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"Es ist eine Fortsetzung meiner Arbeit an der Befreiung des Kaders"

Ich war überrascht, dass nach der Premiere am Zurich Film Festival meine engsten Freunde gesagt haben, sie hätten mich nie so gesehen. Dass ihnen mein Bezug zu einer anderen Kultur nicht bewusst war, hat mich am meisten erstaunt.” Samir über seinen Film Iraqi Odyssey im Gespräch mit Tereza Fischer.

Text: Tereza Fischer / 01. Mär. 2015

FILMBULLETIN Iraqi Odyssey ist ein sehr persönlicher Film. Man erfährt nicht nur viel über deine Familie, sondern auch über dich.

SAMIR Ja, ich war überrascht, dass nach der Premiere am Zurich Film Festival meine engsten Freunde gesagt haben, sie hätten mich nie so gesehen. Dass ihnen mein Bezug zu einer anderen Kultur nicht bewusst war, hat mich am meisten erstaunt. Und ich habe mich natürlich gefragt, inwiefern ich schuld daran bin, dass ich in meinem Drang nach Assimilation so perfekte Mimikry betrieben habe, dass man mein Anderssein nicht wahrgenommen hat.

FILMBULLETIN War die persönliche Ausrichtung von Anfang an intendiert, oder hat sich das im Entstehungsprozess so ergeben?

SAMIR Iraqi Odyssey ist sozusagen das Ende einer Trilogie. Ich habe mit Babylon 2 angefangen. Obwohl man damals noch nicht vom Ich gesprochen hat, ging es um Identität und wie sich diese innerhalb der Gesellschaft ausbildet. Damals hatte ich mich aber hinter meinem jüdischen Freund versteckt, der mich spielte. Aber es ist mein persönlichster Film. Auch in Forget Bagdad ging es um Identität, diejenige der Vätergeneration: Was bedeutet es, Araber zu sein, wenn behauptet wird, du seist keiner? Das habe ich am Präzedenzfall der arabischen Juden gezeigt. Bei Iraqi Odyssey wollte ich eigentlich nicht allzu viel von mir erzählen, sondern von meiner Familie. Aber bei der ersten Vorführung für meine Kollegen haben alle gesagt, das sei alles sehr interessant, aber: Wo bleibst du?

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FILMBULLETIN Dann hast du deine Person also erst im Nachhinein als einen weiteren Protagonisten in den Film eingebracht?

SAMIR Ich wusste natürlich, dass ich die Geschichte erzählen muss, aber dass ich auch meine persönliche Geschichte parallel zu den anderen unterbringen sollte, hatte ich nicht gedacht. Zum Glück ist der Dokumentarfilm ja anders als der Spielfilm.

FILMBULLETIN Ich habe mich gefragt, wie du die Erzählung von kleinen privaten Episoden und politisch geprägten Lebensereignissen gewichtet hast.

SAMIR Ich habe mir eigentlich etwas Unmögliches vorgenommen. Ich wollte Raum und Zeit auf eine Art zusammenführen, die nicht linear ist. Dann habe ich gemerkt, dass mir die Idee des Reisens wichtig ist und dass ich die Reisen auch zeigen muss. Deshalb war es mir im Director’s Cut wichtig, unsere Zugreise in der Schweiz zu zeigen. Als Erinnerung an eine Zeit, in der man auch im Irak problemlos reisen konnte. Jetzt kommt man nicht mehr von Aleppo durch Mosul nach Bagdad und Basra. Ich wollte von der Geografie erzählen und gleichzeitig eigentlich eine lineare Geschichte. Die Geschichten der Menschen sind aber anekdotisch. Das alles in eine Dramaturgie verweben konnte ich erst am Schnittplatz. Dort war es dann interessant, die Kugel, den Globus und die Tangenten, die sie berühren und die als Generationen quasi aus dem Nichts kommen und dort wieder verschwinden, umzusetzen. Der Globus stand von Anfang an als Idee im Raum, später kam der Familienstammbaum in 3D dazu, der diese Idee der Generationenabfolge nochmals aufnahm. Ich habe nämlich gemerkt, dass die Zuschauer sich die Protagonisten nicht merken konnten.

FILMBULLETIN Wie hast du konkret aus der Fülle des Erzählten ausgewählt?

SAMIR Die Gespräche fanden in dreitägigen Sessions statt, und da ist viel Material entstanden. Wir wollen das nun zusätzlich in einem Transmediaprojekt aufbereiten, denn die Geschichte meiner Familie, das habe ich an den Vorführungen an Festivals gemerkt, hat eine Bedeutung über sich selbst hinaus. Für die arabische Welt ist es deshalb so wichtig, weil zum ersten Mal eine säkulare Geschichte einer Mittelschichtfamilie erzählt wird. Der Film besitzt offensichtlich viel Identifikationspotenzial.

