Seit die Regisseurin von Atlantique, Mati Diop (übrigens die Nichte des senegalesischen Filmemachers Djibril Diop Mambéty), mit ihrem Film nach Cannes eingeladen wurde, wird sie immer wieder gefragt, wie es sei, als erste schwarze Regisseurin im Wettbewerb vertreten zu sein. Zum einen ist Mati Diop erstaunt, dass es dafür erst 2019 werden musste. In die riesige Freude mische sich zum anderen jedoch eine Unsicherheit: Wurde ihr Film ausgewählt, weil sie schwarz ist, oder doch wegen seiner Qualitäten?
Die Frage ist verständlich, stammen immer noch nur 4 von 21 Wettbewerbsfilmen von Frauen (immerhin so viele wie im «Rekordjahr» 2011) und bei manchen von ihnen wird man den Eindruck tatsächlich nicht los, es handle sich um Quotenfilme, die vor allem wegen ihrer «Frauenthemen» ausgewählt wurden. In den anderen Sektionen sieht es nur bei «Un certain regard» (8 von 18) zahlenmässig besser aus. Ansonsten: Special Screenings: 2 von 10; Quinzaine des réalisateurs: 4 von 24; La Semaine de la critique: 1 von 7. Immerhin konnte der Festivaldirektor Thierry Frémaux verkünden, dass die Auswahlkommissionen paritätisch zusammengesetzt sind. 5050 x 2020 scheint aber noch in weiter Ferne.

Diops Film jedenfalls ist unter den Kritiker_innen auf ein geteiltes Echo gestossen. Manche mögen dabei in einen Zwiespalt geraten sein: Darf man den Film der ersten schwarzen Regisseurin nicht gut finden, ohne in ein moralisches Dilemma zu kommen? Schliesslich wirft sie wichtige Themen auf... So geht es etwa um die «veuves de la mer», die zurückgebliebenen Frauen der auf dem Meer umgekommenen Flüchtlinge, sowie um Zwangsheirat. Was Diop gelingt, ist ein ungewöhnlicher Zugang (siehe Cannes 2019 No 2), eine vertiefte Auseinandersetzung mit den verlassenen Frauen erreicht sie hingegen nicht.

Ein nicht weniger wichtiges Frauenthema stellt Mounia Meddour in ihrem Erstling Papicha («Un certain regard») ins Zentrum: Während des algerischen Bürgerkriegs Anfang der Neunzigerjahre wird den Studentinnen eines universitären Mädchenwohnheims die weibliche Selbstdarstellung verweigert, sowohl von den islamistischen Feinden, als auch von vermeintlichen Freunden. Als die Protagonistin Nedjma ihren Freiheitswillen durchsetzt und trotz grösster Gefahr eine Modeschau veranstaltet, endet dies in einer Katastrophe. Der Film unterbricht den Spannungsbogen immer wieder mit ausgedehnten Szenen, die weibliche Freundschaft zelebrieren. Der gesellschaftlich-politische Zusammenhang bleibt bei dieser Leidensgeschchte leider ausgespart. Was wir sehen, ist die intensiv erlebte Unterdrückung der Weiblichkeit durch Islamisten; die Errichtung eines Gefängnisses. Auch hier ist zu sagen, dass man einerseits nicht oft genug auf den Willen zur freien Selbstdarstellung der Frau hinweisen kann. Und doch kann ich andererseits die Art und Weise, wie dieser Film sich äussert, fast nicht anders beschreiben als mit «ausser sich»: hektische Kamera und ein erschöpfendes Auf und Ab zwischen Euphorie und Tragödie. Natürlich gibt es Ungerechtigkeiten, bei denen man tatsächlich ausser sich geraten kann. Etwas mehr Subtilität hätte dem Film dennoch gut getan.

Auch der Wettbewerbsbeitrag Litte Joe der Österreicherin Jessica Hausner widmet sich einem Frauenthema: einer Mutter, die hin und her gerissen ist zwischen Kind und Arbeit. In diesem Fall hat die alleinerziehende Mutter und Pflanzenzüchterin Alice neben ihrem Teenagersohn Joe noch ein anderes Kind: eine genetisch designte Pflanze, die Menschen mit ihrem Duft glücklich machen soll. Sie nennt sie Little Joe. Während Abby in Ken Loachs Sorry We Missed You ihre Kinder vernachlässigen musste, um genügend Geld zu verdienen, liebt Alice ihre Arbeit und wäre insgeheim froh, sie könnte sich ganz auf sie konzentrieren. Dementsprechend gross (und unterdrückt) ist ihr schlechtes Gewissen.

Um dieses schlechte Gewissen konstruiert Hausner einen Science-Fiction-Film, in dem eine Pflanze die Menschen mithilfe ihrer Pollen dazu bringt, dass diese sich nur noch um sie kümmern wollen. Bis zum Schluss wird die Unsicherheit, ob es sich bei all dem lediglich um Alices Einbildung handelt, oder ob tatsächlich der unheimliche Einfluss von Little Joe am Werk ist, nicht ganz aufgelöst – so wie sich auch das Dilemma einer Frau zwischen Arbeit und Familie kaum auflösen lässt. Doch Hausner schenkt ihrer Heldin ein Happy End: Sie darf, ohne sich als Rabenmutter zu fühlen, ihren Sohn beim Vater leben lassen und sich ihrer Arbeit widmen. Ich werde kaum die einzige Filmkritikerin (männliche Kollegen sind mitgemeint) sein, die sich auch an dieser Thematik aufreibt; gerade in Zeiten arbeitsintensiver und Abwesenheit bedingender Festivals.

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