Filmbulletin Print Logo
Myriam flury

«Schneiden hat auch ein Suchtpotential»

FILMBULLETIN Wie lebt man damit, dass selten der Rote Teppich für den Filmschnitt ausgerollt wird?

MYRIAM FLURY Bezüglich Anerkennung: Ich meinerseits fände es langsam an der Zeit, dass beim Schweizer Filmpreis die Kategorie Filmschnitt endlich eingeführt würde. Drehbuch, Musik, Kamera sind drin. In dieser Reihe fehlt definitiv das Editing.

Text: Doris Senn und Josef Stutzer / 01. Jan. 2012

FILMBULLETIN Sergei Eisenstein hat gesagt: «Montage ist alles. Montage ist nichts.» Wie seht ihr das?

STEFAN KÄLIN Stimmt! (Die Runde schmunzelt.)

MYRIAM FLURY Vielleicht kann man sagen, dass ein guter Schnitt sich dadurch auszeichnet, dass er nicht auffällt, unsichtbar ist.

KATHRIN PLÜSS Für mich ist die Montage eine Königsdisziplin. Wobei man unterscheidet zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Im Spielfilm ist vieles festgeschrieben: Die Abfolge ist gegeben, und wir arbeiten im Mikrobereich – die Beziehungen zwischen den Figuren, die Spannung … Im Dokfilm sind wir, insbesondere seit der Digitalisierung – seit viel mehr gedreht wird, gedreht werden kann, oft auch das Konzept etwas zu kurz kommt –, verstärkt involviert bei der eigentlichen Entstehung des Films. Wir sind vermehrt ein wichtiges Gegenüber, wenn es darum geht, die filmische Aussage auf den Punkt zu bringen.

ANJA BOMBELLI Ich würde noch weitergehen und sagen, wir sind bei der Erfindung der Geschichte mit dabei. Von daher würde ich eher dem ersten Teil des Zitats von Eisenstein zustimmen, das sagt: Montage ist alles.

MYRIAM FLURY Inhaltlich und dramaturgisch sind wir stärker beteiligt. Ich stelle auch fest, dass die Entscheidungen zunehmend in den Schneideraum verlagert werden. Das ist eine sehr intensive Arbeit. Früher war das Filmmaterial sehr teuer, und man musste sich überlegen, was man dreht. Heute hat man diese Kassettchen, die vier Franken kosten. Die Kameraleute lieben es grundsätzlich zu drehen, und so landet das ganze Material bei uns im Schneideraum. Unreduziert.

KATHRIN PLÜSS Um eine Zahl zu geben: Früher war ein Verhältnis von eins zu zehn üblich. Heute gibt es in der Regel rund hundert Stunden Material für einen anderthalbstündigen Film. Doch um auf den zweiten Teil des Zitats von Eisenstein zurückzukommen: Wenn eine klare Idee fehlt, ist es schwierig, auch aus sehr viel Material im Schnitt etwas Gutes zu machen – was entsprechend unbefriedigend ist. Aber auch: Jedes Projekt ist immer wieder anders – und man hat vermehrt Möglichkeiten, nicht nur ins Bild einzugreifen, sondern auch auf der Ton- oder Sprachebene noch Dinge einzubringen.

K farbe

(Bild: Kathrin Plüss)

FILMBULLETIN Wie geht man vor, wenn man sich einer solchen Materialfülle gegenübersieht?

STEFAN KÄLIN Wenn man das Material für einen Dokumentarfilm seriös sichten möchte, ist man bald mal sechs bis acht Wochen nur damit beschäftigt. Das ist sehr zeitintensiv, das ist wahr. Zuerst geht es um Reduktion – dann erst beginnt der Schnitt. Insgesamt rechnet man rund zwölf Wochen Arbeit für einen Spielfilm – für einen Dokfilm gut doppelt so lange.

ANJA BOMBELLI Die grosse Menge ist ein Segen und ein Fluch. Gerade im Dokumentarfilm wird die Kamera oft gar nicht mehr abgestellt. So entstehen zwar Trouvaillen, geschenkte Szenen, die sonst nicht entstanden wären – wenn man nach der Disziplin von früher hätte drehen müssen. Andererseits braucht man die Zeit, die man durch die moderne Technik gewonnen hat, durch ihre schnellere Handhabung, an einem andern Ort, nämlich um die Menge an Material zu bewältigen. Grundsätzlich habe ich nie zu viel Material, aber auch nie zu wenig.

