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Loveless1b

Fast wundervoll

Text: Tereza Fischer / 19. Mai 2017

Wenn Sie der Mann am Eingang mit offenen Armen empfängt, will er Sie nicht herzlich begrüssen oder Ihnen dazu gratulieren, dass Sie fast eine Stunde in der prallen Sonne ausgeharrt haben und nun endlich in den Kinosaal eintreten dürfen. Er will bloss, dass Sie es ihm gleichtun und die Arme ausbreiten, damit er Sie mit seinem Scanner abtasten kann. Die Kontrollen in Cannes sind streng und engmaschig. Oft wird man gleich mehrmals hintereinander gescannt. Das ginge ja noch, auch dass man keine Getränke in den Saal bringen darf, aber dass man uns auch noch die Sonnencrème wegnimmt, die eigentlich überlebenswichtig ist, das ist schon unangenehm.

Loveless2b

Im besten Fall wird man ja dafür mit einem wundervollen Film belohnt. Im Fall von Andrej Swiaginziews (Die Rückkehr, Elena, Leviathan) erschütternder Analyse der russischen Gesellschaft Neljubow (Loveless) war dies der Fall. Die Eltern des 12-jährigen Alexej streiten sich unentwegt, unter anderem darüber, wer sich um das Kind – erst als es schon zu spät ist, nennen sie ihn überhaupt beim Namen – kümmern soll. Dass Alexej all dies in seinem Zimmer mitbekommt und an diesem Fehlen von Liebe zugrundegeht, gehört zu den ergreifendsten Szenen. Beide Eltern stecken bereits in neuen Beziehungen. Der Vater, dessen religiöser Arbeitgeber Angestellte mit intakten und kinderreichen Familien will, hat bereits die nächste Frau geschwängert. Dass er auch dieses Kind nicht lieben wird, ist die bittere Erkenntnis am Ende des Films. Die Mutter hat sich einen reichen Mann geangelt, mit dem sie die Nächte verbringt. In einer der Nächte, in der beide Eltern mit der Erfüllung ihrer Liebesbedürfnisse beschäftigt sind, verschwindet Alexej.

Was als ein dialogintensiver Film begann, wird ruhiger und immer stiller auf der Suche nach dem Kind, von dem jede Spur fehlt beziehungsweise sich schliesslich im Nichts verliert. Man ahnt Böses, das hat sich in den allerersten Einstellungen als unheilvolle Vorahnung in Bildern kristallisiert, die eine Landschaft voller Leere und Kälte zeigen.

Was Swiaginzew meisterhaft in die Bilder eingraviert, ist die Unmöglichkeit zu kommunizieren, das Desinteresse für die Bedürfnisse des anderen. Diese Unfähigkeit wird von Generation zu Generation weitergegeben. Obwohl am Ende ein Fernsehbericht über den Ukrainekonflikt die Geschichte symbolisch als ein gesellschaftliches Problem definiert, schafft es der russische Regisseur in Alltagszenen und mit einer übersichtlichen Gruppe von Figuren das Thema unterschwellig mitlaufen zu lassen. Unauffällige langsame Kamerabewegungen in den langen Einstellungen verändern schleichend die immer beklemmender werdende Atmosphäre.

Wonderstruck1b

Die beiden folgenden Wettbewerbsbeiträge waren ganz und gar nicht wundervoll, obwohl beide ein Wunder ins Zentrum ihrer Geschichten stellen. Todd Haynes (Carol) erzählt in Wonderstruck von zwei tauben Kindern. 1977 wird Ben nach dem Unfalltod seiner Mutter durch einen einschlagenden Blitz des Gehörsinns beraubt. Er rennt von seinem Zuhause bei der Tante weg, nach New York, wo er seinen ihm unbekannten Vater zu finden hofft. Fünfzig Jahre zuvor macht sich auch die taubstumme Rose nach New York auf, um bei ihrer berühmten Mutter Liebe zu finden. Vergeblich, wie sich heraustellen wird. Die beiden Handlungsstränge werden alterniert und immer stärker visuell und auf der Handlungsebene miteinanderverwoben. Bei Haynes gerät die visuelle Unterscheidung zu einer Hommage an die jeweilige Zeit, und insbesondere im Rose-Strang bestimmt die Verneigung vor der Erzählkunst der Stummfilme die Gestaltung. Während zu Beginn dieses Hin-und-her-Springen durchaus anregend ineinandergreift und insbesondere durch elaborierte Tonbrücken in eine dialogische Beziehung gerät, verliert sich diese Spannung immer mehr und muss einer verzückten Konstruktion eines Zufalls weichen. Es wird sich denn herausstellen, dass Rose Bens Grossmutter ist. Die Vereinigung der beiden am Ende des Films fällt entsprechend pathetisch aus. Haynes konnte der verklärten Geschichte von Brian Selznick (Drehbuch zu Scorseses Hugo, das zahlreiche thematische Parallelen zu Wonderstruck aufweist) offensichtlich zu wenig entgegensetzen, auch wenn der Umgang mit Ton Beachtung verdient.

Wonderstruck2b

Im Zentrum von Jupiter’s Moon des Ungarn Kornél Mundruczó steht mehr als ein Zufall, sondern ein wahres Wunder: Als der syrische Flüchtling Aryaan an der ungarischen Grenze angeschossen wird, stirbt er nicht wie erwartet, sondern wird in die Luft emporgehoben. Fortan kann er die Levitation immer besser steuern. Der (nach einer missglückten Operation) gefallene und korrupte Arzt wittert eine Chance, mit Aryaans Hilfe mehr Geld mit reichen Kranken zu verdienen und verspricht dem Flüchtling dafür viel Geld. Im Laufe des Films entwickelt sich aus diesem Missbrauch eine echte Freundschaft zwischen den beiden.

Gehalten sind viele Szenen in Gelb- und Grüntönen, die alles in eine ungesund anmutende Stimmung tauchen. Die ungarische Gesellschaft erscheint hier von Korruption, Selbstsucht, Völlerei und mangelnder Empathie zerfressen. Die Parabel ist leider in die Länge gezogen und mäandriert scheinbar unkoordiniert zwischen Drama, Satire und Actionfilm (mit einer zugegebenermassen exquisiten Autoverfolgungsjagd). Der Film endet mit einer ersten kleinen Erleuchtung der ungarischen Bevölkerung, die endlich die Augen hebt und den «Erlöser» über sich schweben sieht.

Jupiters moon1

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