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Blackrain

Musikalische Graustufen

Der japanische Komponist Takemitsu Toru ist ein philosophischer Avantgardist. Sensibel hebt sein Soundtrack zu Imamura Shoheis Schwarzer Regen die Themen und Widersprüche des Films hervor. Eine Analyse mit Filmausschnitten.

Text: Oswald Iten / 28. Okt. 2016

Zumindest aus westlicher Sicht gehört Takemitsu Toru seit langem zu den wichtigsten japanischen Komponisten. Von seinen über 80 Filmpartituren fanden jedoch nur diejenigen Eingang in den Kanon, die das von der seriösen Musikkritik geprägte Bild des philosophischen Avantgardisten bekräftigen. Dabei bleibt oft unerwähnt, dass das grosse Publikum in Japan vor allem Takemitsus eingängigere Musik aus sentimentalen Melodramen und Nachrichtenjingles kennt – freilich ohne sich dessen bewusst zu sein.

Gegen Ende seines Lebens näherten sich die absoluten und die funktionalen Werke des Komponisten jedoch einander an. Dies zeigt sich auch dar­an, dass Takemitsu kurz vor seinem Tod 1996 den Grossteil seiner Filmmusik zu Imamura Shoheis Kuroi ame (1989) unter dem Titel «Death and Resurrection» praktisch unverändert als Konzertstück veröffentlichte. Obwohl Kuroi ame von den gesellschaftlichen Folgen des Atombombenabwurfs über Hiroshima handelt, setzt Takemitsu, der sich nach dem Krieg im «Spiegel westlicher Musik» als Komponist definierte, keinerlei asiatische Instrumente ein. Pendelnd zwischen Moderne und Romantik ist Kuroi ame ein gutes Beispiel für die Sensibilität, mit der Takemitsu narrative Strukturen, Themen und Widersprüche eines Films hervorzuheben vermochte.

Angekündigter Schock

Ganz nüchtern und nur von Geräuschen untermalt beginnt der Film mit der Einführung der jungen Protagonistin Yasuko, die am Morgen des 6. August 1945 ihr Hab und Gut aus Hiroshima zu Tante und Onkel aufs Land bringt. Musik setzt erst ein, als wir den Onkel auf dem Weg zur Arbeit sehen. Ein feiner Akzent lenkt den Blick auf eine Bahnhofsuhr, deren Zeiger auf 8:14 Uhr springt, und zumindest den japanischen Zuschauern sofort klarmacht, dass die Szene eine Minute vor Abwurf der Bombe spielt.

Die folgenden Bilder von schwitzenden Pendlern und einem in der Morgensonne winselnden Hund wür­d­en Ruhe ausstrahlen, wenn da nicht geisterhaft blechig an- und abschwellende Streichertremolos auf die unmittelbar bevorstehende Kata­strophe hindeuten würden. Als die Druckwelle der Atombombe eine Minute später die Eisenbahn erfasst, steigern sich schrittweise aufgebaute Dissonanzen zu einem durchdringenden Kreischen, das mit jedem Aufstieg stechender klingt.

In der Folge werden die ungläubigen Blicke der flüchtenden Überlebenden immer wieder mit hell anschwellenden Akzenten aus den Zerstörungsbildern herausgehoben. In enger Anlehnung an das Bild wird der Anblick des Atompilzes von einer dunkel aufwallenden Klagemelodie begleitet, die sich beim titelgebenden «Schwarzen Regen» (japanisch: kuroi ame) in absteigenden Tremoli entlädt. Als die radioaktiven schwarzen Tropfen schliesslich Yasu­kos Gesicht expressiv zerfurchen, erklingen noch einmal die gleichen Dreiklangüberlagerungen, die zuvor die Wucht der Bombe zum Ausdruck gebracht haben. Denn obwohl Yasuko bei der Detonation nicht in der Stadt war, wird ihre Zukunft massgeblich von dieser sekundären Versehrung bestimmt.

 

Stilisiertes Grauen

Die eigentliche Handlung nach diesem Prolog spielt im Jahr 1950. Als mutmassliche Trägerin der Strahlenkrankheit hat Yasuko unabhängig von einem ärztlichen Gesundheitszertifikat auch nach fünf Jahren kaum Chancen auf eine Anstellung oder Heirat. Stilistisch wähnt man sich im 1989 gedrehten Kuroi ame tatsächlich in einem japanischen Film der fünfziger Jahre. Mit unaufgeregt distanzierten Schwarzweisskompositionen gelingt es Imamura Shohei, das Alltagsleben ungeschönt realistisch, das Grauen jedoch expressionistisch stilisiert zu inszenieren.

Während der ersten drei Viertel des Films untermalt Takemitsu denn auch ausschliesslich die oft von Tage­buchaufzeichnungen ausgelösten Rückblenden ins Jahr 1945. Wie nur ganz wenige Filmkomponisten vor ihm beschränkt er sich passend zu den Schwarzweissbildern auf ein reines Streichorchester, das er jedoch auf bis zu vier Stimmen pro Register unterteilt, um die Reduktion der Klangfarben zu kompensieren.

