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Carlo chatrian 03

«Die Festivals ­müssen ihre Rolle überdenken»

Locarno Festival feiert das 70. Jubiläum. Wir sprachen mit dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian über die diesjährige Ausgabe und über die sich ändernde Rolle von Filmfestivals.

Text: Tereza Fischer / 26. Juli 2017

Filmbulletin Das Locarno Festival feiert dieses Jahr seine 70. Ausgabe, ein guter Anlass, um in die Vergangenheit und in die Zukunft zu schauen. Was ist das grösste Geschenk für Sie?

Carlo Chatrian Das Programm zu gestalten, die Filmschaffenden einzuladen und zusammen das Kino zu feiern, das ist für mich jedes Jahr ein riesiges Geschenk. Das Locarno Festival hat eine grossartige Geschichte. Da ich mich doch für einen jungen Menschen halte und auch das Festival einen jungen Geist haben sollte, möchte ich die Vergangenheit im Jubi­läumsjahr nicht überbetonen, zumindest nicht auf die übliche Art und Weise, wie zum Beispiel mit einem Buch und
einer grossen Retrospektive. Wenn wir zurückschauen, möchten wir daran erinnern, dass Locarno immer ein Ort der Entdeckungen war. Im Programm Locarno70 zeigen wir jeden Tag einen Film aus den vergangenen Jahren, alles Erstlingsfilme. Teilweise von berühmt gewordenen Filmemachern wie Eric Rohmer oder Alexander Sokurow, aber auch von anderen Regisseurinnen und Regisseuren, die wiederentdeckt werden sollten.
Eine andere Art zu feiern und dabei auf die eigene Kinoerfahrung zurückzuschauen, ist der Onlinewettbewerb «Movie of My Life», den wir bereits vor zwei Monaten angestossen haben. Für mich bringt dieses Projekt den Geist von Locarno auf den Punkt: Alle sind ein­geladen mitzumachen. Das Einzig­artige an Locarno ist ja die Mischung von Publikum und den eingeladenen Stars und Filmemachern. Nun ­erhalten wir kurze Videos von unbekannten Menschen, die über den Film erzählen, der ihr Leben verändert hat. Aber wir haben auch Stars gebeten, ein «Movie of My Life» zu drehen. All diese Filme werden nun auf der Website gleichberechtigt nebeneinander präsentiert. Was mich zudem an diesem Projekt interessiert, ist die Frage, wie wir das Internet für mehr als nur Kommunikation nutzen können, nämlich als eine Plattform, auf der wir neue Inhalte schaffen.
Für uns alle ist klar, dass die siebzig­ste Ausgabe auch der Beginn von etwas Neuem sein sollte. Der Wettbewerb «Signs of Life» ist neu, aber auch eine kleine Sektion für Kinder, «Locarno Kids». Ausserdem führen wir eine neue Gesprächsreihe ein, die «Locarno Talks la Mobiliare», bei der es nicht direkt um Filme geht, sondern um den sozialen Kontext, in den Film eingebettet ist. Das diesjährige Thema ist «Heimat». Jenseits des Programms werden die drei neuen Kinosäle die grösste Neuerung sein.

Das Festival schaut mit seinen Retro­spektiven eigentlich jedes Jahr in die Vergangenheit zurück. Wie wählen Sie aus der gesamten Filmgeschichte einen Fokus aus?

Ich würde nicht unbedingt von Vergangenheit sprechen. Wenn wir einen älteren Film zeigen, dann geschieht das im Hier und Jetzt. Unser Leben ist damit verbunden. Aber natürlich ist es ein Unterschied, ob man einen brandneuen Film zeigt oder einen, der bereits etabliert ist, der besprochen und für gut oder schlecht befunden wurde. Es braucht in Locarno beides, neue aus­ser­gewöhnliche Filme und die grosse Filmgeschichte. Nicht unbedingt nur um sie zu feiern, sondern um dem Neuen eine Vergleichsgrösse zu geben. Wenn ich den Fokus auswähle, lasse ich mich in erster Linie von meinem persönlichen Interesse und meiner Lust leiten. Das tönt egozentrisch, aber meine Neugier ist eine notwendige Voraussetzung, ein Ausgangspunkt. Dann ist der Bezug zum Heute wichtig, entweder weil die Filme seit langem nicht mehr so zusammengestellt gezeigt worden sind, oder wegen ihres Stils und ihrer Themen.

