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«Keine Regeln, viele Zweifel»

Kaleo La Belle (Fell in Love with a Girl) und Luc Schaedler (A Long Way Home), zwei Regisseure mit ganz unterschiedlichen Handschriften, diskutieren über dieselben fundamentalen ethischen Fragen, die sie beim Machen ihrer Dokumentarfilme ­beschäftigen: über die Verantwortung gegenüber ­Per­sonen und die Treue zur eigenen Vision, über die ­Gefahren der Macht und den Verlust von Kontrolle.

Text: Till Brockmann / 19. Juni 2018

Wir erhoffen uns vom Dokumentarfilm zumeist so etwas wie grösstmögliche Authentizität und Realitätsnähe. Aber auch die Personen vor der Kamera erwarten vom Regisseur, dem sie sich anvertrauen, dass sie fair behandelt und nicht blossgestellt werden und wie im wirklichen Leben wirken. Diese Forderungen allein bauen schon einigen moralischen Druck auf. Daneben möchte man nicht nur ein informatives und aufschlussreiches, sondern auch spannend erzähltes und emotional bewegendes Werk schaffen.
Filmbulletin hat zwei Schweizer Filmemacher eingeladen, um über Kunst und Moral, Ethik und Ästhetik in ihrem persönlichen wie auch im allgemeinen Dokumentarfilmschaffen zu sprechen. Bewusst wurden mit Luc Schaedler ([art:1394]) und Kaleo La Belle ([art:1395]) zwei Regisseure eingeladen, die ein sehr unterschiedliches Œuvre aufweisen.

Luc shooting 4 liu xiaobo

Filmbulletin: Wenn man von Ethik im Dokumentarfilm spricht, redet man unweigerlich über Verantwortung. Welche besondere Verantwortung spürt ihr – die ihr zumindest thematisch sehr unterschiedliche Filme dreht – als Filmemacher?

Luc Schaedler: In meinem Fall ist es ja so, dass ich oft in China gearbeitet habe, in einer Diktatur. Da lautet die erste grundlegende Frage bereits: Geht das überhaupt? Eines der Machtin­strumente der Diktatur ist Willkür. Die Menschen wissen nie genau, woran sie sind, und es könnte immer negative Konsequenzen für sie haben, allein weil sie bei meinem Film mitmachen. Bringe ich also die Leute, bevor sie überhaupt etwas gesagt haben, schon in eine schwierige Situation? Auch als Produzent muss man sich überlegen, ob man diese Verantwortung übernehmen will, das geschieht schon bei der Ein­gabe um Finanzierung.
Wenn ich dann mit den Menschen vor der Kamera ins Gespräch komme, gibt es zwei sensible Bereiche. Erstens die politische Dimension: Welche Themen soll ich da berühren? Das ist eine Verantwortung für und mit den por­trätierten Personen. Die zweite Ebene betrifft die Beziehung, die ich mit ihnen während der langen Drehphase eingehe, dieses persönliche Verhältnis, das sich unweigerlich etabliert. Meine Protagonistinnen und Protagonisten geben oft Sachen aus ihrer Privatsphäre preis, die sie mir in Freundschaft erzählen. Man hat dann die Verantwortung, diese Intimität nicht auszubeuten. Diese Problemkreise tun sich schon während der Recherche auf, denn ich muss den Leuten schliesslich offenlegen, wie ich mit ihnen arbeiten, wie nahe ich an sie rankommen will. Ich bin ja kein Reporter einer Fernsehanstalt, der kurz vorbeischaut und in zehn Minuten sein Interview im Kasten hat.

Kaleo La Belle: Es geht nicht nur um Verantwortung, sondern auch um Schutz. Wie weit bist du bereit, die Personen vor sich selbst in Schutz zu nehmen oder eben nicht? Oder anders gefragt: Wann schützt du deinen Film und wann die Menschen? Manchmal braucht es eben auch kritische Szenen, sonst funktioniert der Film nicht. Du musst auch bereit sein, das Kunstwerk in Schutz zu nehmen. Das ist für mich eine grundlegende Frage, die noch weiter als die der Verantwortung geht. Ich habe mich schon oft damit beschäftigt, wie ich das Konzept eines Films verwirklichen kann, ohne jemanden zu missbrauchen…

Das ganze Gespräch können Sie lesen in der Printausgabe von Filmbulletin.
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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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