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Institute of Incoherent Cinematography (IOIC), Zürich

Das Institute of Incoherent Cinematography ist eine Plattform, die Stummfilme mit zeitgenössischer Livevertonung an wechselnden Orten zeigt. «Institut» unterstreicht den seriösen, forschenden Grundzug des Projekts, «Inkohärenz» steht für die Freude am Experimentieren, am Risiko und Abenteuer.

Text: Kristina Köhler / 01. Mär. 2017

In seinem gleichnamigen Film von 1904 schickt Georges Méliès eine Gruppe Wissenschaftler auf eine «Reise durchs Unmögliche». Mit Fernrohr und Landkarte ziehen der Ingenieur Mabouloff und seine Kollegen von der «Société de Géographie Incohérente» durch die Alpen, zur Sonne und durch bizarre Unterwasserwelten. Alles, was sie antreffen, vermessen und bestaunen sie neugierig.

Was für die Wissenschaftler aus Méliès’ Film die Landschaft, ist für Pablo Assandri und Martin Boyer die Filmgeschichte. 2011 haben sie das Institute of Incoherent Cinematography gegründet, eine Plattform, die Stummfilme mit zeitgenössischer Livevertonung an wechselnden Orten zeigt. Der Name ist nicht zufällig an Méliès’ Forschergruppe angelehnt: «Institut», das unterstreicht den seriösen, forschenden Grundzug des Projekts, «Inkohärenz» steht für die Freude am Experimentieren, am Risiko und Abenteuer.

In einem Keller der Zürcher Hausbesetzerszene hat es vor gut sieben Jahren angefangen: Im dortigen Filmclub zeigten Pablo und Martin nächtelang Filme am Stück. Aus dem cinephilen Liebhaberprojekt entstand der Stummfilmmarathon, ein mehrtägiges Festival, bei dem durchgehend von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens Stummfilme zu einem Thema – wie «Weiblichkeit», «Abenteuer» oder «Liebe» – zu sehen sind. Die Zuschauer können kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, zwischen den Filmen etwas essen und bleiben, bis die Augen zufallen.

Die Veranstaltung hat nicht mehr viel mit einem klassischen Kinobesuch zu tun; sie präsentiert sich als Mischung aus Filmfestival, Konzert und Happening. Das ist durchaus so gewollt, sagt Pablo Assandri. Ziel sei es ja gerade, ein Publikum anzusprechen, das sich sonst nicht für Stummfilme interessierte. Das Konzept geht auf; jedes Jahr besuchen acht- bis neunhundert Zuschauer den Stummfilmmarathon.

Markenzeichen des IOIC sind die sorgfältig zusammengestellten Filmprogramme mit einem Hang fürs Entlegene, Kuriose und Überraschende; wichtig ist zudem, für jeden Film die «passenden» Musiker zu finden. Sie sollen den Film in Klangfarbe, Dynamik und Stimmung unterstützen – oder auch gezielt herausfordern. Über die Jahre hat das IOIC mit über 400 Musikern zusammengearbeitet, darunter Künstlerinnen wie Tim & Puma Mimi oder Evelinn Trouble. Besonders spannend findet Pablo, Musiker anzufragen, die noch gar keine Erfahrung mit Stummfilmen haben. Solche Konstellationen des «ersten Mals» steigern den Zauber der Improvisation; dann, so Pablo, passiere häufig etwas Neues.

Mit ihrer Vorliebe für experimentelle Versuchsanordnungen müssen die Macher des IOIC häufig selbst Improvisationskünstler sein – etwa was die Filmtechnik und die Beschaffung der Filmkopien angeht. Je nach technischen Möglichkeiten wird mal eine seltene 16-mm-Filmkopie auf einem historischen Filmprojektor vorgeführt; mal geht es nicht anders, als den Stummfilm per Beamer von DVD zu projizieren. «Uns hätte es ohne den Digitalisierungsschub nicht gegeben», gibt Pablo Assandri zu bedenken.

Seit ein paar Jahren hat das IOIC einen festen Sitz in Zürich: Das «Institut», im Dachgeschoss einer Remise an der Elisabethenstrasse, bietet mit seinen fünfundzwanzig Kinosesseln und fünfzehn Klappstühlen einen Kinoraum für experimentelle Filmvorführungen mit Jazzkonzerten oder Tanzperformances. Doch das eigentliche Prinzip des IOIC bleibt das Vagabundieren – wer das Filmprogramm verfolgen möchte, muss sich in Bewegung setzen. Häufig ist das IOIC an etablierten Kino- und Kunstorten wie dem Filmpodium Zürich, dem Kunstraum Walcheturm oder dem Filmfestival Locarno zu Gast; mitunter gerät man durch die Filmvorführungen aber auch an ungewöhnliche Kino-Orte: in ein Restaurant, eine Badi, ein Pornokino.

Alle paar Jahre unternimmt das IOIC selbst eine grössere Reise. 2012 und 2014 tourte das Team mit einem Stummfilmprogramm durch China. Die nächste Reise soll nach Afrika führen: In den 1920er-Jahren flog der Schweizer Luftfahrtpionier Walter Mittelholzer von Zürich nach Kapstadt und dokumentierte seine Reise in Filmaufnahmen. Für 2018 plant das IOIC ein Reenactment dieser Reise, auch als kritischen Beitrag zur Geschichte der «kolonialen Schweiz»: Mit einem Wasserflugzeug – Musiker, Filmtechnik und Filme an Bord – soll die Flugroute in umgekehrter Richtung abgeflogen werden, um Mittelholzers Filme an verschiedenen Stationen aufzuführen, live vertont durch Musiker aus der Schweiz und aus Afrika. Verwegen, fast schon wahnwitzig mutet das Projekt an – aber genau das ist es ja, was das IOIC mit Méliès verbindet: die Vision, dass das Kino «Reisen durchs Unmögliche» möglich machen kann.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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