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Die Schweizer Berge zwischen Sehnsucht und Idylle

«Heidi» ist eine Schweizer Geschichte, der in Japan in Form einer äusserst erfolgreichen Zeichentrickfilmserie neues Leben eingehaucht wurde. Die Serie wurde auch fürs deutsche Fernsehen adaptiert bzw. synchronisiert. Wie sich die kulturellen Unterschiede auf die Tonspur auswirkten, hat Oswald Iten untersucht und die Zeichentrickfassung Arupusu no shôjo Haiji (1974) von Isao Takahata, mit der Musik von Takeo Watanabe und Eriko Kishida, mit der deutschen Bearbeitung von Andrea Wagner und Gert Wilden verglichen. Die Analyse enthält Videobespiele.

Text: Oswald Iten / 29. Sep. 2015

Johanna Spyris «Heidi»-Romane verdanken ihre Popularität in Japan primär der Sehnsucht nach jenem Leben im Einklang mit der Natur, von dem sich die moderne japanische Gesellschaft im 20. Jahrhundert zunehmend entfernt hat. Mit seiner Zeichentrickfassung Arupusu no shôjo Haiji (1974) wollte Isao Takahata den auf Leistung getrimmten Sporthelden und kämpfenden Robotern des damaligen Mainstreams ein entschleunigtes Plädoyer für die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen entgegenstellen. Deshalb widmet er Heidis erster Zeit auf der Alp insgesamt 19 von 52 Folgen und fokussiert auf jene unspektakulären Alltagsszenen, die in den meisten Verfilmungen der Dramaturgie zum Opfer fielen.

Kindliche Erzählperspektive

Das Publikum sollte die Schweizer Bergwelt mit den Augen und Ohren der wissbegierigen Heidi selbst entdecken. Diese Entdeckerperspektive zeigt sich schon in den kindlichen Fragen des Titellieds «Oshiete» («Sag mir») von Takeo Watanabe und Eriko Kishida: «Warum kann ich das Pfeifen von weit her hören? Warum warten diese Wolken auf mich? Sag es mir, Grossvater, sagt es mir, ihr Tannen auf der Alp! Warum färbt sich der Schnee rosa? Wo versteckt sich der Wind?»

Mit einem Harfen-Glissando kündigt sich der traumartige Charakter dieses Vorspanns an, in dem Heidi in luftiger Höhe schaukelt und mit den Wolken über das Dörfli schwebt. Als Kontrast zur sanften japanischen Popsängerin werden jene Szenen, bei denen Heidi festen Boden unter den Füssen hat, von den in Zürich aufgenommenen Jodlerinnen Nelly und Varny Schwarz begleitet.

In der kindlichen Wahrnehmung des an sich realistischen Settings fand Takahata auch die Rechtfertigung für eine Umsetzung als Animationsfilm. So rennt das fünfjährige Mädchen nach dem Ablegen der einengenden Kleider mühelos zu einer Reprise von «Oshiete» mit den Ziegen den Berg hinauf, während diese werkgetreue Schlüsselszene im Realfilm eher lächerlich wirken würde.

 

Kulturelle Einebnung

Wer allerdings mit der 1977 entstandenen deutschen Synchronfassung aufgewachsen ist, wird sich nicht nur wegen veränderter Dialoge ganz anders an diese Szenen erinnern. Bereits der aufdringliche Titelsong des Schlagerkomponisten Christian Bruhn betont mit dem Text «Heidi, deine Welt sind die Berge, denn hier oben bist du zuhaus’ … komm doch heim, find dein Glück, komm doch wieder zurück» die von Takahata bewusst vermiedene Aussensicht der Erwachsenen.

Bei Heidis befreiendem Tanz mit den Ziegen fehlt die Verbindung zum Titellied vollständig. Stattdessen überbrücken unnötige Dialoge die vermeintliche Leere. Gleichzeitig passt die natürliche Stimme der zwölfjährigen Christin Fiedler im Gegensatz zur 27-jährigen japanischen Synchronsprecherin so gar nicht zu Aussehen und Verhalten der stilisiert gezeichneten Fünfjährigen.