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FILMBULLETIN Wie bist du mit dem Verhältnis zwischen privaten Anekdoten und der Geschichte Iraks umgegangen?

SAMIR Ich hatte erst nur eine Version mit den persönlichen Geschichten, über die implizit auch historische Ereignisse erzählt wurden. Wir haben aber gemerkt, dass sogar Swiss (Werner Schweizer), der Historiker ist, ohne erklärenden Hintergrund verloren war. Ich musste also die wunderbaren Geschichten kondensieren und die historischen Momente integrieren. So knapp wie möglich, den Ersten Weltkrieg und die Gründung des Irak in drei Minuten. Nicht schlecht, oder? (Lacht.) Aber die historische Linie half, die privaten Anekdoten zu strukturieren.

FILMBULLETIN In unsere Kinos kommt der fast dreistündige Director’s Cut. Hält das nicht die Leute vom Kinobesuch ab?

SAMIR Kann schon sein, aber das Kino ist eigentlich der einzige Ort, an dem man sich die Zeit nehmen kann. Jeder amerikanische Actionsstreifen, in dem es um gar nichts geht, dauert mindestens zweieinhalb Stunden. Ausser paar wenigen Kritikern hat bisher noch niemand reklamiert. Ich musste ja eine 90-minütige Version fürs Fernsehen schneiden. Dort fehlt die ganze Geschichte meines Grossvaters. Das heisst, da fehlt eine wichtige Information, nämlich dass die Transformation unserer Familie aus einem tief religiösen Hintergrund in Säkularität nicht wegen der Konfrontation mit der europäischen Idee stattgefunden hat, sondern aus sich selbst heraus. Aber man muss sich eben entscheiden, ob man eine Nische bedient oder nicht.

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FILMBULLETIN Du hast sehr viel schönes Archivmaterial zusammengetragen. Wo hast du es gefunden?

SAMIR Im Irak findest du nichts, da wurde alles zerstört. Alles, was ich gefunden habe, stammt aus London, Paris, Moskau, Washington. Der Chef des irakischen Nationalarchivs meinte zu mir: Du findest ja alles auf Youtube. (Lacht.) In den vierziger Jahren war der Süden des Irak tiefste Provinz, aber es kamen englische Schiffe und projizierten dort aktuelle Wochenschauen. Das habe ich alles gefunden.

FILMBULLETIN Die Abwesenheit deines Onkels, der in Paris lebt, wird im Film als spürbare Lücke inszeniert. Für die Zuschauer bleiben jedoch die Gründe für diese Absenz ein Rätsel. Im Presseheft verrätst du aber, dass er ausgestiegen ist, als du ihn auf der Strasse auf Arabisch angesprochen hast. Weshalb war dir wichtig, ihn trotzdem zu integrieren?

SAMIR Es ist sehr schade, dass er nicht im Film ist. Ich weiss um mein Naturell als Harmonisierer (beidseitiges Lachen) … im Film. Schon bei Babylon 2 haben mich viele darauf angesprochen, dass ich ja nur Vorbilder zeige und nichts Negatives. Damals war das eine bewusste Entscheidung. Ich wollte nicht einen weiteren Film über das Migrationsleiden machen. Und diesmal bin ich sozusagen gescheitert. Der einzige Moment von Melancholie, den ich hätte einbauen können, wäre mein Onkel gewesen. Er ist ein perfekter Franzose geworden und ist nie in den Irak zurückgekehrt. Ich konnte aber im Film nicht erzählen, warum er sich zurückgezogen hat. Das wäre eine zu persönliche Geschichte geworden.

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FILMBULLETIN Themenwechsel: 3D …

SAMIR Da muss ich gleich vorweg etwas anmerken. Ich wollte eigentlich nicht, dass auf dem Plakat steht: 3D. «A stereoscopic film» wäre mir lieber gewesen. Aber der Verleiher sagte: «Stereowas?» Avatar ist ein 3D-Film. Ein perfekter, fantastischer 3D-Film. Aber ich stehe eher in der Tradition von Lotte Reiniger. Ihre Silhouettenfilme haben einen Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Als ich angefangen habe mit Zelluloidfilmen, war die Materialität des Films wichtig. Dann kam Video, und ich habe mich von der Unmittelbarkeit des Mediums überzeugen lassen. Das hat zu einem Bruch in der Wahrnehmung geführt und war verblüffend.

FILMBULLETIN Und was hat dich am stereoskopischen Bild fasziniert?

SAMIR Es ist eine Fortführung meiner Arbeit an der Befreiung des Kaders. Ich versuchte bereits mit Video, die Kadrierung zu sprengen und wieder zu schliessen. Das habe ich also alles schon ausprobiert. Aber was mich jetzt reizte, war das Spiel mit verschiedenen Ebenen. Als ich vor sieben Jahren mit Iraqi Odyssey anfing, wurde 3D gerade diskutiert. Vor drei Jahren hat mich JVC angefragt, ob ich als «Geek» nicht Lust hätte, eine ganz kleine Kamera, mit der man 3D drehen konnte, auszuprobieren. Das hat mich voll gepackt! Aber alle Interviews, die ich schon geführt hatte, musste ich nochmals in 3D machen.

