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Die Ritter des unabhängigen Films

In einer Basler Matinee wird am 18. Oktober 1931 Dziga Vertovs sowjetrussischer Avantgardefilm Enthusiasmus – die Sinfonie des Donbass (SU 1930) in Anwesenheit des Regisseurs gezeigt und damit zugleich der Kino-Ausschuss der Basler Studentenschaft gegründet. Dieser entwickelt sich zum Filmclub «Le Bon Film», der sich wiederum zum heutigen «Stadtkino» mausert.

Text: Thomas Tode / 01. Juni 2013

Der Initiator und geistige Vater des ältesten noch aktiven Filmclubs der Schweiz heisst Georg Schmidt, späterer Direktor des Basler Kunstmuseums. In einer Matinee am 18. Oktober 1931 zeigt er Dziga Vertovs sowjetrussischen Avantgardefilm Enthusiasmus – die Sinfonie des Donbass (Entuziazm – simfonija donbassa, SU 1930) in Anwesenheit des Regisseurs und gründet damit zugleich den Kino-Ausschuss der Basler Studentenschaft. Dieser entwickelt sich zum Filmclub «Le Bon Film», der sich wiederum zum heutigen «Stadtkino» mausert. Die folgende Rekonstruktion der historischen ersten Filmclubvorführung von enthusiasmus zeigt vor allem das weitverzweigte Netz kultureller Organisationen, interessanter Persönlichkeiten und internationaler Kontakte, in das Basel eingebunden ist, den Nährboden für eine sich entfaltende Filmkultur.

Der Geist von La Sarraz

Georg Schmidt wird 1927 als Assistent an das Basler Gewerbemuseum berufen und organisiert dort unter anderem 1929 eine der ersten Bauhaus-Ausstellungen. Bereits 1910 kam er mit dem Maler und späteren Schöpfer abstrakter Filme Viking Eggeling in Kontakt, als dieser ihn am Lyzeum in Zuoz als Zeichen- und Schlittschuhlehrer unterrichtet. Im Sommer 1929 nimmt Schmidt «als Vertreter des schweizerischen Werkbundes»1 (SWB) an dem Treffen der internationalen Filmavantgarde auf Schloss La Sarraz teil, dem 1. Kongress des Unabhängigen Films. Dort, nahe Lausanne, lernt er auf einen Schlag die gesamte Filmavantgarde kennen: die russischen Filmemacher Sergej Eisenstein, Grigori Alexandrow und Edmund Tissé, die deutschen Künstler des absoluten Films Hans Richter und Walter Ruttmann und auch den französischen Spielfilmregisseur Alberto Cavalcanti, um nur einige zu nennen.2 In den Debatten von La Sarraz wird die Idee zu einer offensiv zu betreibenden Ausbreitung von Filmclubs geboren, um den unabhängigen Film vor dem kommerziell orientierten Film zu schützen. Der Begriff «film indépendant» wird hier erstmals systematisch gegen den «film industriel» in Stellung gebracht.3

Diese Opposition inspiriert die Teilnehmer auch zu Dreharbeiten unter Eisensteins und Richters Leitung, ausgestattet durch Georg Schmidt mit den Ritterrüstungen des Schlosses. Die stämmigen Kongressteilnehmer bilden die Armee der unterjochenden Filmindustrie, während die mageren als Vertreter der Avantgarde das Schloss bestürmen. Der Filmmogul Cecil B. de Mille (Jack Isaacs) hält die Jungfrau des Unabhängigen Films (Janine de Bouissounouse) in den Ketten der Merkantilität auf dem Schlossturm gefangen. Den Angriff führt Eisenstein als Don Quijote auf einem Filmprojektor reitend an, unterstützt vom Ritter des Unabhängigen Films Hans Richter und Léon Moussinac als D’Artagnan. Der Journalist Jean Georges Auriol feuert permanent Maschinengewehrsalven aus seiner Schreibmaschine ab; Wassereimer werden gegen das Objektiv der Kamera gekippt. Schliesslich befreien die vereinigten Ritter den Geist des Unabhängigen Films, sodass der japanische Delegierte Moichiro Tsu-chiya als Vertreter des Kommerzkinos Harakiri verüben muss.4

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(Bild: Hans Richter als Ritter des Unabhängigen Films, Foto von den Dreharbeiten in La Sarraz; Photothèque Cinémathèque suisse)