KATHRIN PLÜSS Ich habe das Gefühl, wir arbeiten eher mehr als früher. Kommt noch dazu, dass wellenweise technische Neuerungen kommen, die uns auf Trab halten. Früher war die Postproduktion der billigste Teil der Filmherstellung – mittlerweile ist sie der teuerste. Was nicht zuletzt mit dem Zeitfaktor zu tun hat. Man muss viel rückfragen bei technischen Problemen und viel Werweissen, was immer wieder sehr viel Unruhe gibt und auch belastend wirkt.

FILMBULLETIN Grundsätzlich beginnt euer Arbeitsprozess aber mit der Sichtung des Materials?

ANJA BOMBELLI Ich habe auch schon Filme gehabt, wo ich zu einem späteren Zeitpunkt dazustiess und eine erste Reduktion bereits stattgefunden hatte – auch, um unser Engagement nicht auf Monate auszudehnen. Wobei ja immer die Möglichkeit besteht nachzufragen, falls man dann an einer bestimmten Stelle mehr Material bräuchte. Und eine gewisse Menge Material braucht man ja allein, um auf gestalterische Ideen kommen zu können.

Stefan kaelin

(Bild: Stefan Kaelin)

KATHRIN PLÜSS Aufgrund meiner Erfahrung werde ich häufig auch für den Feinschnitt oder die Supervision eines Schnitts angefragt, wo man von einem Rohschnitt ausgeht. Aber natürlich ziehe ich es vor, einen Schnitt von Anfang an zu machen. Wobei wir auch die Erfahrung haben, um diese hundert Stunden “auszuhalten”. Was mir grundsätzlich auffällt, ist, dass früher genauer recherchiert wurde – auf Kosten einer gewissen Spontaneität oder der Vorwegnahme von Überraschungen. Früher hatte der Dreh einen rituelleren Charakter – mit der Kamera, dem Licht et cetera. Der Nachteil heute ist meiner Meinung nach, dass die Regie ihren Hauptpersonen geradezu hinterherrennt. Und so erhält man Aussagen an den ungünstigsten Orten – zum Beispiel im Hauptbahnhof, wenn jemand vor einer riesigen Lärmkulisse über seine Liebesgeschichte spricht. Die Kontrolle, wo was passiert, ist kaum mehr da. Das heisst für uns dann, dass man trotz dem Lärm so etwas wie Intimität herstellen muss – dafür hat die Aussage dann etwas Frisches.

ANJA BOMBELLI Häufig ist die Regie der Meinung, dass sich das dann technisch irgendwie richten lässt.

STEFAN KÄLIN Ein guter Kameramann kann einem da die Arbeit schon sehr erleichtern. Es gibt Kameraleute, da versteht man immer, was die Absicht war – auch wenn es vielleicht nicht immer gelingt. Andere sind wiederum viel fahriger, unkonzentrierter unterwegs …

FILMBULLETIN Kann man denn Szenen «reparieren» oder besser retten?

MYRIAM FLURY Ich gehe immer nach der Emotionalität. Klar muss verständlich sein, was gesagt wird, sonst wäre es ja nicht emotional. Aber darüber hinaus sind meiner Meinung nach gewisse Abstriche, eine gewisse Unschärfe möglich. Die Leute sehen den Film ja in der Regel einmal und nicht wie ich hundertmal. Ich finde das Visionieren beim Film das Anstrengendste. Grundsätzlich habe ich auch nicht mehr Zeit als früher – und so kommt der Schnitt meiner Meinung nach dann fast etwas zu kurz. Das finde ich grundsätzlich eine Fehlentwicklung – weil dann fast zu wenig Zeit bleibt, Versionen auszuprobieren, einen neuen Anfang, eine neue Mitte oder einen neuen Schluss. Oder alles wieder zu verwerfen. Prinzipiell meine ich, weiss die Regie eigentlich, was sie hat. Aber dann wird doch noch das eine oder andere Interview gemacht. Dabei ist eigentlich alles schon im Kasten. Deshalb lege ich Wert darauf, das Material schon während des Drehs anzuschauen. So kann ich eine Referenz sein, und die Regie erhält ein Feedback.

STEFAN KÄLIN Das ist auch meine Erfahrung. Auch ich setze oft schon während des Drehs ein und kann mit«bestimmen» beim weiteren Dreh. Das ist durchaus sinnvoll. So kann ich zudem mit Pausen arbeiten – was meistens sehr produktiv ist. Ich habe auch schon erlebt, dass sich ein Schnitt über ein Jahr hinweggezogen hat und man punktuell immer wieder daran gearbeitet hat. Zeit kann ein sehr produktives Element sein bei der Entstehung eines Films.