FILMBULLETIN Und deine Verwandten waren bereit, alles nochmals zu erzählen?

SAMIR Ich habe behauptet, ich hätte bis dahin nur Recherche betrieben. Wir mussten auch zuerst Tests durchführen. Es waren super spannende drei Monate, in denen wir mit der Postproduktionsfirma alles Mögliche ausprobierten. Zum Beispiel habe ich herausgefunden, dass 3D-Filme nur gut funktionieren, wenn der Vordergrund in einer Bewegung zum Hintergrund steht. Zudem darfst du nicht vorne und hinten 3D haben, das heisst, man muss mit Hintergrundunschärfen arbeiten oder eine Totale und grösstmögliche Schärfentiefe. Auch das Timing wird anders. Schon bei meinen anderen Filmen war die Rhythmisierung das Hauptproblem. Die Transition zwischen Vorder- und Hintergrund ist eigentlich konstituierend und nicht nur die Länge der Ausschnitte, die aufeinanderfolgen. Das ist auch der Grund, weshalb ganze Passagen in Schwarz gehalten sind, weil man wichtige Aussagen nicht mit dem Hintergrund stören darf. Eigentlich habe ich also meine Arbeit fortgeführt. Jetzt sind es aber dreidimensionale Körper, die eine
Geschichte erzählen.

FILMBULLETIN Ich habe beide Versionen, 2D und 3D, gesehen und fand es sehr interessant zu vergleichen, zu schauen, was in welchem Modus besser funktioniert.

SAMIR Ja, genau, du hast ja gesehen, die Schriften funktionieren in 3D viel besser! Es gibt eine auffällige Hierarchisierung.

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FILMBULLETIN Könntest du folgende Beobachtungen kommentieren? Protagonisten vor den Archivbildern werden am Ende eines Statements ausgeblendet, das heisst, sie lösen sich auf, verschwinden langsam. Das war ein Effekt, der mich in 2D störte, in 3D funktionierte es interessanterweise gut.

SAMIR Das Timing des Verschwindens ist für 3D berechnet. Da haben wir extrem viele Tests gemacht, denn ein Schnitt sieht in 3D brutal aus. Es gleicht einem Ausradieren. Der zweidimensionale Blick verträgt den harten Schnitt viel besser. Wir haben zwar einen Soft Cut bei der Einblende eingesetzt, aber den bemerkt man fast nicht. Beim Ausblenden sind es genau 15 Bilder. Zu schnelles Ausblenden wäre wie gesagt zu krass und ein langsames würde zu demonstrativ wirken. Das Einhalten dieser Standards hat aber dazu geführt, dass wir jedes Ein- und Ausblenden der Bilder im Hintergrund anders gestalten mussten. Bei 3000 Bildern!

FILMBULLETIN Bei einem anderen Effekt war die positive Wirkung für mich genau umgekehrt. In der 2D-Version funktionieren Archivaufnahmen mit unscharfen Rändern, weil sie flächig wirken. In 3D lösen sich die Ebenen voneinander und werden zu frei schwebenden Objekten. Ein Objekt mit unscharfen Rändern wirkt aber befremdlich, nicht solid.

SAMIR Nächste Frage bitte! (Lacht.) Nein, das ist ein Fehler, der in der Postproduktion in Deutschland entstanden ist. Wir haben deswegen sehr viel gestritten. Deshalb ist das eine unangenehme Frage.

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FILMBULLETIN Nochmals eine vielleicht unangenehme Frage: Die 3D-Version ist deutsch eingesprochen. Ich hatte sofort das Gefühl, Fernsehen zu schauen.

SAMIR Das ging nicht anders. Auch da haben wir Tests gemacht, aber man kann nicht gleichzeitig 3D schauen und Untertitel lesen. Das ist der Kompromiss bei 3D. Aber Wieland Speck hat den Film in englischer Fassung in Toronto gesehen und wollte ihn genau so unbedingt für die Berlinale haben. Und er hat wohl kaum je einen Film mit Voice-over gezeigt.

FILMBULLETIN Was waren die grössten Herausforderungen dieser Technik?

SAMIR Eigentlich war nichts dabei, was ich nicht schon ansatzweise gekannt hätte. Das Einzige waren die physiologischen Erfahrungen, die wir sammeln mussten. Wir haben lange getestet, aber dann hat alles funktioniert. Die schiere Menge an Material war die wahre Herausforderung. Die arme Sophie (Brunner) hat sich zweieinhalb Jahre lang damit herumgeschlagen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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