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Rohrer

Über die Unmöglichkeit eines Manifests für den Schweizer Film

Manifeste bringen Innovation. Irrtum! Manifeste entfalten erst retrospektiv ihre Bedeutung. Und: Sie sind nicht mehr zeitgemäss, stets kompromisslos und stehen damit im Widerspruch zur Schweizer Konsensorientiertheit.

Text: Seraina Rohrer / 01. Jan. 2013

In der letzten «Filmbulletin»-Ausgabe ist ein Manifest des Filmkritikers und Filmemachers Mark Cousins abgedruckt. Manifeste – so Cousins’ Prämisse – bringen Innovation. Irrtum! Manifeste entfalten erst retrospektiv ihre Bedeutung. Und: Sie sind nicht mehr zeitgemäss, stets kompromisslos und stehen damit im Widerspruch zur Schweizer Konsensorientiertheit. Dies sind mitunter die Gründe, weshalb es kein Manifest für den Schweizer Film gibt. Schlecht muss das aber nicht sein!

Doch beginnen wir von vorne: 1966 fanden unter dem Titel «Tagung Schweizer Film heute» die ersten Solothurner Filmtage statt. Der damalige Grundtenor richtete sich klar gegen den «alten Schweizerfilm», der mit der Glorifizierung von Heimat und Landleben die Zuschauer in die Kinos lockte. In Solothurn forderten die Tagungsbesucherinnen und -besucher von Schweizern Filme, die herausfordern, aktuell sind und eine Haltung haben – Filme von Autoren eben. Das erklärte Ziel der Organisatoren war es, am Ende der Tagung ein Manifest im Stil desjenigen von Oberhausen vorzulegen, eine Sammlung von Ideen, die fortan den Schweizer Film radikal umkrempeln sollten.

Doch es kam anders: Die Anwesenden diskutierten stundenlang angeregt, konnten sich aber nicht auf kompromisslose Forderungen wie im Oberhausener Manifest einigen. «Opas Kino» – dem Heimatfilm – wurde keine einheitliche Absage erteilt, und man einigte sich auch nicht auf -einen gemeinsamen Slogan für den «neuen Schweizer Film». Hinzu kam, dass wichtige Vertreter ebendieses «neuen Schweizer Films», so Alain Tanner oder Claude Goretta, der Veranstaltung in Solothurn fernblieben. Andere wiederum reisten nicht an, weil sie Meinungsverschiedenheiten voraussahen und sie meiden wollten.

Resultat: Die Anwesenden – allen voran die Journalisten – waren frustriert, denn es war unmöglich, gemeinsame Standpunkte festzumachen. Zu weit gingen die Meinungen auseinander. Einig war man sich einzig darin, dass der «neue Schweizer Film» lebt, alles andere blieb vage. Nach der letzten Vorstellung am Sonntagnachmittag entschied man sich dann auch gegen weitere Diskussionen und begab sich des Debattierens müde in die Beiz – für einen geselligen Ausklang mit Wein und Tanz. Zu später Stunde und nach ein paar Gläsern einigte man sich darauf, dass ein solches Treffen in ähnlicher Form wiederholt werden sollte. Seither diskutieren Vertreterinnen und Vertreter des Schweizer Films alljährlich über das Schweizer Filmschaffen. Ein richtiges Manifest entstand bis jetzt nie, abgesehen von einzelnen, meist überhörten Protestresolutionen ohne Sprengkraft. Trotzdem haben die Debatten vieles in Bewegung gebracht: die Filmförderung, das Filmzentrum (heute Swiss Films) oder auch die Gründung der Schweizer Filmakademie.

Doch was wäre heute anders, hätte sich damals die Schweizer Branche auf ein Manifest geeinigt?

Fest steht, dass der Schweizer Film besser vermittelbar wäre. Manifeste sind dankbare Quellen der Filmgeschichte. In meinem Studium der Filmwissenschaft an der Universität Zürich gehörten sie zum Pflichtstoff. Denn Manifeste nageln historische Wendepunkte schriftlich fest und bieten Stoff für Diskussionen und Seminararbeiten. So forderten die Vertreter des «Dritten Kinos» aus Lateinamerika, Filme als Waffe im Kampf gegen den Kapitalismus einzusetzen. Die Kamera als Knarre, das ist doch ein eingängiges Bild. Auch die Oberhausener scheuten keine Kompromisse und riefen gleich den «Tod von Opas Kino» aus. Und dann erst die Dogma-Vertreter! Sie gaben mit ihren detaillierten Forderungen den Drehplan vor: wackelige Kamera, kein zusätzliches Licht, keine Schminke und so weiter. Viel Spielraum bleibt da nicht mehr für die Magie des Kinos. Solch prägnante historische Quellen fehlen für den Schweizer Film, und vielleicht wird er auch deshalb in der Filmgeschichte manchmal etwas marginal behandelt.

Mal abgesehen davon, denke ich aber nicht, dass der Schweizer Film heute ein anderer wäre, hätte es damals ein Manifest gegeben. Ich bin überzeugt, gute Filme werden nicht dank Manifesten gemacht, schlechte aber auch nicht. Mark Cousins suggeriert, dass Manifeste Stossrichtungen ändern. Das mag sein. Sie sind aber nie der Auslöser für Erneuerungsbewegungen, sondern bloss Symptom. Denn Filmschaffende selbst versuchen immer wieder Werke zu schaffen, die einzigartig sind und genau damit bestechen. Das liegt in der Natur der Kunst und ihrer Macherinnen und Macher.

Überhaupt ist die Schweiz nicht gemacht für Manifeste: zu viele Landessprachen, zu unterschiedlich die Vorstellungen von Film, zu hoch der Anspruch an die Vielfalt des Filmschaffens. Ein Schweizer Manifest wäre wohl am Ende ein flauer Kompromiss, von dem sich dann alle distanzieren würden. Und weil Manifeste immer von Gruppen unterzeichnet sind, wäre es auch absonderlich, wenn eine einzelne Person plötzlich ein solches aufsetzen würde – auch wenn es sicherlich radikaler wäre.

Das Fehlen eines Manifests für den Schweizer Film geht vielleicht auch Hand in Hand mit dem Trend zur Individualisierung. Gute Filme sind häufig persönlich. Sie kombinieren eine Haltung mit einer künstlerischen Vision. Manifeste hingegen haben meist einen politischen oder ideologischen Ursprung, so das «Dritte Kino» oder das «Oberhausener Manifest».

Was man Manifesten und deren Verfassern trotzdem lassen muss: Sie sind mutig! Sie stehen zu ihren Forderungen. Diese auf Papier zu bringen, kann zudem hilfreich sein, wenn man sich darüber klar werden will, welche Ziele man eigentlich verfolgt. In der Schweizer Filmlandschaft, in der ab und zu im Dunkeln getappt wird und man sich immer wieder mal im Kreise dreht, wäre eine gewisse Klarheit manchmal wünschenswert.

Seraina Rohrer (Direktorin der Solothurner Filmtage)

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