KATHRIN PLÜSS Gerade bei Langzeitstudien ist es ungemein spannend, die Entwicklung der Figuren zu verfolgen – zu schauen, wie
die Regie das umsetzt. Zudem: Durch die Digitalisierung wurde der Ablauf der Filmherstellung extrem flexibilisiert. Oft passiert heute alles vorzu, gerade bei Projekten mit wenig Geld: Jener befreundete Grafiker macht noch etwas, dieser hat noch eine Idee, ein anderer macht die Musik – das ist interessant, aber auch komplex, um schliesslich alles unter einen Hut zu bringen. Jeder Film ist wieder ganz anders.

ANJA BOMBELLI Was es ja auch so spannend macht: Jeder Film hat seine eigenen Gesetzmässigkeiten, eigene Voraussetzungen – mit einer immer wieder neuen Zusammensetzung von Leuten. Ich finde deshalb auch unseren Beruf so extrem abwechslungsreich. Abgesehen von der Kreativität, die man einbringen kann. Die Erfahrungen sind immer wieder anders, neu.

Anja b

(Bild: Anja Bombelli)

FILMBULLETIN Wie ist das Verhältnis zur Regie? Wie gross ist eure Autonomie?

ANJA BOMBELLI Die Chemie muss unbedingt stimmen. Wir alle haben schon erlebt, was passiert, wenn die Kommunikation nicht funktioniert. Oder wenn man nicht denselben Film im Material sieht. Eine Vertrauensbasis muss unbedingt da sein. Auch wenn man überhaupt nicht immer gleicher Meinung ist. Ein Teil unserer Aufgabe ist auch, sich auf die mitunter schwierige Person der Regie einzustellen … (Schmunzeln)

KATHRIN PLÜSS Letzteres hat sicher damit zu tun, dass der Druck auf der Regie sehr gross ist – und entsprechend gross ist die Verwundbarkeit. Gerade beim Spielfilm kommt die Regie aus einem anstrengenden Prozess, der Arbeit mit einer grossen Equipe, der gegenüber sie ihre Vision vertreten musste. Beim Schneiden wird sie dann zum ersten Mal damit konfrontiert, wie das, was man im Kopf hatte, aussieht. Wir fungieren dann als erste kritische Zuschauer/innen.

MYRIAM FLURY Deshalb gilt als goldene Regel, dass der Schnitt nie auf dem Set dabei ist. Damit unsere Unvoreingenommenheit intakt bleibt. Wir sehen den Take und können sagen, ob er funktioniert oder nicht. Wenn das Vertrauensverhältnis dann aber stimmt, ist es oft so, dass man wieder zusammenarbeitet. Man versteht sich dann blind. Schneiden hat auch ein Suchtpotential: Man schneidet, es funktioniert, es entsteht etwas. Auch wenn es dann neben Quantensprüngen auch immer wieder Durststrecken gibt.

STEFAN KÄLIN Wobei – ich mache die Erfahrung, dass die Zeit immer sehr schnell verfliegt. Die Arbeit hat auch etwas Tranceartiges: die Konzentration, Töne, Bilder und im besten Fall auch noch gute Musik. Es ist eine sehr sinnliche Beschäftigung. Nicht zuletzt ist auch eine musikalische Qualität gefragt, weil es immer auch vom Rhythmus ausgeht.

MYRIAM FLURY Positiv im Gegensatz zu früher finde ich beim jetzigen digitalen Arbeiten …

STEFAN KÄLIN Es gibt nur Gutes …! (allgemeines Lachen)

MYRIAM FLURY … man kann neue Versionen machen, eine Idee ausprobieren. Vorher, am Schneidetisch, war das sehr aufwendig – unter Umständen musste man die bestehende Version abfilmen, um im Notfall wieder dazu zurückkehren zu können.

STEFAN KÄLIN Gut, aber von was für einem Zeithorizont sprechen wir? Ich glaube kaum, dass irgendjemand zu den alten Verfahren zurück möchte …

07117i11

(Bild: Filou)

ANJA BOMBELLI Ich habe vor zwanzig Jahren den ersten Film mit Digitalschnitt gemacht. Und grundsätzlich ist es einfach ein Segen. Ich glaube, da möchte niemand mehr zurück.