Dieses Jahr ist die Retrospektive Jacques Tourneur gewidmet. Welcher Bezug lässt sich zwischen seinen Filmen und der Gegenwart herstellen?

Jacques Tourneur erfüllt für mich alle Punkte, die ich genannt habe: Ich kannte ihn, aber nicht bis ins Letzte. Was mich besonders interessierte, war die sogenannte Horror-Trilogie, die er bei RKO realisierte: Cat People, I Walked with a Zombie und The Leopard Man. Zum anderen ist Tourneurs Umgang mit den Genres interessant, da heutzutage junge Independent-Regisseure vermehrt mit Genres spielen, zum Beispiel mit Musicals und Science Fiction. Wir bekommen viele solcher Filme eingereicht.
Nach der letztjährigen Retrospek­tive zum Kino der jungen Bundes­republik Deutschland lag uns zudem viel daran, wieder einen ganz anderen Aspekt ins Zentrum zu stellen: Zeit­losigkeit. Tourneurs Filme sind zeitlos. Sie entführen uns aus der Rea­lität in eine völlig unwirkliche Welt, die dann aber realer wird als die Wirklichkeit. Und zwar weil unsere Gefühle unmit­telbar und real sind. Tourneur hat sich in seinen Filmen mit Angst in einem existenziellen Sinn beschäftigt. Das verbindet ihn stark mit der Gegenwart, in der wir leben. Für ihn geht es zwar nicht um einen Terrorangriff, aber um etwas, das uns bewegt, das jedoch unbekannt ist.

Experiment perilous

Die siebzigste Ausgabe des Festivals ist gleichzeitig ihre fünfte als künstle­rischer Leiter. In Locarno hat die Leitung in den letzten Jahren mehrmals gewechselt. Was bedeuten diese Wechsel für das Festival, gerade im Gegensatz zu den nicht enden wollenden Herrschaften von Dieter Kosslick in Berlin oder Thierry Frémaux in Cannes?

(lacht) Das sollten Sie den Festivalpräsidenten fragen. Für mich ist es eine Arbeit, die sich Jahr für Jahr neu gestaltet. Ich habe einen Vertrag für ein paar weitere Jahre, aber ich begebe mich jedes Jahr sozusagen in Gefahr. Dieser Job verschlingt sehr viel Energie, und man kann ihn nicht als Routine angehen. Im ersten Jahr denkt man gar nicht darüber nach. Zunächst muss man sich ja beweisen. Nach zwei, drei Jahren geht man jedoch ein Risiko ein, wenn man meint, besser zu verstehen, wie der Hase läuft, und meint, die Kontrolle zu haben. Das ist ein heikler Moment.
Unsere Arbeit besteht darin, für Überraschungen zu sorgen. Bis jetzt macht es mir immer noch sehr viel Spass, und ich arbeite mit einem wunderbaren Team zusammen. Ich selbst erlebe es auch immer noch sehr emotional und bin von den Filmen überrascht, bin neugierig. Ich sehe mich nicht für immer hier, aber wer weiss, wie es am Ende herauskommt.

Wenn wir etwas allgemeiner über Festivals sprechen: Welche Rolle spielen sie in der sich im Moment schnell verändernden Film- und Festivallandschaft?

