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Vive la France

Text: Tereza Fischer / 24. Mai 2017

Von den 20 Wettbewerbsfilmen stammen 6 aus französischer Produktion. Vive la France, kann man da nur sagen und sich fragen, warum in der Heimat des Cannes-Festivals so viele hervorragende Filme entstehen, die es in den Wettbewerb schaffen. Im Fall von Michael Hanekes Happy End und Roman Polanskis D’après une histoire vraie handelt es sich zwar um Koproduktionen und bei den beiden Regisseuren nicht um gebürtige Franzosen, aber beide arbeiten seit langem in Frankreich und mit französischen Stars. Man darf sie also getrost zum französischen Line-up zählen.

Unter den bisher gezeigten Beiträgen gehört einer der besten, aber auch der schwächste zu den französischen Filmen. Während Robin Campillos 120 battements par minute als einer der Anwärter auf die Palme d’or gehandelt wird, hagelte es für den gestern gezeigten Rodin von Jacques Doillon Ein-Stern-Kritiken. Man wundert sich beim Letzteren in der Tat, wie es ein Regisseur schafft, eine Geschichte über Leidenschaft derart blutleer und langweilig zu verfilmen, in zugegeben schönen Bildern. Der von Vincent Lindon gespielte Auguste Rodin grummelt in erster Linie in seinen dichten Bart und formt, gekleidet in sein Bildhauernachthemd, konzentriert Lehm anhand von lebenden Modellen oder Zeichnungen.

Weder Camille Claudel noch das jahrelange Sich-Abmühen mit Balzacs Statue bringen ihn wirklich in leinwandwürdige Wallungen. Auch die von Izïa Higelin gespielte Camille scheint sich in ihrer Haut nicht wohl zu fühlen. Was insbesondere fehlt, ist eine Körperlichkeit, die sich mit der intensiven Wirkung von Rodins und Claudels Statuen zusammenbringen liesse. Das spröde Schauspiel und die betont undramatische Inszenierung erlaubten also vielen Kritikerinnen und Kritikern einen wohlverdienten Powernap.

Rodin

Als Antithese zum enttäuschenden Künstlerporträt lässt sich 120 battements par minute als Perle hervorheben. Campillo greift auf seine eigenen Erfahrungen bei der Aids-Aktivistengruppe Act-up anfangs der neunziger Jahre zurück. Mit dem damals erst entdeckten und in den meisten Fällen noch tödlichen Virus hatten sich bereits viele junge Menschen angesteckt, insbesondere Homosexuelle, aber auch Patienten durch Bluttransfusionen. Einige von ihnen im zarten Alter von 16, wie die Hauptfigur Sean. Campillo, der mit einer Protestaktion und Organisationssitzungen beginnt, löst ihn über mehrere Szenen hinweg immer mehr aus der Gruppe heraus: Er stellt neben die politische Ebene, den Kampf um die Hilfe der französischen Regierung und Pharmaindustrie, um Information und Anerkennung, die private Ebene: Zwischen Sean und dem Neumitglied Nathan entwickelt sich eine berührende Liebesgeschichte. Obwohl Sean den Virus schon lange in sich trägt, schreckt Nathan davor nicht zurück, und auch als die Krankheit seinen Geliebten immer mehr schwächt, kümmert sich der gesunde Nathan rührend um ihn.

Obwohl Campillo vielleicht ein, zwei Mal zu oft in den Gruppenraum zurückkehrt, in dem die Aktivisten über das richtige Vorgehen diskutieren und um gegenseitiges Verständnis ringen, entfaltet dieser Film eine emotionale Kraft, mit der sich kein anderer Wettbewerbsbeitrag wirklich messen kann. Dem Regisseur gelingt es, auch in den erschütterndsten Szenen, als Nathan Sean durch eine Überdosis Morphium von seinem Leiden erlöst und sich die Gruppenmitglieder danach von ihrem Freund verabschieden, Pathos und Kitsch zu vermeiden. Das Kino war in diesen Minuten dennoch von Schniefen und Sich-Schnäuzen erfüllt.

Der Film sticht nicht nur heraus, weil er engagiert ein sozialpolitisches Thema aufgreift, sondern auch weil er dies weder verklärend noch symbolisch noch ironisch distanzierend tut.

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