Im Kino bilden wir für die Dauer eines Films mit allen anderen, die mit uns im Saal sitzen, eine Gemeinschaft. Ob unserer Faszination für das, was auf der Leinwand geschieht, drohen wir mitunter zu vergessen, dass der Film nicht nur zwischen seinen Bildern und uns eine Verbindung herstellt, sondern auch zwischen uns und unseren Mitmenschen. Kino war und könnte es auch weiterhin sein: eine gemeinsame Sache, über die wir uns miteinander verständigen. Das jedenfalls war auch die Hoffnung, die mit dem Jahr 1968 verbunden ist: dass eine gerechtere Gesellschaft möglich ist und dass es Dinge gibt, für die man gemeinsam kämpft. Dabei wurde der politische Kampf von 1968 massgeblich auch vom Kino begleitet, vorbereitet und reflektiert, wie in der Chronik Das Jahr, das nie zu Ende ging – 1968 und das Kino von Gerhard Midding nachzulesen ist. Im Kino werden neue Lebensentwürfe vorgeführt, lange bevor man auf den Strassen für sie demonstriert. Die Hoffnungen dieser Jahre – jene, die sich erfüllt haben ebenso wie die unerfüllten – treiben das Kino bis heute um.
Möglichkeiten der Gemeinschaft ist denn auch das grosse Thema im Werk des Hollywoodregisseurs Leo McCarey, wie Elisabeth Bronfen in ihrem Essay Leo McCarey aufzeigt. Der Regisseur, dem die Retrospektive des diesjährigen Filmfestivals von Locarno gewidmet ist, hat in ganz unterschiedlichen Genres brilliert, im Slapstick ebenso, wie im Melodram und der romantischen Komödie. Doch macht es sich zu einfach, wer in McCarey deswegen nur einen geübten Allrounder sieht. Und auch das allzu simple Bild des konservativen Kommunistenjägers, dessen politische Überzeugungen gegen Ende seiner Karriere zu paranoidem Propagandakino geführt haben, hält der genauen Lektüre nicht stand. Vielmehr entpuppt sich McCarey als Philosoph, der das amerikanische Projekt einer neuen Gemeinschaft, in der Rassen- und Klassenschranken überwunden und Geschlechterverhältnisse neu verhandelt werden können, immer wieder neu zu denken versucht.
Gibt es die Gemeinsamkeit eines spezifisch weiblichen Blicks, so fragt sich Tereza Fischer in Bodies and Souls – Weibliche Visionen im neueren Kino, dem dritten grossen Essay dieser Ausgabe und macht dabei verblüffende Entdeckungen in der Bildsprache zeitgenössischer Filme von Frauen. Das Kino von Regisseurinnen wie Andrea Arnold oder Clio Barnard, Laura Bispuri oder Lynne Ramsay ist ein betont körperliches, das die Beteiligung aller Sinne fordert. Dass es Filme von Frauen gleichwohl schwer haben, in der von Männern dominierten Filmindustrie mehr Sichtbarkeit zu erlangen, ist darum nicht nur unfair, sondern vor allem ein immenser Verlust für das Kino als gemeinsamen Erlebnisraum.
Gemeinsamkeiten aufzuzeigen zwischen verschiedenen Filmen, aber auch zwischen Kinogeschichten und Gesellschaftsthemen und zwischen verschiedenen Wahrnehmungsformen – das ist eine der Leistungen unserer Zeitschrift. Eine Leistung, die umso wichtiger ist in Zeiten, in denen zwar alle von Vernetzung sprechen, sich dabei aber allzu oft nur noch in ihren je individuellen Interessengebieten bewegen. Resultat unseres Interesses für Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kunstformen ist auch die neue Rubrik «Standbild», in der die Kuratorin und Direktorin des Fotomuseums Winterthur, Nadine Wietlisbach, unseren filminteressierten Blick auf zeitgenössische Fotografie lenkt.
Wir wünschen viele gemeinschaftliche Entdeckungen – auf der sonnigen Piazza von Locarno, der kühlen Halle des Museums, im dunklen Kinosaal und in diesem Heft.
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