Das ist eine interessante, sehr komplexe Frage. Die Aufgabe von Festivals war immer schon, neue Fenster für den Markt und das Publikum zu öffnen. Vene­dig war das erste Festival und dann nach dem Zweiten Weltkrieg Cannes und Locarno, dann Berlin, San Sebastián und Karlovy Vary, alle wollten eine Plattform für ein Filmschaffen sein, das nicht einfach so mit der amerikanischen Filmproduktion konkurrieren konnte. Sie wurden zu Orten für Entdeckungen und Wiederentdeckungen. Für Locarno gilt dies ganz besonders: die osteuropäi­schen Neuen Wellen oder die chinesische oder die iranische Welle. Ohne das Festivalsystem hätten sie vielleicht nicht existiert.
Heute ist die Situation viel komplexer. Festivals bilden für die Filme einen Weg ins Kino. Die Filme brauchen ein Festival, das sie an die Oberfläche des riesigen Meeres von Produktionen spült. Die Festivals selbst sind aber fragile Systeme, die um Finanzierung kämpfen und gleichzeitig einen kulturellen Auftrag haben. Das ist ein Span­nungsfeld, und daraus ergeben sich auch bestimmte Risiken, zum Beispiel im Umgang mit den grossen Produktionsgesellschaften und Verleihern. Denn wenn ein Film für 10 ­Millio­nen Dollar gekauft wird, entsteht ein grosser Druck, ihn zu zeigen. Meistens handelt es sich dabei um gute Filme mit grossem künstlerischem ­Potenzial. Aber ein grossartiger Film kann auch mit wenig Geld entstehen. In diesem Fall braucht es einen Ort, an dem der Film anerkannt wird und der ihm Türen öffnet, etwa um von Netflix oder Universal gekauft und vermarktet zu werden. Es geht also darum, das ursprüngliche Ziel der Festivals nicht aus den Augen zu verlieren und Entdeckungen aller Art zu ermöglichen, den Filmen wenn nötig zu helfen, ­einen Markt zu finden, und, wie hier in Locarno, auch neue Möglichkeiten des Storytellings zu fördern.
Ich glaube aber, dass die Festivals heutzutage ihre Rolle überdenken müssen. In Locarno haben wir auf der einen Seite die Gala; wir brauchen ein Fenster für die Stars, denn sie sind durch ihre Anziehungskraft neben dem künstlerischen auch ein wirtschaftlicher Faktor. Und auf der anderen Seite müssen wir uns Raum für freien und neuen künst­le­rischen Ausdruck bewahren. Das geht aber nicht immer mit der populärsten Filmauswahl zusammen. Ich mag diese Extreme, die sich berühren.

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Sie haben Netflix erwähnt, die ­Filme an Festivals erwerben und ­diese damit dem Kino entziehen. Was denken Sie über diese ­Entwicklung des Streamings?

Wir leben in einer sehr aufregenden Zeit. Und die Entwicklung kann man nicht einfach in einem Schwarz­-Weiss-Schema sehen. Netflix produziert grosse Kisten und gibt gleichzeitig unabhängigen Filmemachern viel Geld, zum Beispiel Bong Joon-ho für Okja. Manchmal kauft Netflix auch kleine Filme, unabhängig davon, welche Reichweite sie haben wer­den; in diesem Fall geht es um die Diversifizierung des Angebots. Und manchmal akzeptiert Netflix auch einen Kinostart, neben dem Streaming auf der eigenen Plattform. Amazon funktioniert ganz anders. Da braucht es die Kinoauswertung, um die Kundinnen und Kunden zum Streamingangebot zu bringen. Amazon produziert eher Autorenfilme und ist dabei sehr selektiv. Ein grossartiger unabhängiger Film wie Manchester by the Sea hätte es ohne Amazon nie bis zur Oscar-Kampagne geschafft.
Auf der anderen Seite verändern diese Player auch die Festivallandschaft. Deshalb sagte ich, dass die Fes-
­tivals ihre Funktion im Markt über­­denken müssen. Viel­leicht ist es in Zu­kunft nicht mehr so wichtig, Pre­mie­ren zu präsentieren, der Erste zu sein, der einen Film zeigt. Nehmen wir das Beispiel eines Films, der in Europa im Kino läuft und in den USA nur als Streaming angeboten wird. Wenn dieser Film nun auch noch an einem Festival gezeigt wird, ist das ein Signal, das dabei helfen kann, den Film auch in den USA weiter zu positionieren und zusätzlich auszuwerten. Mehr denn je braucht man in der riesigen Flut von Filmen jemanden, der wichtige Werke hervorhebt. Die Streamingdienste können diese Funktion aufgrund ihrer Geschäftsmodelle nicht erfüllen, die Festivals jedoch schon.

