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Bichsel 02

Von der Erinnerung, die stehen bleibt

Die visuellen Erinnerungen in meinem Kopf sind stehende Bilder – Bilder, die im Original bewegt waren, entweder in Realität oder im Kino – Erinnerung ist etwas Monumentales, und Monumente bewegen sich nicht.

Text: Peter Bichsel / 01. Dez. 2010

Ich bin schon längst kein Kinogänger mehr. Das überrascht mich jedes Mal, wenn es mir auffällt, und das tut es, wenn ich gefragt werde: «Hast du den und den Film schon gesehen?» «Nein», sage ich, und er beginnt zu erzählen. Ich lasse mir Filme ungern erzählen, dieses dauernde «Weisst du, und dann …» Also sage ich: «Ja, ich habe ihn gesehen», und er beginnt mir den Film zu erzählen. Aber es stellen sich bei mir keine Bilder ein, während er erzählt. Ich weiss weshalb, das Kino als Raum des Ereignisses fehlt, das langsame Abdunkeln, der Vorhang vor der Leinwand, der Gong, der brüllende Löwe.

Ich stamme aus einer Generation, für die Kino mal verboten war, sehr verboten. Bevor man sechzehn war, war Kino ein Tabu. Film sah man nur im Fipp Fopp-Klub, und die Kleinen drängelten schon eine Stunde vor der Aufführung – ein paar Mikeymausfilme, oder sonst irgend etwas, das sich bewegte.

Und wenn wir uns dann später, mit vierzehn, fünfzehn verbotenerweise ins Kino schlichen, uns möglichst gross machten und überzeugt waren, dass das Kino voller Polizisten sei, die Minderjährige verhaften und gleich ins Erziehungsheim überführen würden, und froh waren, wenn es dunkel wurde, dann bekamen wir eigentlich nicht viel mehr mit als den Nervenkitzel des Verbotenen. Ich staune heute noch, dass mir meine sehr korrekten Eltern damals ab und zu erlaubten, dieses absolute Verbot zu übertreten. Der Vater half mir mit einem Anzug und einer Krawatte aus, damit ich diesen Heerscharen von Polizisten nicht auffallen sollte.

Und so wie mich die verbotenen Bücher zum Leser gemacht haben, hat mich das verbotene Kino zum Kinogänger gemacht. Inzwischen sind die laufenden Bilder weit mehr als unverboten, sie drängen sich tagtäglich an allen Ecken auf. Und unser Nachbar, der eine Achtmillimeterkamera besass, könnte mit seinen Ferienfilmchen keine Nachbarskinder mehr begeistern.

Aber eigenartig, auch wenn die Sensation die war, dass die Bilder sich bewegten – meine Erinnerungen an Filme sind statisch – stehende Bilder in Schwarz-weiss. Humphrey Bogart, Casablanca, ist in der Erinnerung eine Serie von wunderbaren Fotos.

Übrigens, träumen Sie farbig, oder schwarz-weiss? Ich bin mir ganz sicher, dass ich schwarz-weiss träume. Ich erinnere mich an viele Diskussionen darüber und habe viele getroffen, die auch schwarz-weiss träumen. Ich frage mich, ob das etwas mit Fotografie zu tun hat, ob es erst seit es die Fotografie gibt, Menschen gibt, die schwarz-weiss träumen.

Wie haben Menschen gelebt, bevor es Bilder gab, bevor es die Möglichkeit gab, sie massenhaft zu vervielfältigen? Ich habe das Matterhorn in Wirklichkeit noch nie gesehen – Berge schon, aber das Matterhorn zufälligerweise nicht, aber ich kenne es von Hunderten von Bildern, bewegten und unbewegten.

Ich behaupte zwar, dass ich Paris aus der Literatur gut kenne, auch wenn ich bis vor kurzem nie da war, dass ich über Afrika und Südamerika gelesen hätte, aber wie wäre das ohne Bilder, bewegte Bilder und unbewegte Bilder und vor allem auch bewegte Bilder, die in der Erinnerung zu Fotografien erstarren – Jean Gabin mit seiner Zigarette und dem Rauch, der ihm für ewig vor dem Gesicht stehen bleibt.

Ich habe die Welt im Kino kennengelernt – nicht etwa im Studiofilm und in aussergewöhnlichen Filmen hervorragender Regisseure, sondern einfach im Kino – Tirol und Hollywood, Audrey Hepburn und Hans Moser und Eddie Constantine, und ich habe ab und zu den Eindruck, dass mich letztlich der Western zum Sozialisten gemacht hat – oh diese Gerechtigkeit –, eine grandiose Fehlleistung von Hollywood!

Die visuellen Erinnerungen in meinem Kopf sind stehende Bilder – Bilder, die im Original bewegt waren, entweder in Realität oder im Kino – Erinnerung ist etwas Monumentales, und Monumente bewegen sich nicht.

Was sich bewegt in meiner Erinnerung, das ist Sprache, das sind Sätze, einmal gehört, einmal gelesen, und sie bleiben als Bewegungen in meinem Kopf.

All dies und noch viel mehr ist mir durch den Kopf gegangen, nachdem ich Geysir und Goliath von Alexander Seiler in einer Vorpremiere gesehen habe – ein Portrait des Bildhauers Karl Geiser, ein Portrait über einen, der Monumente schuf, unbewegte Monumente, die bewegen.

Der Film besteht fast nur aus unbewegten Bildern, aus Fotografien, die aneinandergereiht zu einem bewegten und bewegenden Film werden, den Rhythmus eines Filmes haben, und – für mich eine wunderbare Umkehrung – in der Erinnerung zu bewegten Bildern werden; bewegt durch das, was einen Film ausmacht, durch den Schnitt, und bewegt durch das, was sich in der Erinnerung bewegt, durch die Sprache.

So wie ich Filme in Erinnerung habe, so ist Seilers Film bereits im Jetzt und wird damit beim ersten Schauen zur Erinnerung, ich sitze da und habe das Gefühl, mich jetzt und im Jetzt zu erinnern. Keine Interviews mit Zeitgenossen, keine Gänge mit der Kamera – nur das Monument Geiser und seine Monumente, an denen er und für die er gelitten hat. Ich habe noch selten so direkt erlebt, dass die Form eines Films – diese wirklich aussergewöhnliche Form – den Inhalt beschrieb. Das Monument beschreibt ein Monument.

Peter Bichsel

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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