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Die Zeitreise als Egotrip

Ein Gespenst geht um in der Cineasten-Welt – das Gespenst des Spoilers. Wer es heute noch wagt, etwas über den Inhalt eines aktuellen Films oder einer Fernsehserie zu erzählen, dem ist gesellschaftliche Ächtung gewiss.

Text: Simon Spiegel / 27. Juli 2015

Ein Gespenst geht um in der Cineasten-Welt – das Gespenst des Spoilers. Mein Einstieg mag ein wenig dramatisch klingen, tatsächlich aber hat sich in den vergangenen Jahren eine regelrechte Spoilerphobie in der Filmwelt breitgemacht. Wer es heute noch wagt, etwas über den Inhalt eines aktuellen Films oder einer Fernsehserie zu erzählen, dem ist gesellschaftliche Ächtung gewiss.

Diese Angst ist einigermassen befremdlich. Denn bei Licht betrachtet, beruht die Qualität eines Films nur selten auf unerwarteten Wendungen. Oder ist es tatsächlich die Schlusseinstellung des brennenden Schlittens, die Citizen Kane zum Meisterwerk macht? Verliert Psycho auch nur ein Quäntchen an Genialität, wenn wir im Voraus wissen, wer hier das Messer schwingt? Es gibt zweifellos Filme, die ganz auf Twists aufgebaut sind. Beispielsweise The Sixth Sense oder andere Werke M. Night Shyamalans. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei diesen Filmen freilich um simple Rührstücke, deren Erzählweise bloss über die kitschige Story hinwegtäuschen soll.

Für die Filmkritik ist die grassierende Spoilerphobie auf jeden Fall ein Problem, denn wie soll man etwas über Aufbau und dramatische Struktur eines Films sagen, wenn dessen Inhalt tabu ist? – Doch genau darum soll es in dieser Kolumne gehen. Mein Ziel ist dabei keineswegs, möglichst viele Filmenden zu verraten. Vielmehr möchte ich anschauen, wie Filme gebaut sind, welche Informationen sie uns wann zukommen lassen und – nicht zuletzt – mit welchem Ergebnis.

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Den Auftakt macht einer der meistdiskutierten Filme des vergangenen Jahres, Christopher Nolans Interstellar. Nolan gehört zweifellos zu den erfolgreichsten Regisseuren sogenannter Mindfuck Movies, deren Reiz darin liegt, dass sie die scheinbar festen Regeln ihrer Welt komplett auf den Kopf stellen. Memento, der Film, mit dem ihm 2000 der Durchbruch gelang, war Teil einer ganzen Welle solcher Filme. Mit seiner Vorwärts-Rückwärts-Chronologie und einem Protagonisten, der keine Langzeiterinnerungen bilden kann, ist Memento ein Film, dessen Reiz primär in der Rekonstruktion seines Aufbaus liegt.

Die Konzentration auf die Struktur lässt sich bei vielen Filmen Nolans beobachten, selbst bei seinem jüngsten, obwohl dessen Erzählung zunächst ganz klassisch erscheint: Weil eine weltweite Dürre die Menschheit bedroht, macht sich der von Matthew McConaughey dargestellte Cooper mit einer NASA-Expedition ins All auf. Durch ein Wurmloch, das unbekannte Kräfte neben dem Saturn gepflanzt haben, fliegen er und seine Crew in ein anderes Sonnensystem, um auszukundschaften, ob sich dessen Planeten als Kolonien eignen.

Der Plot von Interstellar hält mehrere überraschende Wendungen und diverse logische Probleme bereit, ich möchte mich an dieser Stelle aber nur mit dem Haupttwist beschäftigen: Nach verschiedenen Strapazen lässt sich Cooper in ein Schwarzes Loch fallen, das sich als fünfdimensio na ler Raum entpuppt, von dem aus er zu beliebigen Zeitpunkten in das Kinderzimmer seiner Tochter sehen kann. Von hier aus kann Cooper über Zeit und Raum hinweg Informationen übermitteln, die es seiner Tochter ermöglichen, die alles entscheidende physikalische Gleichung zu lösen. In einem Moment der Eingebung wird ihm zudem klar, wer für die intergalaktische Bibliothek und das Wurmloch verantwortlich ist: Es ist die Menschheit der Zukunft, die so weit entwickelt ist, dass sie die Vergangenheit manipulieren kann.

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Interstellar betritt damit das beliebte Gelände des Zeitreise-Paradoxons. Geschichten, die mit diesem Kunstgriff spielen, haftet oft etwas Narzisstisches an, weil am Ende klar wird, dass das, was geschieht, geschehen musste respektive schon immer geschehen ist. In The Terminator etwa schickt John Connor Kyle Reese in die Vergangenheit, damit dieser Johns Mutter Sarah schwängern kann. So wie John sich indirekt selbst zeugt, erschaffen sich auch Interstellars Menschen der Zukunft mit der Hilfe von Cooper und dessen Tochter.

Interstellar geht aber noch über diese Form der Selbstzeugung hinaus, da der Film ein ganz auf Cooper zugeschnittenes Universum errichtet. Denn was wäre geschehen, wenn ein anderer Astronaut in das Schwarze Loch gestürzt wäre? Obwohl es nie explizit gesagt wird, macht es doch den Anschein, als sei der fünfdimensionale Raum einzig für Cooper geschaffen worden. Die Welt des Films dreht sich im ganz wörtlichen Film nur um Cooper. Hierin gleicht Interstellar Memento, dessen Protagonist mangels Gedächtnis dazu verdammt ist, seine Welt fortlaufend neu zu erschaffen. Was bei Memento aber noch Ausdruck eines pathologischen Zustands war, ermöglicht in Interstellar nun die Rettung der Menschheit.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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