Dieser bald nach Japan gebrachte und dort verschollene Film ist wohl nicht viel mehr als ein satirischer Filmspass an einem sitzungsfreien Vormittag gewesen. Und doch steckt in ihm auch die Quintessenz des dortigen Treffens: die erstmals klar formulierte Opposition von unabhängigem und kommerziellem Kino. Als der Kongress die Lage des unabhängigen Films in der Schweiz diskutiert, gibt es einen ernüchternden Bericht: «M. Schmidt, délégué de la Suisse allemande, déclare que quelques essais de films indépendant ont été faits dans la Suisse allemande, notamment à Bâle et à Zurich. Mais il n’y a eu dans chaque cas qu’une seule représentation qui n’a pas obtenu beaucoup de succès. La presse en effet à dénoncé ces essais comme une vague propagande communiste et les choses en sont restées là.»5 Die erwähnten Filme sind bis heute nicht identifiziert, müssen noch gesucht werden. Es hat in La Sarraz auch Konflikte gegeben, ästhetische zwischen Richter und Béla Balázs, politische zwischen Eisenstein und den Delegierten Spaniens und Italiens und nicht zuletzt Differenzen um den Begriff «unabhängiger Film», wobei Georg Schmidt zur radikalen Minderheit hält. Er schreibt dazu in seiner Rezension der Tagung in der Zeitschrift «Das Neue Frankfurt»: «Was ist unter dem “unabhängigen Film” zu verstehen? Klare Scheidung in Mehrheit und Minderheit. Antwort der Mehrheit (der Initianten des Kongresses): unabhängig heisst unabhängig vom Publikumsgeschmack und von der dem Publikumsgeschmack zu dienen vorgebenden Filmindustrie. Antwort der Minderheit (Léon Moussinac-Paris, Hans Richter-Berlin, Sergej Eisenstein-Moskau, Georg Schmidt-Basel): die Unabhängigkeit ist eine Illusion, einzig real ist die Frage: abhängig von den Gesinnungen der Filmindustrie oder von den Gesinnungen einer kommenden Gesellschaft. Dementsprechend forderte die Minderheit auch künstlerisch positive Entscheidungen: eine Erklärung gegen Star-, Schauspieler- und Spielfilm, während die Mehrheit auch für “künstlerische Freiheit und Neutralität” sprach.»6

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(Bild: Janine de Bouissounouse als Jungfrau des Unabhängigen Films Foto von den Dreharbeiten in La Sarraz; Photothèque Cinémathèque suisse)

Unabhängig von der Filmindustrie zu sein, wird auf dem Filmkongress von La Sarraz als Kriterium etabliert – und dieser Begriff erweitert die früheren Bezeichnungen Avantgarde, absoluter Film, cinéma pur, und kehrt sogar nach dem Krieg im amerikanischen «independent cinema» wieder. Der Begriff zieht erstmals die Produktionsbedingungen, unter denen Filme entstehen, mit ins Kalkül. Denn in den zwanziger Jahren hat sich in der Filmbranche ein radikaler Kapitalkonzentrationsprozess vollzogen, der sich mit der Einführung des Tonfilms um 1929 noch weiter verschärft: «Die Belastung eines Films allein durch die Lizenzen für den Ton belaufen sich auf mindestens 50 000 Mark. [...] Der Film ist, nachdem seine Herstellung scheint’s solche Kapitalien erforderlich macht, in die Hände der Industrie geraten und, seit der Erfindung des Tonfilms, letzten Endes in die der Elektrizitätsindustrie. Die Tobis in Deutschland, in Amerika Western Electric und R.C.A. haben ihr Monopol mit einer Reihe von Patenten gesichert und fünf Sechstel der Welt (also Russland ausgenommen) untereinander aufgeteilt.»7