Sie haben dieses Jahr Mubi ins StepIn-Programm des Industrieteils des Festivals eingeladen. Vor ­kurzem lief auf deren Streaming­plattform Lav Diaz’ From What Is Before, der Gewinner des Goldenen Leoparden in 2014. Es ist durchaus frustrierend für ein interessiertes Publikum, das nicht ans Festival reisen konnte, wenn Gewinnerfilme nie ins Kino kommen. Ist Streaming eine gute Möglichkeit, Festiva­lfilme sichtbar zu machen?

Das ist tatsächlich so. Locarno ist ja eine Art Wunder, denn das Festival findet in einer sehr kleinen Stadt statt, wo es für Besucher sehr kompliziert werden kann, sie zu erreichen und eine Unterkunft zu finden. Wir können eigentlich nicht mehr wachsen. Aber es ist uns sehr wichtig, dass unsere Filme gesehen werden: entweder im Kino, auf einer Streamingplattform oder an einem anderen Festival. Ein Film, der in Locarno seine Premiere feiert, hat gute Chancen, an vielen anderen Festivals gezeigt zu werden. Wenn auch Mubi, FestivalScope und andere unsere Filme zeigen, ist das umso besser. Auch wenn es in einem kleinen Land wie der Schweiz teilweise nicht möglich ist, ­einen Film ins Kino zu bringen, bleibt es trotzdem immer mein Ziel.

Wir haben von Veränderungen in der Filmlandschaft gesprochen. Sehen Sie bestimmte Entwicklungen bei den Filmen, die für den Wett­bewerb eingereicht werden?

Das ist schwer zu beurteilen, aber jedes Jahr fällt eine Häufung von Themen auf. Dieses Jahr habe ich viele Science-Fic­ tion-Filme gesehen. Aber ich sehe von den 1800 eingereichten Spielfilmen nur eine Auswahl von vielleicht 600 Filmen, die restlichen werden von meiner Auswahlkommission gesichtet. Die meisten Filme, die bei uns eingereicht werden, sind relativ unaufwendig von kleinen Produktions­firmen gemacht, viele orientieren sich an TV-Formaten, andere wurden in einem amateurhaften Stil realisiert. Das liegt zweifellos daran, dass man Filme heute sehr günstig produzieren kann.

Haben Sie bei der Auswahl manchmal auch Schwierigkeiten mit ­Absagen an Filmemacher, die Sie bereits kennen? Nach welchen Kriterien wählen Sie aus?

Es ist wichtig, eine repräsentative Auswahl zu haben und nicht zehn Mal fast den gleichen Film zu zeigen. Wir wollen ein breites Spektrum. Wenn man eine Regisseurin oder einen Regisseur kennt und ihren respektive seinen Stil mag, ist es einfacher, sich auf den Film einzulassen. Unser Ziel ist es auch, den Filmschaffenden zu helfen und ihre Karrieren zu verfolgen. Beispielsweise wurde ein Regisseur, der bereits zwei Filme in Locarno hatte und mit seinem Kurzfilm auch gewann, mit seinem dritten Film für die Quinzaine des Réalisateurs in Cannes ausgewählt. Er hat mich gefragt, ob ich beleidigt sein würde, wenn er den Film nicht bei uns einreiche. Natürlich nicht, das ist für ihn ein wichtiger Karriereschritt. Andererseits ist es schwierig, Nein zu sagen, wenn man den Produzenten oder Filmemacher sehr gut kennt. Die komplizierteste meiner Aufgaben ist es, Absagen zu formulieren und die Gründe darzulegen. Aber am Ende geht es nicht um eine bestimmte Qualität, sondern darum, etwas Einzigartiges zu finden.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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