Es ist eine Szene voller Leid und Schmerz. Wir sind mit dem Kriegsfotografen James Nachtwey im Kosovo kurz nach dem Ende des Kriegs. Vor einem heruntergekommenen Haus versammeln sich etwa ein Dutzend Menschen. Die Frauen weinen, schreien ins Leere. Die Männer stehen mit versteinerten Mienen daneben. Eine Spiegelreflexkamera schiebt sich ins Bild. Die Perspektive ist ungewöhnlich, in der Unschärfe liegt der Sucher, davor das Objektiv – wir als Zuschauer_innen treten damit als Kameraperson mitten in die trauernde Gemeinde.
Beschrieben ist eine Szene aus Christian Freis War Photographer von 2001, deren immersive Kraft viel früher technisch nicht möglich gewesen wäre. Frei montierte eine Minikamera auf die Spiegelreflex des Kriegsfotografen James Nachtwey. «Ruiniert ihr mir ein Bild, beende ich die Zusammenarbeit», habe Nachtwey vorab klargestellt, erinnert sich der Filmemacher an der diesjährigen Dokumentarfilmtagung ZDOK. Also habe er nach einer Lösung gesucht, um dennoch nah heranzukommen. GoPros oder vergleichbare Technik gab es 2001, als er den Film produzierte, noch nicht. Schliesslich entwickelten Tüftler aus Zürich für Frei eine Kamera so klein und leicht, dass sie wie ein zusätzlicher Blitz auf dem Apparat des Kriegsfotografen installiert werden konnte. Näher hätte Frei nicht an diesen Protagonisten herankommen können. Näher als dieser Protagonist wäre Frei und somit die Zuschauer_innen nicht in diese Krisengebiete gekommen. Es sind die Einschränkungen, die den Dokumentarfilmer inspirieren. Not macht erfinderisch, so heisst es doch.

Im März trafen sich Filmemacher_innen und Kameraleute zur jährlichen Dokumentarfilmtagung ZDOK an der Gessneralle in Zürich. Während zwei Tagen drehten sich Referate und Podiumsdiskussionen um Einstellungen, Perspektiven und Kamerapositionen im Dokumentarfilm. Neben Frei und anderen sprachen auch die Kamerafrau Kirsten Johnson, BBC-Produzent Mike Gunton oder Filmwissenschaftlerin Kerstin Sutterheim. Zwischen den Zeilen klang dabei immer wieder die Gretchenfrage heraus: Wie und wie weit bringt die Kameraperson anspruchsvolle Situationen unter Kontrolle? Die geladenen Filmschaffenden diskutierten über Haltung und Verantwortung, die sie gegenüber ihren Protagonist_innen einnehmen. Ob respektvolle Zurückhaltung oder abgesprochene Inszenierung bleibt schliesslich eine Stilfrage. Die Beziehung zwischen der Person vor und jener hinter der Kamera entscheidet in jedem Falle über das Gelingen des Projekts. Dabei funktioniert die Kamera als Scharnier zwischen den beiden Akteuren. Gut geölt, öffnet es darüber hinaus auch dem Publikum die Tür, lässt es eintauchen in eine unbekannte Welt. Für diese Nähe und Intimität zu Protagonist_innen, aber auch den Zuschauer_innen entwickeln Filmschaffende seit jeher ihr Equipment weiter. Nicht selten sind es die Kameraleute selbst, die aus der Situation heraus oder in jahrelanger Forschung entsprechende Lösungen erarbeiten. «Dokumentarfilmer_innen», so hiess es denn auch gleich im Eröffnungspodium, «sind Erfinder»

Kerstin Stutterheim forscht an der University of Bournemouth, GB, zum «geliebten Kino», wie sie den Namen der ersten richtigen Handkamera «Kinamo» übersetzt. Eine Feder, die wie beim Aufziehen einer Spieluhr spannt, transportiert den 35-mm-Film fünfzehn Meter weit. Fünfzehn Meter Filmaufnahmen ohne Stativ und ohne Wackler durch das manuelle Kurbeln – das war zu Beginn der 1920er Jahre ein Fortschritt, an dem der russisch-israelische Chemiker, Techniker und Erfinder Emanuel Goldberg jahrelang unter anderem gemeinsam mit dem Schweizer Martin Rikli tüftelte. Goldberg erfand die Kamera, die den Dokumentarfilm unmittelbar und spontan machte. Um nun bei seinen eigenen Filmen selbst im Bild sein zu können, entwickelte er zudem einen simplen Selbstauslöser. Anstelle eines digitalen Zeichens signalisierte ein Zettel, zuvor in den Mechanismus geklemmt, herunterfallend den Aufnahmebeginn. Gelegentlich vermisse sie solchen Humor unter Filmemachern, schmunzelt Stutterheim während ihres Referats. Goldberg nahm seine Kinamo auch mit in die Berge und filmte unter dem Titel «Ein Sprung … Ein Traum» während eines Schanzensprungs auf Skiern: «Herr Professor Goldberg froh, schafft den Schlager Kinamo, fährt auf Skiern gern spazieren, liebt das Kinematographieren.» In diesem Sinne kann man die Kinamo als Vorfahre der Actioncam sehen.