Man konstatiert nüchtern die Bildung von Grosskonzernen und die Verheiratung von Film- und Elektroindustrie. Gegen sie hatten die Filmenthusiasten des unabhängigen Films keine Chance, ja sie verfügten noch nicht einmal über eigene Aufführungsorte. Daher beschliesst der Kongress von La Sarraz als wichtigste Massnahme die Gründung einer internationalen Filmliga, die Filmclubs quer durch Europa in einem Netz zusammenschliesst und so den Filmaustausch vereinfacht. Man beschliesst ausserdem die Gründung einer Produktionskooperative, die Finanzierungen für Filme mit künstlerischen Ansprüchen einwerben soll.8 Während die Einrichtung der Filmliga durchaus für einige Jahre gelingt, scheitert die Idee der Filmförderung auf lange Zeit. Beides sind aber wichtige kulturpolitische Initiativen, die von La Sarraz ausgehen. Schmidt schreibt 1959 dazu an Hans Richter: «Nur kurze Zeit noch war Dir in Deutschland gegeben, die in La Sarraz beschlossenen Filmbesucherorganisationen aufzubauen. Mir in der Schweiz gelang nach 1930 unter für heutige Begriffe paradiesischen Umständen, für damalige Begriffe jedoch sehr mühselig gerade nur die Gründung des “bon film” in Basel.»9

Tatsächlich hat Georg Schmidt bereits im Jahr 1930 mit Leuten aus der Basler Sektion des Schweizerischen Werkbundes erste Filmaktivitäten unternommen, wie sich ein Mitstreiter erinnert.10 Damit ist vermutlich unter anderem ein Filmvortrag Hans Richters gemeint, der als Auftakt einer vom SWB organisierten Vortragstournee am 19. März 1930 in Basel stattfindet. Richter zeigt dort Ausschnitte aus seinen eigenen Avantgardefilmen und aus denen von Eggeling, Eisenstein, Henri Chomette / Etienne de Beaumont, Germaine Dulac, Guido Seeber und Alexander Dowschenko.11 Unmittelbar im Anschluss dreht Richter im Auftrag des SWB den reformorientierten Architekturfilm die neue wohnung, nach einem Exposee des Architekten Hans Schmidt, dem Bruder von Georg, uraufgeführt am 18. August auf der Schweizerischen Wohnungsbauausstellung (WOBA) in Basel.12

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(Bild: 1er Congrès international du cinéma indépendent (CICI), La Sarraz 1929, Versammlung im Garten; Photothèque Cinémathèque suisse)

Richter ist vermutlich auch der Urheber des Slogans «Der gute Film / Le bon film». Er hatte im Frühjahr 1929 für die Stuttgarter Werkbundausstellung «Film und Foto» ein Rahmenprogramm mit Filmen zusammengestellt. Als die Ausstellung im Oktober 1929 nach Berlin kommt, laufen die begleitenden Filmvorführungen unter dem Motto «Der gute Film» ebenso wie die Ausstellung selber.13 Bald darauf besucht Schmidt seinen Freund Hans Richter in Berlin, und gemeinsam feilen sie an ihren Vorträgen, die sie im Bauhaus in Dessau halten sollen.14 Unter dem Titel «Der gute Film» gestaltet Richter dort im Juni 1930 drei Vortrags- und Filmveranstaltungen.15 1930 gründet Dr. Johannes Eckardt in Berlin die «Gesellschaft für den guten Film», die Berlins erstes Programmkino, die «Kamera Unter den Linden», betreibt.

Auf der Suche nach Partnern für die dauerhafte Einrichtung eines Filmclubs in Basel wird Georg Schmidt bei der Studentenschaft fündig. Am Sonntag, dem 18. Oktober 1931, organisieren sie mit dem ersten sowjetischen Dokumentartonfilm enthusiasmus eine Matinee im Cinema Palace (Kleinbasel, Untere Rebgasse) und erklären: «Damit versucht der eben gegründete Kino-Ausschuss der Basler Studentenschaft sich einen Kreis von Filmfreunden zu bilden, die an künstlerisch wirklich wertvollen Filmen Interesse haben. Wir kämpfen gegen Heidelberg-, Wiener-, Gartenlaubenromantik. [...] Sollte dieser erste Versuch Anklang finden, so gedenken wir im Laufe des Winters weiter Avantgarde-Filme zu bringen.»16 Tatsächlich ermutigt das rege Zuschauer- und Presseecho der Eröffnungsmatinee den Kino-Ausschuss, weitere Veranstaltungen anzusetzen. Bereits im November folgt ein Programm mit deutschen und französischen Avantgardefilmen, das Schmidt «vom Bund “Das Neue Frankfurt” übernommen hatte».17 Man zeigt Autour de l’argent (F 1928) von Jean Dréville, La coquille et le clergyman (F 1928) von Germaine Dulac, La p’tite lilie (F 1927) von Alberto Cavalcanti und Hans Richters Hüte Fliegen (= Vormittagsspuk, D 1928) und Alles dreht sich, alles bewegt sich! (D 1929). Diese Programmübernahme aus Frankfurt geschieht mit Hilfe des Schweizer Kunsthistorikers Joseph Gantner, dem späteren Professor für Kunstgeschichte und Rektor der Basler Universität. Er war in den zwanziger Jahren als Schriftleiter der Zeitschrift des SWB «Das Werk» tätig, hatte aber 1927 eine Berufung an die neu gegründete Kunstschule in Frankfurt a. M. erhalten. Dort gibt er nicht nur die Zeitschrift «Das Neue Frankfurt» heraus, sondern organisiert die kulturellen Veranstaltungen der gleichnamigen Künstler- und Architektenvereinigung.