KATHRIN PLÜSS Gut, ich muss zwar sagen, den eigentlichen Filmschnitt davor habe ich auch geliebt. Es war eine handwerkliche Arbeit – und insbesondere arbeitete man im Team. Diese Atmosphäre, die etwas von einem Nähatelier hatte, vermisse ich manchmal. Und natürlich den weissen Handschuh … Aber grundsätzlich hat man heute enorm viel mehr Möglichkeiten. Eingeschlossen in unserer Arbeit war zudem der Ton: Wir haben früher den Tonschnitt gemacht – später wurde nur noch gemischt. Dass wir das ins Tonstudio abgeben mussten, habe ich im ersten Moment doch sehr bedauert.

MYRIAM FLURY Als ich noch Assistentin war, gab der Ton mir die Möglichkeit einzusteigen – und der Cutterin zuzuschauen sowie das Verhältnis zur Regie zu erleben. Dabei konnte ich extrem profitieren für meine Ausbildung – heute kannst du höchstens noch jemanden zum Digitalisieren anstellen. Die Möglichkeit zu assistieren fällt weg: Es gibt gar nichts mehr zu tun. Dabei war diese praktische Erfahrung enorm lehrreich.

FILMBULLETIN Der Ton kommt “neu” zum Sound Design, aber ihr entscheidet nach wie vor zusammen mit der Regie: Hier braucht es Bruitage, hier setzt die Musik ein?

ANJA BOMBELLI Die dramaturgisch wichtigen Tonelemente schneide ich alle mit.

STEFAN KÄLIN Gerade beim Dokumentarfilm finde ich es sehr gut, wenn der Musiker früh mit dabei ist. Für mich ist es spannend, schon erste Musikideen zu haben – und eventuell auch sagen zu können, hier müsste man eher in diese Richtung gehen. Das ist ein spannender Prozess. Oft komme ich auch über die Musik auf Ideen, wie man mit dem Film umgehen könnte.

ANJA BOMBELLI … auch wenn Musiker oft erst am Schluss dazukommen möchten … Das ist für mich nicht der Idealfall. Auch wenn Musiker heutzutage ebenfalls Framegenau komponieren können. Ich bin auch schon erschrocken, was die Musik für Auswirkungen haben kann – so sehr, dass man den eigenen Film nicht mehr wiedererkennt.

MYRIAM FLURY Extrem schwierig finde ich, wenn man probehalber eine “geile” fremde Musik auf einen Film legt – weil man sich nachher kaum mehr von diesem starken ersten Eindruck lösen kann. Musik ist doch sehr stark – mit Musik kann man auch vieles vertuschen …

FILMBULLETIN Hat sich denn der Einsatz der Musik in den letzten Jahren verändert?

KATHRIN PLÜSS Ich würde sagen, dass mit dem modernen Sound Design die Grenze zwischen Filmmusik, Geräuschen und Ambiancen fliessend geworden ist. Komponierte Musik ist kein Luxus mehr.

ANJA BOMBELLI Oftmals macht der Musiker das Sound Design und hat so die Möglichkeit, Elemente des Tons für seine Komposition zu verwenden.

Koblet 05

(Bild: Hugo Koblet – Pédaleur de charme)

MYRIAM FLURY Das Ganze wurde spielerischer. Oft macht auch das Sound Design selbst noch die Musik. Geräusche können die Musik inspirieren. Oder man kann mit Synkopen arbeiten: statt dem Takt auf den Schnitt – versetzt zum Bildschnitt, was dem Schnitt wieder eine andere Dimension geben kann: Die Tür geht zu, man hört das Geräusch aber erst nach dem Schnitt, und die Musik nimmt dies wiederum auf. Ideal ist, wenn das Sound Design und die Musik das übersetzen kann, was ich im Schnitt mache. Als eine Art Verlängerung.

FILMBULLETIN Gibt es ein Regelwerk des Schnitts, das früher galt und heute nicht mehr gilt beziehungsweise revolutioniert wurde?

MYRIAM FLURY Klar gibt es Regeln, aber ich kann mich schlecht selber beschreiben in meinen Schnittverfahren. Ich erfahre dann eher aus analytischen Texten über einen Film, den ich geschnitten habe: Aha, ich habe eine Ellipse gemacht! Aber das passiert intuitiv.

STEFAN KÄLIN Man hat die Regeln wohl kaum als solche präsent. Zwar gibt es schon gewisse “Gesetze” – zum Beispiel beim Anschluss, beim Dialogschnitt im Spielfilm, wo man weiss: So funktioniert’s! Aber manchmal bricht man das auch ganz bewusst. Wobei: So etwas wie die Regel der filmischen Achse zu respektieren, das passiert automatisch. Man will ja den Zuschauer nicht vor den Kopf stossen, sondern ihm die Orientierung ermöglichen.

