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Russisch für Anfänger und Fortgeschrittene

Ein Blick auf den Eröffnungsfilm von «Un certain regard», Donbass des Ukrainers Sergei Loznitsa, und Leto, den Wettbewerbsfilm des Russen Kirill Serebrennikow.

Text: Tereza Fischer / 10. Mai 2018

Gestern Abend wurde die Sektion «Un certain regard» mit Sergei Loznitsas Donbass eröffnet. Thierry Frémaux tat dies auf Französisch; mit grosser Selbstverständlichkeit und auch über heikle Themen scherzend. Dass Kirill Serebrennikow, der russische Regisseur des Wettbewerbbeitrags Leto (Sommer), trotz dringender Anfragen seitens des Festivals nicht in Cannes sein kann, habe Präsident Putin in einem persönlichen Brief damit begründet, dass er nichts tun könne, die russische Justiz sei unabhängig. Auch hat Frémaux, nicht ohne das Gefühl zu hinterlassen, dass sich hier Buddies verabredet hätten, erklärt, warum Loznitsas Film nicht wie letztes Jahr im Wettbewerb laufe: Er sei zu spät für die Auswahl der Wettbewerbsfilme eingereicht worden. Aber da Loznitsa seinen Film unbedingt in Cannes zeigen wollte, eröffne er nun die Nebensektion.

Vor sechs Wochen erst sind die Dreharbeiten zu Donbass zu Ende gegangen. Dass der Film rechtzeitig fertig geworden ist, liegt sicherlich an seiner Form, die minimale Schnittzeit in Anspruch nahm. Denn dass Loznitsa vom Dokumentarfilm kommt und mit Donbass erst seinen vierten Spielfilm präsentiert, ist spürbar. Die langen Sequenzen, oft ohne einen Schnitt und mit bewegter Kamera gefilmt, stellen einen dokumentarischen Gestus aus. Die dreizehn Episoden basieren auf echten Ereignissen, auf Ereignissen, die Sergei Loznitsa später anschauen konnte, denn alle wurden bereits filmisch festgehalten. So sind auch im Film Kameras allgegenwärtig, die des Fernsehens oder die von privaten Mobiltelefonen. Zusammengehalten werden die Episoden dadurch, dass sie in der östlichen Ukraine in den Jahren 2014 und 2015 spielen, und durch eine Wiederholung des Immergleichen in unterschiedlichen Tonarten: es sind Dokumente von aggressionsgeladenen Begegnungen zwischen den vielen unterschiedlichen Gruppierungen, der ukrainischen Armee und ihren freiwilligen Unterstützern sowie den separatistischen Gangs, die von Russland unterstützt werden.

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Ist die Farce zu Beginn noch komödiantisch, verschärft sich der Ton bis zur totalen Eskalation. Zu Beginn etwa werden (Laien-)Schauspieler_innen geschminkt, um danach von einer scharf befehlenden Produktionsleiterin durch ein Gebiet unter Beschuss zu einem explodierten Bus geführt zu werden. Die Kamera bleibt immer dicht an ihren Fersen, während Detonationen und Schüsse zu hören sind. Am Ziel empören sich die Schauspieler_innen vor laufender Fernsehkamera über die Kriegszustände in «ihrer» Stadt. In der am schwersten erträglichen Szenen wird ein Kriegsverbrecher an einen Pfahl gebunden, wo ihn die Passant_innen demütigen und misshandeln und sich dabei gegenseitig immer mehr anstacheln. So entsteht aus der Aneinanderreihung von Episoden das Gefühl für eine Nation, die sich selbst zerfleischt, mittels Korruption, Erpressung, Lynchjustiz und systematischen Morden.

Schauspieler_innen spielen in Donbass oft gleich mehrere Rollen, als seien die Positionen austauschbar. Es gilt jedoch eine Seite zu wählen. Die Verhandlung dieser Positionen verläuft immer aggressiv und in Schwarzweisskategorien. Der Sarkasmus der Situationen stamme aus den wirklichen Begebenheiten, betont Loznitsa. Es ist schade, dass er für Spielfilmmassstäbe die Sequenzen manchmal doch zu lange gestaltet, sodass vieles übertrieben wirkt und die Prägnanz der Satire verliert.

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Der Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrennikow musste seinen Film nicht schnell schneiden, aber er musste es im Hausarrest ohne Kontakt zur Aussenwelt tun. Unter der Anklage, er habe Geld veruntreut, wurde er noch während der Dreharbeiten zu Leto verhaftet. Der Film erzählt die Geschichte des im Westen kaum bekannten Victor Tsoï, der in den frühen Achtzigerjahren in der UdSSR ein Musikidol war. In filigranem Schwarzweiss begegnen sich die beiden Sänger Mike Naumenko, der sich an der westlichen Musik orientiert, und Tsoï, der eine eigene Sprache sucht. Während Naumenko die Texte von Iggy Pop, T-Rex, Blondie, David Bowie und vielen anderen ins Russische übersetzt und den Geist des westlichen Punk und Rock in der Sowjetunion pflegt, singt sich Tsoï mit eigenständigen Popsongs in die russische Seele hinein.

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Der Film vermittelt eindrücklich die Leidenschaft für Musik, die Suche und das Ringen nach einer Popkultur hinter dem Eisernen Vorhang. Wo die westliche Musik verboten ist, wird sie auf Platten und Tonbändern doch ins Land geschmuggelt und nachgespielt und die Idole mit selbstgemalten Plakaten zelebriert. Immer wieder bricht der Film in mitreissende Fantasiemusicalsequenzen aus, die an Musikclips erinnern. In ihnen kann Rebellion stattfinden, können die Trampassagiere ungelenk Iggy Pops «The Passanger» singen oder es kann sich das züchtig steife Konzert in ein wildes Fest verwandeln.

Leto ist ein leidenschaftlicher Film über Freundschaft und ein wichtiges Stück sowjetischer Popkultur.

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