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(Bild: Titelblatt von «Das Werk». Die Ausgabe 9, September 1929)

Diese gründet 1931 um Gantner und Ella Bergmann Michel auch eine AG-Film.18 In Frankfurt spielt man enthusiasmus am 4. Oktober 1931, nur wenige Tage vor der Basler Aufführung, ebenfalls eingeleitet durch Dziga Vertov. Mit einer solch engen Zusammenarbeit funktioniert das in La Sarraz angedachte Netz der Filmclubs bereits sehr gut. Werfen wir einen Blick voraus auf die weitere Entwicklung. 1938 wird der Basler Filmclub in «Le Bon Film» umbenannt und der einundzwanzigjährige Filmenthusiast Peter Bächlin sein Vorsitzender. Georg Schmidt, 1939 zum Direktor des Basler Kunstmuseums berufen, arbeitet weiterhin in der Filmgruppe mit. Im Juni 1939 organisieren sie eine Internationale Woche des Films, zu der unter anderen Jean Renoir als Gastredner kommt. 1943 veranstalten Bächlin, Schmidt und Werner Schmalenbach im Gewerbemuseum Basel die Ausstellung «Der Film – wirtschaftlich, gesellschaftlich, künstlerisch». Das gleichnamige, epochemachende Buch erscheint wenig später. Im September 1945 findet eine weitere Internationale Filmwoche und sogar ein Filmkongress statt, zu denen Filmemacher, Archivare und Kritiker von Rang aus ganz Europa kommen: Das erste Mal nach der Beendigung des Krieges.19 Bächlin betreibt zudem seit 1939 eine Initiative zur Schaffung eines nationalen Filmarchivs und gründet 1943 in Basel das Schweizer Filmarchiv. Als kurzsichtige Kommunalpolitiker 1948 die finanzielle Unterstützung für Le Bon Film (wegen linker Positionen ihrer Macher) streichen, zieht das Filmarchiv nach Lausanne um und wird dort als Cinémathèque suisse wiedergeboren. Weitreichende nationale und internationale Impulse gingen von Basel aus, kamen aus dem Nukleus einer einst recht bescheidenen Gründungsveranstaltung.

«Enthusiasmus» in Basel

Am 18. Oktober 1931 präsentiert der sowjetische Filmpionier Dziga Vertov seinen Tonfilm Enthusiamus in Basel. Die Vorgeschichte seiner Einladung reicht in das Jahr 1929 zurück. El Lissitzky und seine deutsche Frau Sophie Küppers, enge Freunde Vertovs, organisieren dessen erste Europatournee mit der Mann mit der Kamera (Celovek s kinoapparatom, SU 1929). Sie schicken im Juni 1929 eine Empfehlung an Siegfried Giedion, den leitenden Sekretär des Schweizerischen Werkbundes, um Vertov einen Auftritt in der Schweiz zu ermöglichen.20 In diesem Kontext wird Vertov auch als sowjetischer Delegierter zum Filmkongress nach La Sarraz eingeladen, und zeitlich passend erscheint einer seiner Artikel in «Das Werk»21, dem Organ des SWB. Aber Vertov reist aus Deutschland unversehens nach Moskau zurück, unter anderem wegen der Schwangerschaft seiner Frau und einem neuen Filmprojekt: Enthusiasmus. Sergej Eisenstein und seine Mitstreiter fahren stattdessen nach La Sarraz.22 Der SWB nimmt aber im November 1929 mit Hilfe des Deutschen Werkbundes erneut Kontakt zu Vertov auf.23