KATHRIN PLÜSS Manchmal darf aber auch eine Irritation entstehen. Ich glaube allerdings, dass sich die Sehgewohnheiten des heutigen Publikums verändert haben. Früher galt: Um etwas zu verstehen, muss es drei Sekunden stehen bleiben. Das ist heutzutage absurd. Durch die vielen audiovisuellen, oft auch “wilden” Produkte, mit denen das Publikum heute Umgang hat, akzeptiert es, dass eine Geografie nicht genau ausformuliert oder eingehalten wird.

ANJA BOMBELLI Die Arbeit der Kamera hat sich natürlich auch enorm verändert …

KATHRIN PLÜSS … Genau! Die Kameras sind leichter geworden, es gibt andere Bewegungen … Die Leute sind sich anderes gewohnt, es gibt mehr “Grosszügigkeit”, was das Verständnis gegenüber dem Material betrifft. Dafür ist die Geduld, ein Produkt in seiner ganzen Länge anzuschauen, eher weniger da. Darum sind wir ja so froh um das Kino, das die Leute für zwei Stunden im dunklen Raum einsperrt, was sie zwingt, etwas Geduld zu haben, bevor etwas erklärt wird.

ANJA BOMBELLI Ich befolge kaum Regeln. Für mich regiert das Material. Und das ist bei jedem Film wieder anders – in Bezug auf Stil, Dynamik …

MYRIAM FLURY Es ist jedes Mal ein neues Abenteuer, eine neue Herausforderung. Genau darin besteht das Suchtpotential: Ideen entstehen lassen, sie ausprobieren und zu sehen, dass es funktioniert. Das ist super! Grundsätzlich gehört ein Talent dazu, zu sehen, dass eine Szene mit der anderen korrespondiert. Es braucht ein gewisses Rhythmusgefühl. Und Intuition. Und Mut, in das Material einzugreifen. Weshalb eine Szene nicht funktioniert, ist sehr schwer zu erklären.

FILMBULLETIN Gibt es demnach keine Handschrift im Film Editing, die wiedererkennbar wäre?

STEFAN KÄLIN Vielleicht ungewollt. Aber es darf nicht das Ziel sein.

MYRIAM FLURY Zu mir sind schon Regisseure gekommen mit der Aussage: Du schneidest den Dokumentarfilm ausgeprägt fiktional. Wo ich fand, aha, interessant! Aber ich kann ja auch nur dann so arbeiten, wenn ich das entsprechende Material zur Verfügung habe.

ANJA BOMBELLI Oft bildet man ein Zweiergespann mit einem Regisseur, und es gibt eine Art gemeinsame Handschrift.

KATHRIN PLÜSS In einer grossen Filmnation ist es wahrscheinlich eher ungewöhnlich, dass jemand Dok und Spielfilm gleichzeitig schneidet oder LowBudget gleichzeitig mit High-End-Filmen. Bei uns ist das eher üblich, und auch in meiner Karriere mischen sich «Chruut und Rüebli».

Cartier bresson 01

(Bild: Henri Cartier Bresson)

FILMBULLETIN Welche eurer Filme empfindet ihr als prägend und weshalb?

MYRIAM FLURY Für mich war Die Regierung von Christian Davi sehr bestimmend. Es war mein erster langer Dokumentarfilm, und er wurde auch gleich noch ausgezeichnet. Da habe ich gemerkt: Ich kann’s. Und: Das ist meine Passion. Es ist einfach sehr befriedigend, wenn du im Kinosaal merkst, ein Film funktioniert. Bei diesem Film im Speziellen ging es darum, dass die Protagonisten im Film – die behindert sind – zu Menschen werden und nicht einfach Figuren sind und dass man als Zuschauer Nähe zu ihnen entwickelt. Wenn das Publikum mit ihnen lacht oder weint, wenn die Emotion von der Leinwand zum Zuschauer übergeht – das ist für mich das höchste der Gefühle.

ANJA BOMBELLI Manchmal ergeben sich auch grosse Veränderungen, nur schon wenn man bei der einen Szene einen halben Satz wegnimmt oder dazugibt – und die Figur kippt von sympathisch zu unsympathisch. Letztlich geht es immer auch um eine ethische Haltung: Ich muss meine Protagonisten gern haben, um ihnen gerecht zu werden – egal, ob sie toll sind oder weniger. Man muss fähig sein, eine solche Gratwanderung zu absolvieren.

KATHRIN PLÜSS Die Dosierung ist wichtig.

ANJA BOMBELLI Das gilt auch, wenn man eine eher negative Seite einer Person zeigen will, dann nimmt man diese Szene nicht an den Anfang, sondern gibt der Figur zuerst etwas Bonus.