 

Die nicht unübliche Praxis der Beta-Technik der siebziger Jahre, Haiji eine komplett neue Tonspur zu verpassen, erscheint aus kommerziellen Gründen verständlich. Schliesslich war die deutsche Ausstrahlung Aufhänger einer gigantischen Heidi-Merchandising-Maschinerie, die auch auf Tantiemen aus Tonträgern abstützte. Leider wurden dabei neben den japanischen Popsongs auch authentisch berndeutsche Volksweisen wie der «Fyrabe Jodel» konsequent aus der Handlung eliminiert. Die Anpassung an den deutschen Massengeschmack verwässerte zudem die genretypisch weibliche Erzählperspektive, indem die liebevolle Erzählerin durch eine Männerstimme ersetzt wurde.

Unterschiedliche Grundstimmungen

Entscheidender für das emotionale Eintauchen in Heidis Welt ist jedoch die lyrisch-melancholische, von Takeo Watanabe kongenial vertonte Grundstimmung der Serie. Schon in den ersten Szenen in einem verlassenen Hinterhof kommt die Verlorenheit des Waisenkinds zum Ausdruck. Mit dem Ausklingen eines Akkordeonmotivs harrt Heidi der Dinge in der frühmorgendlichen Stille. Mithilfe der Musik gelingt es Takahata auch, im Publikum jene Überwältigung auszulösen, die er beim Betrachten des Alpenpanoramas oberhalb von Maienfeld 1973 selbst erlebt hatte. So untermalt Watanabe das Sichtbarwerden der majestätischen Berge mit einem aufsteigenden Hornmotiv über verheissungsvollem Streichertremolo. Gert Wildens rhythmusbetonte Untermalung der deutschen Fassung bleibt hingegen oft den Bewegungen der Figuren verpflichtet. Selbst beim Auftreten eines Steinbocks imitiert er die aufsteigenden Schritte des Tiers, während Watanabe mit einer Alphornfanfare und ehrfürchtiger Stille auf Heidis Staunen reagiert.

 

Der zwischen sizilianischem Mandolinentremolo und sanft perlender Popmusik changierenden Sentimentalität Watanabes setzt der Heimatfilm-Routinier Wilden das klarinettenlastige Idiom von Unterhaltungsorchester und bayerischer Volksmusik entgegen. Weil seine viel idyllischere Musik meist unauffällig im Hintergrund bleibt, wirken Heidis tief erlebte Empfindungen in der deutschen Fassung bisweilen viel schwächer.

Akustische Einfühlung

Die unterschiedlichen Filmmusikkonzepte der beiden Komponisten zeigen sich besonders schön an der Figur des Alpöhi. Für dessen Bernhardiner verwenden sowohl Watanabe als auch Wilden ein unveränderliches Leitmotiv. Der Grossvater, den Wilden ebenfalls mit einem stimmungsunabhängigen Bassmotiv charakterisiert, klingt bei Watanabe jeweils so, wie Heidi ihn gerade erlebt. So wird seine Unnahbarkeit von Hackbrettklängen im Stil eines Italowesterns begleitet. Sein Hadern mit der Welt kommt wiederum in einer schwermütigen Streicherkantilene zum Ausdruck.

 

Heidi selbst vertraut ihre Probleme den Tannen hinter der Alphütte an, deren Rascheln im Wind ihr Geborgenheit vermittelt. Solch japanische Naturmystik ersetzt hier Spyris religiöse Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne. Weil die Filmemacher Atmosphäre höher gewichten als dramaturgische Ökonomie, bestimmen Wind und Wetter einen guten Teil der Handlung. Dabei kommt den Geräuschen in der Originalfassung eine wichtigere Rolle zu als der Musik. Einzig dem Schnee, der die Tannen zum Schweigen bringt, verleiht Watanabe mit sphärisch unterlegten Ostinati einen unwirklichen Charakter.

Gemessen an Absicht und Erfolg der deutschen Bearbeitung ist Wilden zu Recht stolz auf seine am Heimatfilm orientierte Partitur. Hätte man dem deutschsprachigen Publikum jedoch wie bei späteren japanischen Serien Watanabes dynamische Melancholie schon damals zugemutet, wäre Takahatas oft belächelte «Heidi»-Adaption wohl auch hierzulande als Grundstein des magischen Realismus seines Meisterwerks Grave of the Fireflies (1988) erkannt worden.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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