Erste Hinweise auf den Tonfilm Enthusiasmus erhält Georg Schmidt sicher von seinem Bruder Hans. Dieser ist 1930 Teil der internationalen Architektengruppe um den ehemaligen Frankfurter Stadtbaurat Ernst May, die in der Sowjetunion Massenquartiere plant und baut. Gemeinsam schreiben Schmidt, May, Grete Schütte-Lihotzky, Mart Stam und zwanzig weitere Architekten am 10. Dezember 1930 einen Brief an Vertov, der die tiefe Verbindung zwischen moderner Architektur und moderner Filmkunst andeutet: «Unsere Gruppe von deutschen, russischen, holländischen, österreichischen und schweizerischen Architekten, die auf dem Planbüro der Zekombank in Moskau arbeiten und sich lebhaft für die Fragen des modernen Films interessieren, bittet Sie, ihr die Möglichkeit zu verschaffen, Ihre neue Arbeit bei einer Vorführung in Moskau kennen zu lernen. Sie würde es ferner begrüssen, wenn es ihr dank ihrer Beziehungen zu modernen Filmorganisationen Deutschlands, Hollands und der Schweiz gelingen würde, Ihrem Film auch im Ausland zur Aufführung zu verhelfen, wo man neuen Fortschritten des russischen Films mit grösstem Interesse entgegensieht.»24 Zu dieser Zeit ist Vertovs Enthusiamus gerade in Kiew am 1. November 1930 uraufgeführt worden.

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(Bild: Hochofenarbeiter, Motiv aus Enthusiasmus; Photothèque Cinémathèque suisse)

Im Rahmen von Vertovs zweiter Europatournee mit Enthusiamus konkretisiert der Schweizerische Werkbund im August und September 1931 seine Einladung zu zwei Filmvorträgen in Basel und Zürich, die sie mit insgesamt 400 Mark honorieren, 50 Mark schicken sie als Reisespesen, abzurechnen mit dem Basler Kassenwart Violier.25 Aus diesen Briefen geht hervor, dass die gesamte Basler Filmveranstaltung vom SWB finanziert wird. Aufgrund von Visa-Schwierigkeiten werden beide Vorträge kurzfristig nochmals um eine Woche verschoben.26 Das ist möglich, da die Veranstaltungen offenbar ausschliesslich in der Tagespresse angekündigt werden.

Georg Schmidt schreibt von 1921 bis 1938 regelmässig Kunstkritiken für die links-liberale Basler «Nationalzeitung». Dort konnte er auf eine ausführliche Berichterstattung zählen. Ein langer Vorwegartikel erscheint am 15. Oktober, am 18. eine Anzeige und eine Kurzerklärung der Basler Studentenschaft, am 20. eine ausführliche Nachbesprechung. In der heisst es durchaus kritisch abwägend über den Film: «eine Apotheose der Arbeit und des Arbeiters, eine Bild- und Tonsymphonie aus dem industriegewaltigen Donez-Kohlebecken. [...] Wir verkennen die Mängel des Wertow-Films keinesfalls. Ideologisch: er überschätzt die Bedeutung der Maschine und der Technik, er vergisst den Menschen mit seiner Seele. Gewiss: es handelt sich darum, die Stossbrigaden freiwilliger Kohlenförderer zu verherrlichen, den “sozialistischen Wettbewerb” anzustacheln, die Arbeit zu glorifizieren [...]; das ganze Werk ist ein Meisterstück durchaus idealistischer Volkspädagogik, man verzeihe mir das in Russland missverständliche verpönte Wort “Idealismus”. Gewiss, es geht um die Durchsetzung des Fünfjahrplanes, um einen agitatorischen Effekt, und der Film wollte und sollte ein Hohelied des Aufbaus werden, die Säumigen und Lässigen beschämen, die Opferwilligen und Fleissigen ermuntern. Aber sprach nicht Lenin selbst davon, dass das Endziel der Revolution “die Befreiung des Menschen von der Wirtschaft, die Entökonomisierung der Persönlichkeit” sei, damit jedermann “Zeit und Gelegenheit zur Pflege geistiger Werte” fände? Von diesem Endziel hätte im Film, neben der Schilderung der ungeheuren industriellen Kraftanspannung, auch die Rede sein sollen (Wir sprechen vom Standpunkt der allein sinnvollen “immanenten Kritik” aus, d.  h. wir beurteilen den Film nach seiner eigenen weltanschaulichen Einstellung.»27