KATHRIN PLÜSS Man kann natürlich auch jemand gleich zu Beginn von seiner unsympathischen Seite zeigen, muss es dann aber so einfädeln, dass die Leute trotzdem dranbleiben und Lust haben, den Film zu sehen.

STEFAN KÄLIN Zu Beginn gehen wir von einem Rohschnitt aus, der oft noch sehr langweilig ist. Dann beginnt die Überarbeitung mit einer Summe von kleinen chirurgischen Eingriffen. Beim Dokumentarfilm ist es oft erst ganz kurz vor Schluss, dass er anfängt zu greifen und eine gewisse Leichtigkeit erhält und mehr wird als ein “Layout” und eine Abfolge von Szenen.

FILMBULLETIN Zurück zu den prägenden Filmen …

STEFAN KÄLIN Das war für mich Hugo Koblet – Pédaleur de charme von Daniel von Aarburg, den ich formal sehr spannend fand, weil er Dok- und Spielfilm vereint, was für mich Neuland war. Oder jüngst The substance von Martin Witz, der dem eher langwierigen Prozess entspricht, den ich vorhin zu beschreiben versuchte: viele Bilder und Fakten, die sich erst ganz zum Schluss zu einer Erzählung fügten.

ANJA BOMBELLI Für mich ist es Maria Bethânia – ein Musikfilm über die gleichnamige brasilianische Sängerin. Besonders war für mich, dass der Film wie eine Musikkomposition funktioniert. Der Regisseur Georges Gachot wollte keine Brüche in seinem Film: Er sollte von A bis Z durchkomponiert sein und somit ganz anderen Kriterien gehorchen, als das sonst der Fall ist. Jedes Bild hatte für Georges einen je eigenen Klang. Das war für mich ein neues, spezielles Erlebnis. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Henry Cartier Bresson von Heinz Bütler. Da dachte ich für mich, das wird sehr schwierig, insbesondere aufgrund des Materials, das sehr statisch ist. Doch ich bekam richtiggehend Spass daran, das Material dazu zu bringen, «sich zu bewegen». Dabei geht es um einen über neunzigjährigen Mann, der am Tisch sitzt und über seine Bilder redet – die nicht rekadriert werden durften!

STEFAN KÄLIN Also kein Hineinzoomen oder so …

ANJA BOMBELLI … genau: Keine Veränderung erlaubt! Etwas Statischeres kann man sich gar nicht vorstellen. Auch da war es wieder eine Frage des Rhythmus – man musste Cartiers Art, zu sehen und zu denken, miteinbeziehen. Ganz klar war es auch noch eine Frage der Musik. So entstand schliesslich ein Fluss, der hoffentlich auch für die Zuschauer emotional besteht.

KATHRIN PLÜSS Eine frühe wichtige Erfahrung für mich war die Zusammenarbeit mit Samir. Er trieb mich dazu, Dinge zu tun, die ich sonst nie gemacht hätte. Ich habe bei Fee Liechti, bei Georg Janett und teils noch bei Elisabeth Wälchli gelernt – und Samir wollte nun einfach verrückte Sachen, die überhaupt niemand je getan hatte. Letzthin habe ich Filou wieder gesehen und staune heute noch über seine Frische, seine Frechheit – und bin dankbar, dass ich diese Erfahrung gemacht habe – obwohl ich damals auch sehr “gelitten” habe … Oder dann mein «Meisterstück»: Noel Field – Der erfundene Spion von Werner Schweizer. Da ging es um die Verarbeitung von dreissig Jahre Stalinismus, um ganz viele tolle Dokumente, viele Figuren, von denen jede ihre Autobiografie geschrieben hat, und man fast über jede einzelne Person einen Film hätte drehen können. Dabei sollte es keine Schulstunde werden, obwohl das Material mit viel Informationen gespickt war, die möglichst alle verständlich rüberkommen sollten.

FILMBULLETIN Mir ist aufgefallen, dass in Filmen vermehrt mit Grossaufnahmen gearbeitet wird: Hat das nun mit den vielen Koproduktionen mit dem Fernsehen zu tun, wo so eine Form verlangt wird – oder ist das der neuen Technik geschuldet, die aufgrund der Arbeit am Monitor vermehrt zu diesem Stilmittel greift, wie ein erfahrener Editor festgestellt hat?

MYRIAM FLURY Ich habe das Gefühl, dass die Form, in der in Zukunft die Filme gesehen werden, eine andere sein wird als zum Beispiel im Kino – am Computer, via Beamer zu Hause … Entsprechend werden sich auch die Filme verändern.