Technik kann heute alles – und alle können Technik. Zumindest liegt in jeder Tasche in Form eines Smartphones eine Kamera und Drohnen überfliegen schon für kleines Budget unwegsame Gelände. Inzwischen gibt es die Minikameras, die Christian Frei für den Film über den Kriegsfotografen erst erfinden musste. Die Werkzeuge sind da, um genutzt zu werden. Dieser pragmatischen Annahme stand während der ZDOK in zahlreichen Randbemerkungen auch Skepsis gegenüber: Technik verkomme in ihrer Allgegenwärtigkeit zur Spielerei, klagten Filmemacher_innen, die sich eben noch mit ihren kreativen Tüfteleien brüsteten. Filme werden zu Clips, hochgeladen in den sozialen Netzwerken, statt auf Leinwände projiziert. Die technischen Möglichkeiten verleiten zur Effekthascherei, die Lücken in der Dramaturgie, in der Erzählung kaschiert. Vermutlich gibt es heute mehr schlechte Bilder als zu Goldbergs Zeiten; vermutlich wird aber auch mehr experimentiert. Hürden und Hemmschwellen werden mit der Demokratisierung des Filmemachens abgebaut. Nicht nur Not macht erfinderisch, sondern auch die Möglichkeit. Zwar gibt es an der Hardware nur Details zu optimieren, durch die Digitalisierung tut sich im Bereich der Software aber ein ganz neuer Spielplatz auf.

Mit dem Virtual-Reality-Projekt After Solitary versteckten die Veranstalter an der ZDOK das beste Beispiel hierfür hinter der Publikumstribüne. Helles Tape am Boden markierte vier Stationen, jeweils ausgestattet mit einem Monitor, einer VR-Brille und schweren Kopfhörern. Bereits mit dem Headset abgeschottet vom Veranstaltungsrummel, hört man nach einer kurzen Instruktion die Erzählung des US-amerikanischen Häftlings Kenny Moore, die Geschichte seiner zwanzigjährigen Haft und der anschliessenden Resozialisierung. Dabei steht sein mächtiger Körper in der engen Zelle eingeklemmt zwischen Pritsche und Waschbecken. Seine Stimme nah am Ohr steht ihm die Zuschauer_in gegenüber – kann wirklich um ihn herumgehen, muss sich dafür eng an der virtuellen Zellenwand vorbeidrücken. Ein Lufthauch seines Atems würde kaum überraschen. So nah möchte man Kenny Moore aber eigentlich gar nicht sein. Diese Illusion einer physischen Begegnung generiert ein videogrammetrisches Produktionsverfahren. Das Bild, in dem man sich als Zuschauer_in bewegt, besteht aus zwei Komponenten: Raum und Protagonist werden getrennt voneinander von tausendfach aus allen erdenklichen Perspektiven fotografiert. Allen Aufnahmen werden zu einem 3D-Modell zusammengesetzt, das sich an Blickwinkel und Position anpasst. Hinter After Solitary steht Nonny de la Peña mit ihrer Produktionsfirma Emblematic. De la Peña ist Pionierin der Virtual Reality für dokumentarische und journalistische Projekte.
Ob nun Christian Frei mit einem kreativen Kamera-Setup die Zuschauer_in anstelle des Protagonisten treten lässt oder Nonny de la Peña eine physische Begegnung digital simuliert, haben beide dasselbe Ziel: Immersion. Das Publikum soll ganz und gar eintauchen können. Es soll Geschichten nicht nur erzählt bekommen, sondern sie erleben. Wieviel Technik dazu aber nötig ist, darüber wurden man sich an der diesjährigen ZDOK nicht einig. Dokumentarfilmer_innen wollten schon immer Nähe erzeugen – und so rasch wird sich das nicht ändern. Denn Dokumentarfilmer_innen sind Erfinder, egal ob aus der Not heraus oder wegen der Möglichkeiten.
Gefällt dir Filmbulletin? Unser Onlineauftritt ist bis jetzt kostenlos für alle verfügbar. Das ist nicht selbstverständlich. Deine Spende hilft uns, egal ob gross oder klein!