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(Bild: Betrunkener, Motiv aus der Anfangssequenz von Enthusiasmus, Photothèque der Cinémathèque suisse)

Genau darin unterscheidet sich die «Nationalzeitung» von der konservativen «Neuen Basler Zeitung» (19. 10. 1931), die den Film ihrer politischen Anschauung gemäss als pure Propaganda abtut: «Man ahnte überall den Zwang und die Knechtschaft des Sowjetparadieses mit seiner armseligen Proletenkultur. Ein unerträgliches freudloses Hetzen und Schuften der Sowjetarbeiter zur Befriedigung der primitivsten menschlichen Bedürfnisse hat dieser mit sowjetrussischer Stimmungsmache aufgepulverte Film drastisch dem entrollt, der sehen will!»

Der Basler «Vorwärts», die kommunistische Tageszeitung, widmet dem Film ebenfalls eine ausführliche Besprechung am 19. Oktober und am 24. Oktober eine Nachbereitung, die unter der Überschrift «Verbissene Wut» die Reaktionen der Lokalpresse analysiert. So hatten die bürgerlich-konservativen «Basler Nachrichten» (22. 10. 1931) im Anschluss an eine durchaus lobende Rezension in einer redaktionellen Nachbemerkung bemängelt, dass dieser «bolschewistische Werbefilm, unmittelbar acht Tage vor den Nationalratswahlen» gezeigt werde und hatten der Studentenschaft «politische Ahnungslosigkeit» und Missbrauch durch «Moskauer Drahtzieher» bescheinigt. Tatsächlich hatten kommunistische Studenten die Filmveranstaltung zur politischen Demonstration genutzt, waren mit roten Fahnen ins
Kino gekommen und hatten am Ende Flugblätter zur Nationalratswahl verteilt.

Vertovs Film erscheint in einer Zeit sich weltweit zuspitzender Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten. Die antireligiösen Szenen am Anfang des Films waren durch die deutsche Zensur bereits entfernt worden – sehr zum Ärger einiger Schweizer Rezensenten. Obwohl bereits beschnitten, war der Film dann in Deutschland nach wenigen Aufführungen durch den Innenminister Dr. Joseph Wirth endgültig verboten worden. enthusiasmus ist das erste Opfer der die Verfassung ausser Kraft setzenden «Notverordnungen», mit denen das Ende der Weimarer Republik eingeläutet wurde. Proteste von Künstlern und Intellektuellen halfen da wenig. Immerhin konnte er in der liberaleren Schweiz noch gezeigt werden. Sogar zwei Mal, denn für den 19. Oktober hatte der SWB eine weitere Vorführung in Zürich, im Kino Piccadilly, organisiert.28

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(Bild: Dziga Vertov mit Tonkamera und Mikrofon, 1930; Archiv Thomas Tode)

Vertov selber zieht in Briefen eine sehr positive Bilanz seiner beiden Schweizer Vorführungen.29 Festhalten können wir das lebhafte Interesse der Architekten an Vertovs Filmen, getreu dem Bonmot von Giedion: «Man müsste den Wandel des Blickes begleiten: Nur der Film kann neue Architektur fassbar machen!»30 Vertov wird in einem Netz von modernen Künstlern und Architekten weiterempfohlen und seine Filme in einflussreichen Zeitschriften der internationalen Moderne besprochen: unter anderen in «Das Neue Frankfurt», «Das Werk», «Das Kunstblatt» und «Die Form».

Nicht zuletzt aber markierten die Ideen von La Sarraz auch ein Krisentreffen der Filmavantgarde am Ende der Stummfilmzeit: Die Tonfilmtechnik hatte die Produktion so übermässig verteuert, dass die Avantgardebewegung in allen Ländern zum Erliegen kommen sollte. 31 László Moholy-Nagy zieht im Sommer 1932 eine ernüchternde Bilanz: «Der grösste Teil der alten Avantgarde ist verschwunden, aufgesogen von der Industrie oder aus Entmutigung verstummt: René Clair, Picabia, Léger, Cavalcanti, Feyder, Renoir, Man Ray. Ausser mir sind Albrecht Victor Blum und Hans Richter die einzigen, die übrig blieben.»32 Immerhin kann man die früheren Avantgardefilme noch heute in den Filmclubs abspielen. Doch Filmkultur lässt sich nicht spalten in Produktion und Abspiel. Die einen können ohne die anderen nicht existieren – und umgekehrt. Das Stadtkino, als der älteste noch aktive Filmclub der Schweiz, ist der lebendige Beweis dafür, dass die Ritter des Unabhängigen Films noch heute existieren.