ANJA BOMBELLI Die meisten Dokumentarfilme, die ich zum Schneiden bekomme, müssen sowohl am Fernsehen wie im Kino funktionieren. Das heisst, es gibt eine Kinofassung, und man kürzt diese dann auf die 52-minütige Fernsehfassung herunter.

KATHRIN PLÜSS In der Schweiz kann man kaum einen Spielfilm ohne die Unterstützung des Fernsehens machen. Und auch Doks müssen am TV funktionieren, sonst haben sie fast keine Berechtigung – allein wegen der zwei Wochen, die sie im Kino laufen … Wir arbeiten für ein Medium, das teuer ist und sich immer wieder den finanziellen Bedingungen anpassen muss. Wir können vielleicht etwas bedauern oder potthässlich finden – aber wir müssen uns den neuen Gegebenheiten halt auch immer wieder anpassen.

07120i11

(Bild: Die Regierung)

MYRIAM FLURY Letztlich müssen wir uns mit dem auseinandersetzen, was uns geliefert wird. Nicht ich habe die Vision, sondern die Regie. Und auch wenn man voller Enthusiasmus für ein Projekt ist und der Film am Schluss halt nicht so toll wird, muss ich das mittragen. Wir kommen ja erst ganz am Ende einer langen Produktionskette dazu. Viel können wir dann nicht mehr «ändern». Am ehesten vielleicht noch bei einem Dokumentarfilm. Aber wenn ein Spielfilm nur auf Dialoge gefilmt ist und nicht wirklich filmisch arbeitet, habe ich kaum noch Einflussmöglichkeiten. Zusätzlich bist du auch auf die Projekte, die dir angeboten werden, angewiesen.

ANJA BOMBELLI Das Schöne an unserem Beruf ist ja, dass wir erst anfangen zu kochen, wenn der Einkauf schon getätigt ist. Der ganze mühselige Weg mit Finanzierung, Eingaben et cetera vorher passiert ohne uns. Zum Zeitpunkt, wo ich angefragt werde, ist der Film schon gedreht oder am Drehen. Der Schnitt gehört für mich zum Lustvollsten am ganzen Prozess der Filmherstellung. Was die Bedigungen für die Entstehungen waren, ist nicht mein Problem. Den Film wird’s nachher geben, und ich kann den Film mögen, selbst wenn ihn sonst das Publikum nicht gut findet.

KATHRIN PLÜSS Im Vordergrund steht dabei die Auseinandersetzung, das sich immer wieder neu Einarbeiten in ein Thema.

MYRIAM FLURY Wobei es schon ein sehr tolles Gefühl ist, wenn sehr viele Leute den Film anschauen – wie ich das bei Vitus erlebt habe. Manchmal gibt es aber auch Filme, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind – wie das mit der Liebe ja auch passieren kann –, und plötzlich finden sie ihren Erfolg dann doch noch. Aber es gibt kein Erfolgsrezept, bei dem man sagen könnte, hier sind alle Zutaten richtig, der Film muss laufen. Das gibt es nicht.

ANJA BOMBELLI Das Schöne ist, dass wir dann, wenn das Ganze anfängt zu laufen, meistens schon wieder an einem nächsten Projekt arbeiten und wieder neu starten. Wir sind nur gerade bei diesem einen Abschnitt dabei, der eigentlich der Lustvollste am ganzen Prozess ist, und gehen dann wieder zum nächsten …

MYRIAM FLURY Das zeigt sehr schön La nuit américaine von François Truffaut: Der Film erzählt vom Dreh eines Films, es ist wahnsinnig intensiv, das Leben auf dem Set – und als der Film abgeschlossen ist, treffen sich alle auf der Treppe, nehmen voneinander Abschied. Es ist wie nach einer Liebesbeziehung, auf die die Trennung folgt: Tschüss! Ich bin schon wieder beim nächsten, ich bin jetzt dort, und ich lese schon wieder ein Dossier … Man erlebt eine kurze intensive Zeit, wie eine Beziehung mit Auf und Ab, mit Zuneigung und Konfrontation. Dann, Schnitt, nimmt der Film seinen Lauf. Wir sind dabei eher im Hintergrund …

The substance 04

(Bild: The Substance)

FILMBULLETIN Wie lebt man damit, dass selten der Rote Teppich für den Filmschnitt ausgerollt wird?

