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Kevin B. Lee

«Wenn die Medien unsere Denkräume übernommen haben, wie können unsere Gedanken die Medienräume zurückerobern?» Kevin B. Lee fragt sich in einem Videoessay von 2013, wie Montagen aus Bildern, Tönen und Worten zur Subversion medienvermittelter Realitäten beitragen können. Denn, so argumentiert er, die Bilder haben unsere Wahrnehmung und unser Denken überflutet, und die Sprache kann selbst in der Form souveräner Essays in der Tradition von Adorno, Montaigne oder Bacon nicht mehr argumentativ Schritt halten.

Text: Dennis Vetter / 13. Juni 2016

«Wenn die Medien unsere Denkräume übernommen haben, wie können unsere Gedanken die Medienräume zurückerobern?» Kevin B. Lee fragt sich in einem Videoessay von 2013, wie Montagen aus Bildern, Tönen und Worten zur Subversion medienvermittelter Realitäten beitragen können. Denn, so argumentiert er, die Bilder haben unsere Wahrnehmung und unser Denken überflutet, und die Sprache kann selbst in der Form souveräner Essays in der Tradition von Adorno, Montaigne oder Bacon nicht mehr argumentativ Schritt halten. The Essay Film: Some Thoughts of Discontent nennt er die Arbeit und lotet darin aus, was den essayistischen Film vom dokumentarischen unter­scheidet, warum der Essayfilm kein Genre sein darf, sondern wechselnde Gesten des ästhetischen Widerstands formulieren muss. Anhand klassischer Beispiele des essayistisch geprägten Kinos (etwa anhand von Joris Ivens, Jean Vigo, Jean-Luc Godard, Patricio Guzmán, Agnès Varda, Alain Resnais) versucht er sich an einer Verhandlung avantgardistischer Strategien, um sich einer zeitgemässen Sprache der Filmkritik anzunähern: Wenn das erzählende Kino zur Manipulationsmaschine geworden ist, wie sieht dann eine Alternative aus? Sein Vorschlag: «Gedanken als Geschichten. Bewusstsein als Spektakel. Ideen als Stars. Der Film als Porträt des Geistes.»

Das Videoessay hat sich für den Filmkritiker und Filmemacher zum wesentlichen Modus seines Arbeitens und Lehrens entwickelt. Seit 2007 setzt Lee sich mit dem Format praktisch auseinander und initiiert im Zuge seiner rund 250 Versuche die Keyframe-Sektion des US-Filmportals Fandor, wo er heute wöchentlich veröffentlicht. Zudem erscheinen seine Arbeiten in «Sight & Sound» und bei «Press Play» von «Indiewire». Auch das New Yorker Museum of Moving Image schenkte ihm Beachtung, und mit seiner ausführlichen Kritik am Blockbuster-Marketing in Transformers: The Premake gelang ihm via das Filmfestival in Rotterdam die Rückkopplung an die Leinwand. Lee nutzt Versatzstücke des Gegenwartskinos und der Filmgeschichte, um die Mechanik des Films sowie dessen Kontexte und Potenziale didaktisch erfahrbar und nachvollziehbar zu machen. In seinen Betrachtungen hat er zu einer spezifischen Handschrift gefunden, die technische Raffinesse mit einem feinen philosophischen Gespür verbindet. Das distanzierte und genaue Observieren, die kritische Empathie, die Kevin B. Lees Arbeiten innewohnt, entzaubert gleichermassen die Maschinerie des grossen Sehens und vermag doch die Faszination der betrachteten Filme nicht zu mindern, vielleicht potenziert sie sich sogar in der Erkundung ihrer Komplexität.

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«Ästhetik der Analyse» nannte das Österreichische Filmmuseum im vergangenen April eine erste Werkschau zu Lees Schaffen und damit auch eine der ersten Retrospektiven, die das Videoessay als substanzielle filmische Form mit eigenen stilistischen Koordinaten konzentriert im Kinosaal betrachtete. Die Programme orientierten sich über Autorentheorie, Kinosoziologie und Medienphilosophie an drei Kategorien, die die Gestalt aktueller Videoessays prägen und insbesondere seit rund zehn Jahren mit Sorgfalt und Vielfältigkeit erkundet werden. In Lees Arbeiten finden sich all diese Facetten. Wenn er detaillierte Betrachtungen von Stilelementen einzelner Filmemacher wie Steven Spielberg (Grossaufnahmen und Mimik) oder Paul Thomas Anderson (Plansequenzen) ausarbeitet. Wenn er die zyklischen Plotstrukturen bei Hong Sang-soos The Day He Arrives mit der Schnittsoftware bis ins Detail visualisiert und in ihren allegorischen Konsequenzen offenlegt. Wenn er Materialität und Technik des essayistischen Arbeitens mit Bewegtbildern am Beispiel von Harun Farockis Interface erläutert und sein Essay daran anknüpfend Interface 2.0 nennt – viel mehr als Fortsetzung von Fragestellungen des Kinos denn als Antwortvorschlag. Er lässt Farocki selbst sprechen: «Vielleicht ist dieser Schnittplatz ein Geheimschreiber oder eine Dechiffriermaschine. Geht es darum, ein Geheimnis zu enträtseln oder zu bewahren?»

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Geheimnisse scheinen sich heute gleichermassen in der Evolution und der Zirkulation des Bilds zu verbergen. Video, darunter ist die demokratische Verbreitung des Bilds über alle verfügbaren Trägermedien zu verstehen, die Verselbständigung von Diskursen, Geschmackskulturen, das Erscheinen von Fandom, Bootleg und Kult, die Infragestellung von Präsentationsformen und klassischen filmischen Ökonomien. Video, das heisst Zugang. Und Zugang bringt ein Potenzial der Relativierung ästhetischer Hegemonien mit sich. Neben Kevin B. Lee nutzen mittlerweile zahlreiche Kolleginnen und Kollegen das Format des Videoessays, um sich den gegenwärtigen Routinen der Bildsozialisation auf neue Art und Weise schlagfertig zu nähern. Catherine Grant etwa oder Tony Zhou, Adrian Martin und Cristina Álvarez López oder Matt Zoller Seitz – es findet sich eine Vielzahl bereits etablierter Stimmen. Sie tummeln sich online, bei Reverse Shot, Nofilmschool, Cinentransit, im MUBI Notebook oder um die etablierten Grassroots-Plattformen (empfohlen sei etwa die Audiovisualcy-Gruppe bei Vimeo). Doch noch immer ist das Format eine US-Domäne. In Europa geschieht hier nur behutsam Pionierarbeit. In Rotterdam fordert Dana Linssen die «Critics Choice»-Kolleginnen und -Kollegen heraus, mit Videobeiträgen Filme zu präsentieren. Im deutschsprachigen Raum finden sich neben Michael Baute (www.kunst-der-vermittlung.de) oder Volker Pantenburg kaum wiederkehrende Namen. Beide kooperierten mit Lee für das Projekt «Film Studies in Motion», das 2012 in Oberhausen diskutiert wurde.

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Das Videoessay als neu erstarkende filmische Form und gleichermassen als sichtbare kulturpolitische und intellektuelle Produktionsmethodik ebnet ein hierarchisches Verhältnis und lotet in seiner analytischen Schärfe vor allem eines aus: Intentionalität. Es ist die Dialektik von Mittel und Zweck, die Angemessenheit von Verhältnissen, die es mit überzeugenden Mitteln abzuwägen gilt, zur Schärfung der Betrachtungsweisen von Realitäten. Was könnte hierfür geeigneter sein als deren Erscheinungsbilder?

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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