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(Bild: Heiligenverehrung, Motiv aus Enthusiasmus; Archiv Thomas Tode)

Anmerkungen

1 Georg Schmidt: «Lieber Hans Richter», in: Hans Richter. Ein Leben für Bild und Film, Zürich, Kunstgewerbemuseum 1959, o. S.

2 Roland Cosandey / Thomas Tode: Le 1er Congrès international du cinéma indépendant La Sarraz, Septembre 1929, in: Archives 84 (April 2000, Perpignan), Themenheft, auch online: www.cinematheque.ch/fileadmin/user–upload/Expo/CICI/archives–84/archives–no–84.pdf

3 Erst seit kurzem liegen Protokolle und Berichte zu den Diskussionen in La Sarraz gebündelt vor: Antoine Baudin: Hélène de Mandrot et la Maison des Artistes de La Sarraz. Lausanne, Payot, 1998, S. 70 – 81 und S. 278 – 282 (Kongressberichte); Cosandey / Tode 2000, S. 11– 20 (quatre séances plénières); Cahiers du CICI 1919 –1999 1– 7 (Januar – Februar 1999). Lausanne, Association pour la promotion de l’œuvre d’Hélène de Mandrot et de la Maison des Artistes de La Sarraz 1999 (= fotokopiertes Handout anlässlich der La-Sarraz-Filmretrospektive in Lausanne / Zürich im Januar / Februar 1999)

4 Fotos der Dreharbeiten in: Travelling 55 (été 1979) und 56/57 (printemps 1980) und in Cosandey / Tode 2000

5 Cosandey / Tode 2000, S. 16. Eisenstein spricht von Basel als «Centre du Film culturel»; undatierter Brief (August 1929?) an Léon Moussinac, in: Archives Moussinac, Bibliothèque du Film, Paris

6 Georg Schmidt: «Der Internationale Kongress für den Unabhängigen Film in La Sarraz 3. bis 6. September 1929», in: Das Neue Frankfurt 10 (1929)

7 Paul Seligmann: «Filmsituation 1933», in: die neue stadt, Nr. 10 (1932/33)

8 Thomas Tode: «“Das Gegenteil von revolutionär”. Ein Brief von Hans Richter über den Internationalen Kongress des Unabhängigen Films in La Sarraz, 1929», in: Filmblatt 11 (Herbst 1999, Berlin), S. 28 – 33

9 Schmidt 1959, o.S.

10 Kaspar Birkhäuser: «Fünfzig Jahre im Dienste der Filmbesucher und des guten Films: Le Bon Film, Basel 1931–1981», in: 50 Jahre Le Bon Film. Basel, Le Bon Film, 1981, S. 39, Anm. 7

11 Das Werk 3 (1930), S. 27, und Das Werk 4 (1930), S. 21. Weitere Stationen: Luzern, Zürich (21. 3.), Winterthur, Glarus, Bern, Genf (2. 4.), vgl. auch Andres Janser: «Es kommt der gute Film – Zu den Anfängen der Filmclubs in Zürich», in: Vinzenz Hediger u.a. (Hg.): Home Stories. Neue Studien zu Film und Kino in der Schweiz. Marburg, Schüren, 2001, S. 49–63, hier S. 57

12 Vgl. Andres Janser, Arthur Rüegg, Hans Richter: Die Neue Wohnung. Baden, Lars Müller Publishers, 2001, S. 26

13 «Berliner Sondervorführungen guter Filme», in: Film-Kurier (10. 10. 1929); «Der gute Film», in: Lichtbildbühne (16. 10. 1929). Auch schon 1927 nennt sich eine Münchner Besucherorganisation «Gemeinschaft der Freunde des guten Films» – freundlicher Hinweis von Jeanpaul Goergen