KATHRIN PLÜSS Grundsätzlich ist es schwer, über den Filmschnitt zu reden, insbesondere wenn man das Material nicht kennt. Aber innerhalb des Metiers wissen die Leute, dass wir eine eher wichtige Funktion haben – und diese Wertschätzung zählt. Und die Befriedigung, dass man bei wichtigen Projekten dabei war und ein gewichtiges Wort bei ihrer Entstehung mitreden konnte.

MYRIAM FLURY Bezüglich Anerkennung: Ich meinerseits fände es langsam an der Zeit, dass beim Schweizer Filmpreis die Kategorie Filmschnitt endlich eingeführt würde. Drehbuch, Musik, Kamera sind drin. In dieser Reihe fehlt definitiv das Editing. Und das, obwohl wir nicht das Ego haben, uns ins Rampenlicht zu stellen – das ginge auch gar nicht mit der Regie: Wir müssen eine gewisse Anpassungsfähigkeit haben.

STEFAN KÄLIN Das entspricht mir auch, der Schnittplatz als Ort der Konzentration – im Gegensatz etwa zu einer Dynamik auf dem Set.

ANJA BOMBELLI Und die Regie weiss, was sie an uns hat.

KATHRIN PLÜSS Oder die Kameraleute, die auf ein Feedback von uns warten. Innerhalb des Metiers fehlt es uns nicht an der gebührenden Anerkennung. Wir sind eine Art Geheimküche – Alchimist/innen des Films.

FILMBULLETIN Ein schönes Schlusswort. Wir danken euch für dieses Gespräch.

Doris Senn und Josef Stutzer

Maria bethania 01

(Bild: Maria Bethânia)

Kathrin Pluess

Seit 1978 als Schnittassistentin beim Film, ab 1981 als Cutterin tätig. Titel aus ihrer Filmografie sind: Filou (1988) von Samir, Der gruene Berg (1990) von Fredi Murer, Noel Field - der erfundene Spion (1996) von Werner Swiss Schweizer oder Angry Monk, Reflections on Tibet (2005) von Luc Schaedler. Zurzeit arbeitet sie an der Dokufiction Verliebte Feinde von Werner Swiss Schweizer über Iris und Peter von Rothen. Sie unterrichtet sporadisch an Filmschulen in der Schweiz und seit neustem in der Lehrerweiterbildung.

Stefan Kaelin

Seit 1996 freischaffender Filmeditor für Spiel- und Dokumentarfilme: darunter Utopia Blues (2001) und Elisabeth Kuebler-Ross (2002), beide von Stefan Haupt, Dutti der Riese (2007) und The Substance) (2011), beide von Martin Witz, sowie Hugo Koblet – Pédaleur de charme)(2010) von Daniel von Aarburg.

Myriam Flury

Seit 1998 freie Filmeditorin für Film und Fernsehen. Ihre Filmografie beinhaltet sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme, mehrere davon preisgekrönt: etwa Die Regierung (1998) von Christian Davi, der Kurzfilm Summer–Time (2000) von Anna Luif, Vitus (2006) von Fredi Murer, No More Smoke Signals (2008) von Fanny Bräuning sowie Ma famille africaine (2004) und Tinguely (2011), beide von Thomas Thümena. Seit 2000 ist sie als Dozentin an der Hochschule für Gestaltung & Kunst in Luzern tätig.

Anja Bombelli

Seit 1986 selbständige Filmeditorin. Ihre Werkliste umfasst ausschliesslich Dokumentarfilme, darunter Urs Fischer (2010) von Iwan Schumacher, Pizza Bethlehem (2009) von Bruno Moll, Maria Bethânia (2005) von Georges Gachot, Henri Cartier-Bresson (2003) von Heinz Bütler oder Sira – Wenn der Halbmond spricht (2011) von Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen. Sie arbeitet zurzeit an einem Film von Georges Gachot über den Kinderarzt Beat Richner.

(Titelbild: Myriam Flury; Letzes Bild: Noel Field - der erfundene Spion)

Print

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Interview

04. Okt. 2018

Grossstadtleben «All Inclusive»

Corina Schwingruber Ilićs All Inclusive lief dieses Jahr im Kurzfilmwettbewerb in Venedig. Er besticht mit ironischen Tableaus. Ein Gespräch mit der Regisseurin über schwimmende Städte, die Lust zu beobachten und sich überraschen lassen und über das Kurzfilmformat.

Fokus Österreich

23. Mär. 2022

Peter Brunner: «Mir geht’s um das Widersprüchliche»

Peter Brunners Luzifer feiert seine Österreich-Premiere. Uns berichtet der Regisseur von seinen Erfahrungen mit österreichischer Filmförderung, dem Potential einerneuen Generation und Zukunftsplänen, die in die USA führen.