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Träumerische Schnittmengen

In dem Album «Pour en finir avec le cinéma» des französischen Comic-Künstlers Blutch trägt die Cinephilie eine ausgesprochen hässliche Fratze. Blutchs Beschäftigung mit dem Kino findet auf einer offenkundigen Ebene der Zitate und Verweise, aber auch auf einer verborgenen, strukturellen statt. Das verbindet ihn mit seinem italienischen Kollegen Lorenzo Mattotti. Die Arbeiten der Comic-Künstler umkreisen das Kino, verbinden sich mit ihm zugleich vage und konkret.

Text: Gerhard Midding / 05. Mär. 2016

Gemeinhin unterstellt sich der Cinephile selbst eine gewisse Unschuld. Gern nimmt er seine Liebe zum Kino als rein und idealistisch wahr. Er begreift sich als Bewahrer einer Wertschätzung, die stets verloren zu gehen droht. Aber was wäre, wenn diese selbstlose Hingabe nur eine Täuschung, ja Lüge ist?

In dem Album «Pour en finir avec le cinéma» des französischen Comic-Künstlers Blutch trägt die Cinephilie eine ausgesprochen hässliche Fratze. Eingangs tritt sie in Gestalt eines Eindringlings auf den Plan, der nachts einer Frau in ihrer Wohnung auflauert, sie überwältigt und vergewaltigen will. Erst im letzten Moment lässt er von ihr ab, als sie sagt, dass Paul Newman gestorben sei. Diese Nachricht wirkt wie eine Zauberformel, die den Angreifer zur Besinnung bringt. Das könne nicht sein, erwidert er, er denke doch jeden Tag an ihn. Womöglich ist die Eröffnungssequenz nur ein Rollenspiel; allerdings ziehen sich Gewaltausbrüche gegenüber Frauen als Leitmotiv durch das Album. Kunststück, sie verkörpern die erwachsene, vernünftige, spielverderberische Widerrede, halten einer in der Adoleszenz verhafteten Realitätsflucht unerbittlich den Spiegel vor. Der Protagonist, dessen Altern wir im Verlauf des Albums beiwohnen müssen, wird zusehends zur Zielscheibe des Spotts. Der Autor lädt uns ein, in ihm sein Alter Ego zu sehen. Er käme nicht auf die Idee, seinen Figuren und damit sich selbst zu schmeicheln. Blotch, der relativ unbegabte Zeichner aus dem gleichnamigen Album, der sich als König des narzisstischen Pariser Künstlermilieus zur Zeit der Volksfront sieht, ist nur ein Beispiel in der Galerie unangenehmer Zeitgenossen, denen der Franzose bisher Gestalt verliehen hat. Aus dem Titel seines Kinoalbums wiederum scheint eine Sehnsucht nach Abschied und Erlösung zu sprechen. Tatsächlich sind Protagonist und Autor dem Medium weniger durch eine Hass, als vielmehr eine kennerische Liebe verbunden.

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«Pour en finir avec le cinéma» ist das Produkt einer eminent französischen Cinephilie – wo sonst käme jemand auf die Idee, bei einer Grossaufnahme von William Holden aus Wild Rovers an Rembrandt zu denken? Blutch nennt Luc Moullets Essay «Politique des acteurs» als eine wesentliche Inspirationsquelle. Die jahrzehntelange Vertrautheit mit den Rollenbildern eines Burt Lancaster oder Michel Piccoli (der sich im Gegensatz zu seinem US-Kollegen nie als Kumpan anbietet, sondern als fleischgewordene Geschichtsschreibung Frankreichs und des Autorenkinos aufgerufen wird) steht im Zentrum seiner Assoziationen. Mit Ausnahme von Godard, der als Angler in Szene gesetzt wird, dessen Fang sich augenblicklich zersetzt (das Buch steckt voller belastbarer Metaphern), spielen Regisseure eine untergeordnete Rolle.

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Blutchs Beschäftigung mit dem Kino findet auf einer offenkundigen Ebene der Zitate und Verweise, aber auch auf einer verborgenen, strukturellen statt. Das verbindet ihn mit seinem italienischen Kollegen Lorenzo Mattotti. Die Arbeiten der Comic-Künstler umkreisen das Kino, verbinden sich mit ihm zugleich vage und konkret. Sie gehen offensichtliche und geheime Verbindungen mit ihm ein. Die Veranstaltung in Locarno wird dieser Doppelwertigkeit Rechnung tragen. Blutch tritt zunehmend auch als Darsteller in Erscheinung (etwa in Comme un avion oder [art:la-chambre-bleue:La chambre bleue], für den er zudem ein ausdrucksvolles Plakatmotiv gestaltete), Mattotti war als visueller Berater und Szenenbildner federführend an der jüngsten Version von Pinocchio beteiligt. Beide haben Episoden des Animationsfilms Peur(s) du noir inszeniert. Ihrer Hinwendung zum Kino eignet eine je eigene, schöpferische Unbestimmtheit. Exemplarisch zeigt sie sich in Mattottis prominentester Kinoarbeit, den Zwischenstücken des Omnibusfilms Eros. Beinahe könnte man sie als persönlichen Streifzug durch die Geschichte der erotischen Illustration begreifen. Sie muten wie Improvisationen an, die zwischen westlichen und asiatischen Ikonografien schillern. Tatsächlich gehen sie jedoch, im Wechsel der Zeichenstile, Techniken und Materialien, ein intimes Verhältnis zu den Episoden ein. Die dem von Wong Kar-wai inszenierten Segment vorangestellte Passage gemahnt an die Kalligrafie; das Schwenken der Kamera über seine Schwarzweiss-Schraffuren verbindet diese mit der Episode von Steven Soderbergh; die Bedeutung, die das erotische Element des Wassers bei Michelangelo Antonioni haben wird, kündigt sich im letzten Zwischenstück an. In seinen mit Tusche, Wasserfarben oder Kreide gestalteten Intermezzi stellt Mattotti atmosphärische Bindeglieder her.

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Blutch unterhielt seine bislang engste Arbeitsbeziehung zu Alain Resnais. Der Regisseur, zu dessen Markenzeichen seit Providence gezeichnete Filmplakate gehören, lud ihn ein, eigensinnig eine Traditionslinie fortzusetzen, die mit dem skeptischen Realismus von Enki Bilal und der ligne claire von Floc’h begann. In Blutchs surrealistischem Motiv zu Les herbes folles spriessen aus dem Rumpf der zwei Hauptfiguren Gräser empor. Ungeachtet stilistischer Unterschiede folgen auch seine Entwürfe zu [art:vous-avez-encore-rien-vu:Vous n avez encore rien vu] und Aimer, boire et chanter einem gemeinsamen Prinzip des spannungsvollen Vorenthaltens und markieren damit eine Differenz zum Kino, das es sich gemeinhin nicht erlauben kann, das Gesicht des Protagonisten zu verbergen. Blutchs Plakate sind schwebende, hellsichtige Interpretationen. Stets handeln sie von unbestimmten Identitäten. Fast scheint es, als ahnten sie das Verschwinden und den Tod des Regisseurs voraus.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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