14 Schmidt 1959. Schmidts Vortrag findet am 28. 4.1930 statt, Richters erst im Juni 1930

15 Folke Dietzsch: Die Studierenden am Bauhaus, Band 2 (Dokumente, Anlagen). Weimar, Doktorarbeit der Hochschule für Architektur und Bauwesen, 1990, S. 332. Richters Vorträge und Filme beeindrucken nachhaltig den jungen Bauhausstudenten Kurt Kranz, vgl. Christian Weller / Wolfgang Voigt: «Verwandeln und erfinden – Form als Prozess. Ein Gespräch mit Kurt Kranz», in: Kurt Kranz.
Das unendliche Bild, hgg. Werner Hofmann. Hamburg, Hamburger Kunsthalle/Berlin: Bauhaus-Archiv/Bottrop: Josef-Albers-Museum 1990, S. 186–191, hier S. 189–191

16 Nationalzeitung (18. 10. 1931, Basel)

17 Birkhäuser 1981, S. 7

18 Thomas Tode: «Ella Bergmann-Michel», in: Cinegraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film. München, edition text + kritik, 1998 (30. Lieferung)

19 Die Vorträge von Leopold Lindtberg und Slatan Dudow veröffentlicht in Über die Grenzen 11 (September 1945) und Über die Grenzen 12 (Oktober 1945). Wiederabdruck in: Prisma 12, Berlin, Henschel, 1991, S. 213–228

20 Der Brief ist abgedruckt in: Sophie Lissitzky-Küppers: «Skwos dal minuwschich let [Durch lang vergangene Jahre]», in: Jelisaweta Wertowa-Swilowa, Anna Winogradowa (Hg.): Dsiga Wertow w wospominanijach sowremennikow. Moskau 1976, S. 183–194, hier S. 187

21 Das Werk 9 (1929), Schweizer Monatsschrift für Architektur, Kunst und künstlerisches Gewerbe, S. 285 –287. Auch in: Karsten Witte (Hg.): Theorie des Kinos: Ideo-logiekritik der Traumfabrik. Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1972, S. 88–92

22 Ausführlich dazu Thomas Tode: «Trois Russes peuvent en cacher un autre: Dziga Vertov et le Congrès de
La Sarraz, 1929», in: Archives 84 (April 2000, Perpignan)

23 Brief des Deutschen Werkbundes vom 6. 11. 1929 an Vertov mit beiliegendem Schreiben des Schweizerischen Werkbundes, Vertov-Sammlung des Österreichischen Filmmuseums (ÖFM)

24 Brief vom 10. 12. 1930, Vertov Archiv, opis 2, Dossier 412, RGALI, Moskau; auch im ÖFM. Namensliste der
in der Sowjetunion arbeitenden Architektengruppe in Das Neue Frankfurt 9 (1930)

25 Briefe vom 4. 8. 1931 und vom 24. 9. 1931, Vertov Archiv, opis 2, Dossier 412, RGALI, Moskau. Zu den Reisespesen Brief vom 13.10. 1931 im ÖFM.

26 Briefe vom 8. 10. und 9. 10. 1931, Vertov Archiv, opis 2, Dossier 412, RGALI, Moskau

27 Zur Ästhetik von Enthusiasmus: Thomas Tode: «Töne stürmen gegen das Bild: Musikalische Strukturen im Werk von Dziga Vertov», in: Cinema 49 (2004), S. 21–35

28 «Ein Avantgarde-Film», in: Neue Zürcher Zeitung (22. 10. 1931)

29 Brief vom 29. 10. 1931 (an Jean Lods oder Robert Aron), Vertov Archiv, opis 2, Dossier 412, RGALI, Moskau, und Brief vom 30.10.1931 an seine Frau Swilowa, Vertov Archiv, opis 1, Mappe 71, RGALI, Moskau

30 Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Leipzig, Klinkhardt & Biermann, 1928, S. 92, zitiert nach Janser, Rüegg 2001, S. 22

31 Ein Meter Rohfilm inkl. Entwickeln und Kopieren kostete zuvor 0.92 Mark, ein Meter Tonfilm 1.40 + 4.37 Tonlizenzgebühren, laut Paul Seligmann, «Filmsituation 1933», in: die neue stadt, Nr. 10, 1932/33

32 Zitiert in Sibyl Moholy-Nagy: Laszlo Moholy-Nagy, ein Totalexperiment. Mainz / Berlin, Kupferberg, 1972, S. 76

(Titelbild: Georg Schmidt und Hans Richter in La Sarraz, 1929; Photothèque Cinémathèque suisse)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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