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Bonjour à langage

Der neue Godard? Tereza Fischer hat Mühe mit dem Bildgewitter, das Enthaltsamkeit predigt und selber Überwältigung praktiziert. Dafür hatten die indischen Kollegen einen Tipp parat … Folge 5 der Berichterstattung aus Cannes 2018

Text: Tereza Fischer / 15. Mai 2018

Das Gute am Anstehen vor den Kinosälen, auch wenn es dieses Jahr etwas kürzer ausfällt, ist, dass man mit Journalist_innen aus anderen Ländern ins Gespräch kommt und sich über die gesehenen Filme austauscht. Was ich gestern beispielsweise sehr geschätzt und auch bewundert habe, war das Geständnis eines holländischen Kollegen, dass ihm der allgemein als Wettbewerbsverlierer verurteilte Les filles du soleil eigentlich gefallen habe. Es ist nicht selbstverständlich, sich derart zu exponieren.

Das tue ich jetzt hier auch, wenn ich die grosse Begeisterung für Jean-Luc Godards Le livre d'image nicht teile. Ich schätze zwar die Wucht, mit der er nicht nur den Horror zeigt, der sich in der arabischen Welt abspielt, sondern auch eine Lösung vorschlägt: der Westen solle sich raushalten. Die Art und Weise, wie er dies tut, ist wie gewohnt eine Herausforderung. Man kann sich nicht zurücklehnen und zuschauen, sondern muss über eineinhalb Stunden voll konzentriert bei der Sache sein. Einer Überforderung kann man sich höchstens durch abschalten und einschlafen entziehen. Die Bildschnipsel aus Nachrichten, Youtube, ISIS-Propaganda, Spielfilmen, Kunstwerken, gemischt mit Zwischentiteln und asynchronem Ton müssen auch für die Digital Natives eine Zumutung sein. Man kann die Virtuosität, mit der dies alles verflochten und aufeinander bezogen und kommentiert wird, bewundern, ich kann das alles jedoch nur schwer aufnehmen, geschweige denn in dieser Geschwindigkeit verarbeiten. Godards Kino richtet sich gegen die Überwältigungsstrategien des Mainstreams – und macht eigentlich dasselbe: Es überwältigt.

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Während ein englischer Freund sich sehr ähnlich fühlte wie ich, waren die indischen Kollegen überaus angetan und konnten nicht verstehen, was uns am Werk «meines Nachbarn» (Genf ist ja nur vier Stunden Zugfahrt von Zürich entfernt) nicht gefiel. Während sie von der Radikalität der Form und der Botschaft begeistert waren, fehlte uns die Zugänglichkeit, mit der Godard seine Botschaft einem grösseren Publikum vermitteln könnte; ohne dass selbst Kritiker_innen entweder einschlafen oder die Hände mit einem «Ich kann nicht» verwerfen und von Anfang an auf eine Visionierung verzichten.

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Obwohl wir uns in dieser Angelegenheit nicht einig waren, folgte ich dem Rat der beiden Kollegen aus Delhi, Rohena Geras Sir, der in der Semaine de la Critique läuft, anzuschauen. Die tragische Liebesgeschichte zwischen einer jungen verwitweten Bediensteten und ihrem Arbeitgeber aus einer reichen Familie spielt in Mumbai. In ihrer Heimat auf dem Land ist Ratna, deren Mann schon drei Monate nach ihrer Hochzeit verstorben ist, für immer gebrandmarkt und ans Haus der Schwiegereltern gebunden. In der Stadt darf sie nur arbeiten, weil sie Geld nach Hause schickt. Dort ist sie auch als Bedienstete vergleichsweise frei und darf von einer Karriere als Modedesignerin träumen. Doch die Grenzen zwischen den Schichten sind in Indien heute noch so starr wie früher zwischen den Kasten. Dies macht der Erstlingsfilm von Rohena Gera in herzzerreissender Weise daran deutlich, dass Ashwin seine Bedienstete nicht nur gut behandelt, sondern sich in sie verliebt. Ratna erwidert zwar seine Gefühle, aber sie weiss, dass diese Liebe nicht möglich ist; sie würde immer wie eine Dienerin behandelt werden.

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Obwohl Sir einfach konstruiert ist, überzeugt insbesondere Tillotama Shome als Ratna. Man kann leicht nachvollziehen, was Ashwin in ihr sieht. Für das indische Publikum wird diese zaghafte Annäherungen zwischen den beiden radikaler sein als für westliche Zuschauer_innen. Doch andererseits bietet sie uns nebst der bittersüssen Liebesgeschichte, die in ein Happy End mündet (wenn auch nicht in einem gemeinsamen), ein eindrückliches Bild der modernen indischen Gesellschaft, deren Mitglieder in sehr unterschiedlichen Parallelwelten leben.

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