des Raketenstarts nicht entpathetisieren. Ein Raketenstart ist immer pathetisch, weil er so laut ist, auch weil man fast die Schallwelle sieht, wenn diese fünfzig Tonnen hinaufgeschoben werden. Das ist dann so, als ob dir jemand in den Bauch schlägt.

Und am Schluss des Films gehe ich nochmals in die Steppe in der Altai Region, wo die Teile der zweiten Stufe in relativ bevölkertes Gebiet fallen. Während der ganzen Sowjetzeit wurden diese Schrottstücke nicht gesammelt. Die lagen da überall rum, aber niemand getraute sich, da was abzubauen. Aber es gibt viele wunderbare Erzählungen, von Schafhirten, die sich dennoch ein ganz schmales Blech genommen und sich einen Unterschlupf gebaut haben.

Und ein Resultat meiner Überlegungen zu gross und klein ist, dass ich dann mit dieser Einsamkeit dieses Hirten, der sich da einen Schutz baut mit Blechen, die aus einem Stück Rakete stammen, ganz leise aufhöre.

Mit Christian Frei sprach Walt R. Vian

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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