An der westlichen Form des Orchesters interessierte ihn nämlich weniger der homogene Gesamtklang als die Möglichkeit einer musikalischen Kollaboration, zu der jeder einzelne Instrumentalist etwas beiträgt. Klang­liche Veränderungen erzeugt Takemitsu beispielsweise gerne, indem er die Stimmen nacheinander in Akkorde einsetzen lässt. Damit erinnert Kuroi ame deutlich an sein 1957 entstande­nes «Requiem for Strings», das einst Strawinskys Aufmerksamkeit erregte und so Takemitsus Karriere als Avantgardekomponist lancierte. Wie das langsame «Requiem» evoziert Kuroi ame vor allem getragene Stimmungsbilder, die sowohl von Kompositionstechniken der Zweiten Wiener Schule als auch von Debussys impressionistischen Naturdarstellungen beeinflusst sind.

Für den formal durchaus sehr präzisen Autodidakten Takemitsu durfte Musik nicht von der Form her gedacht sein, sondern sollte sich aus den uns umgebenden Geräuschen («stream of sounds») organisch entwickeln und diese mit Bedeutung aufladen. Ebenso sollte die Musik nicht die Persönlichkeit des Künstlers, sondern menschliche Wahrheiten reflektieren. Abgesehen vom grösseren Zielpublikum interessierte ihn die Arbeit für den Film vor allem deshalb, weil er hier viel anonymer agieren konnte und ihm die Zusammenarbeit mit Filmemachern neue Impulse verlieh. Zudem stand seine Musik im Film immer im Dialog mit anderen Geräuschen.

Rückkehr zur Tonalität

Im Vergleich zur 25 Jahre früher entstandenen Experimentalpartitur für Teshigaharas Meisterwerk Suna no onna / Frau in den Dünen (1964), bei dem der Komponist ausserdem mass­geblich am Sounddesign beteiligt war, wirkt Kuroi ame geradezu konventionell. In Takemitsus letzter Schaffensphase spielte die Tonalität, die er als Pop­arrangeur zweifellos beherrschte, generell eine grössere Rolle als zuvor.

So brennen sich etwa zwei von Yasuko fassungslos beobachtete Einzelschicksale dank der tonalen Unterma­lung als besonders herzzerreissend ein: Als ein junger Mann seinen entstellten Bruder nicht mehr erkennt, erhebt sich wellenartig eine schwermütige Melodie. Gleich darauf stürzt sich ein Blinder zu dramatisch vorwärtsdrängenden Triolen und Achtelläufen aus dem Fenster.

Bei Yasukos verzweifeltem Staksen durch Geröll und überlebende Tote zitiert Takemitsu gar den Trauermarsch aus dem ersten Satz von Gustav Mahlers 5. Sinfonie. Gestört wird die hochromantische Melodie der Celli hingegen von giftigen Flageoletttönen der zweiten Geigen. Als in einer späteren Rückblende noch einmal die gleichen Musikstücke erklingen, hören wir das Mahler-Zitat, als sich die Flüchtenden vor explodierenden Eisenbahnwaggons ins Wasser retten. Obwohl Takemitsu also ausgesprochen genau auf das Bild komponierte, sind die an- und abschwellend atmenden Musikbausteine variabel einsetzbar.

 

Von der Vergangenheit eingeholt

Nachdem die Musik in den ersten zwei Dritteln des Films ausschliesslich für visuelle Erinnerungen reserviert war, sorgt Yasukos Begegnung mit dem jungen Bildhauer und Kriegsveteranen Yuichi für einen entscheidenden Wendepunkt. Während dieser der Prot­agonistin seine von Motorenlärm ausgelöste Kriegspsychose erklärt, durchlebt er ein rein akustisches Flashback. Zum ersten Mal untermalt Takemitsu hier eine – allerdings expressio­nistisch beleuchtete – Szene aus der Gegenwart von 1950. Dazu bedient er sich einer bedrohlicheren Variante des Trauermarschs, der unter Maschinengewehrsalven und Panzergeknatter in ein Tremologewitter übergeht.

Ab diesem Moment vertont die Musik das gegenwärtige Leiden jener Dorfbewohner, die bald in kurzer Folge der Strahlenkrankheit zum Opfer fallen. Dazu gehört etwa Yasukos Tante, die als Einzige mitbekommt, wie schlimm es auch um ihre Nichte steht. Die eindrückliche Halluzinationsszene der Tante bereitet uns zudem auf den ebenso schönen wie tragischen Höhepunkt vor, als die schwer gezeichnete Yasuko einen sagenumwobenen Riesenkarpfen aus dem Fischteich aufspringen sieht. Hier nun erklingt das Mahler-Fragment endlich frei von Dissonanzen. Wie Imamura gern erzählte, bat Takemitsu ihn vergeblich, diese Szene zu verlängern, um der romantisch entfesselten Musik mehr Raum zu geben. Deshalb erstaunt es nicht, dass der Komponist im Abspann ein schon länger vorbereitetes Motiv zu einer melodramatischen Kantilene der ersten Geigen ausbaute. Genauso wie die finale Fassung des Films offenlässt, ob die von Yuichi ins Krankenhaus begleitete Yasuko überlebt, verweigert uns die Musik schliesslich den erwarteten Schlussakkord.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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