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Midnight Special / Boris sans Béatrice

Jeff Nichols und Denis Côté stellten an der Berlinale 2016 ihre neuen Filme vor und bleiben sich dabei treu.

Text: Tereza Fischer / 13. Feb. 2016

Midnight Special von Jeff Nichols

Vielleicht ist man der Superhelden-Filme überdrüssig geworden und reagiert deshalb erst einmal skeptisch auf Jeff Nichols Wettbewerbsbeitrag Midnight Special, der als Thriller anfängt und in einer Superhelden-Science-Fiction-Story endet, die mit ihrem Einschlag ins Übernatürliche vor allem an Spielberg erinnert. Im Zentrum steht der achtjährige Alton, der wegen seiner übernatürlichen Fähigkeiten gleich von zwei Parteien gejagt und von einer dritten beschützt wird. Sein Vater – von Michael Shannon mit einer ähnlichen Besessenheit gespielt wie der paranoide Protagonist in Nichols' Katastrophenfilm/Psychodrama Take Shelter – ist zusammen mit einem befreundeten State Trooper und später auch Altons Mutter auf der Flucht, entschlossen seinem Sohn das zu ermöglichen, was er braucht und will. Verfolgt werden sie zum einen von einer Sekte, für die Alton der Erlöser ist und am Tag des Jüngsten Gerichts bei ihnen sein muss. Andererseits schaltet sich sich das FBI ein, das die «heiligen Worte» sich als Koordinaten äusserster Wichtigkeit für die Staatssicherheit entpuppen. Was es mit den Fähigkeiten auf sich hat und warum der Junge eine Schutzbrille trägt, erfährt man erst nach und nach. Zu Beginn scheint das begehrte Kind ein einigermassen normaler Junge zu sein, der gerne Superheldencomics liest. Doch immer mehr entwickelt sich der Film in Richtung einer übernatürlichen Fabel, in der Alton in eine phantastische Parallelwelt zu Seinesgleichen entfliehen kann. Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg, den Nichols meisterhaft mit Spannung, Action, Witz und einer dichten Atmosphäre auflädt.

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Für «comic relief» und eine neutrale Position sorgt der etwas linkische NSA-Experte (Adam Driver, der dank seiner früheren Rollen die Komik zusätzlich hineinträgt), der Altons Vertrauen geniesst. Die anderen drei meinen es aber bitterernst: das Kind wird von der Sekte für absurde Zwecke missbraucht, von den paranoiden Behörden mit Armeegrossaufgebot zu kontrollieren versucht und schliesslich von den Eltern mit selbstloser Hingabe in seinem Willen unterstützt. Das Kind ist zum Objekt geworden, das von den einen kontrolliert, normiert wird, von anderen verklärt und per Kuschelpädagogik ebenfalls unterdrückt, selten aber werden Kinder als gleichberechtigt, wenn auch nicht ganz einfach zu verstehende Wesen genommen. Zuzutrauen ist es Jeff Nichols sehr wohl, dass er nur oberflächlich betrachtet das macht, was Hollywood sonst tut.

Boris sans Béatrice von Denis Côté

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Ganz anders, aber nicht minder herausfordernd ist der neue Film des Kanadiers Denis Côté Boris sans Béatrice. Es ist die Geschichte des smarten, in allen Lebensbereichen erfolgreichen Boris Malinovsky, der sich eine Auszeit nimmt, um seiner depressiven Frau zur Seite zu stehen. Dass er nicht der empathische, liebevolle Ehemann ist, merkt man schnell: Schliesslich behandelt er fast alle herablassend und sieht auch nichts dabei, eine Affäre zu haben und sich in der Auszeit vor allem ums eigene Wohl zu kümmern. Die Pflege von Béatrice, einer Ministerin der kanadischen Regierung, die nun nicht mehr das Bett verlässt und nicht mehr spricht, überlässt er einer jungen Pflegerin. In der ersten Einstellung wird allerdings schon klar, dass stürmische Zeiten anstehen: Boris steht alleine auf einer Wiese, auf der ein Helikopter nah über dem Boden schwebt, während er versucht trotz massivem Wind nicht umzufallen. Ein Kraftakt, der die folgende Entwicklung einstimmt, denn eines Tages erscheint ein «Mystery Man» (bei weitem nicht so unheimlich wie in David Lynchs Lost Highway), der Boris mit der Wirklichkeit konfrontiert und ihm die Verantwortung für Béatrices Krankheit gibt. Boris fühlt sich zunehmend verfolgt und braucht mehr als einen deutlichen Hinweis, bis er sich des Besseren besinnt.

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Côtés Psychothriller bleibt im Gegensatz zu [art:vic-flo-ont-vu-un-ours:Vic et Flo ont vu un ours] ohne Blutvergiessen, streut gar Komisches ein und webt Referenzen zur griechischen Mythologie ein, allerdings kann er die Spannung und dichte Atmosphäre hier nicht wieder aufbauen. Die Figuren lässt er immer wieder in starren Bildkompositionen die Grenzen spüren. Spannung entsteht weniger aus einem Psychogramm seines Protagonisten als aus der scheinbar unmöglichen Aufgabe, die unbeugsam-arrogante Figur in die Knie zu zwingen. Das zumindest prophezeit Boris der Fremde. Dass es Béatrice am Ende besser geht, ist offensichtlich, wie weit ihr Mann sich wirklich verändert hat, bleibt indes offen und der Film insgesamt nicht ganz so überzeugend wie die früheren Werke.

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