Filmbulletin: Herr Chatrian, die Berlinale ist Ende Februar knapp an der Pandemie vorbeigeschrammt. Hätten Sie fast abbrechen müssen?
Carlo Chatrian: Den Abbruch haben wir nicht in Erwägung gezogen, niemand tat das damals. Wir standen in Kontakt mit den Behörden, mit dem Berliner Senat, dem Robert-Koch-Institut. Aber natürlich machte uns die Situation zu schaffen. Beim Filmmarkt hatten sich chinesische Firmen und Marktbesucher_innen kurzfristig abgemeldet. Der chinesische Regisseur Jia Zhangke musste einen grossen Aufwand betreiben, um nach Berlin reisen zu können. Während des Festivals verschlechterte sich vielerorts die Situation, im Iran, in Italien. Deutschland war erst relativ spät betroffen. Aber ja, im Rückblick war es knapp.
Ich erinnere mich, wie Corona in den letzten Festivaltagen immer mehr zum Thema geworden ist.
In den letzten Festivaltagen sieht man immer einen Besucher_innenrückgang, diesmal dünkte mich der Rückgang jedoch etwas stärker als sonst. Ja, vermutlich hatten da einige Leute schon Bedenken, sich in einen Kinosaal zu setzen. Wir haben keine genauen Daten, aber nach unserem Wissen hat sich während des Festivals niemand angesteckt.
Hätte das Festival nur ein paar Tage später begonnen …
… hätte es früher begonnen, hätten wir nicht das Massaker von Hanau am Eröffnungstag gehabt. Daran denkt man jetzt nicht mehr, aber das war wirklich furchtbar.
Wie haben Sie die Wochen und Monate nach dem Festival erlebt?
Für uns von der Berlinale fühlte sich diese Zeit vermutlich anders an als für die meisten, da wir ohnehin eine Pause erwartet hatten. Wir waren im Herunterkommen-Modus. Ich habe den Lockdown in Italien verbracht, sass dort fest. Aber ich lebe auf dem Land, es war also nicht ganz so schlimm.
Wann hätten Sie die Arbeit wieder aufnehmen sollen?
In meiner Art von Job geht es eigentlich immer weiter. Ich schaue nonstop Filme. Und auch die Retrospektive planen wir weit im Voraus.
Hatte die Pandemie im Frühjahr bereits Auswirkungen auf die kommende Berlinale?
Natürlich, allein der Wegfall von Cannes: Da treffen wir sonst immer alle Firmen, die Verleiher_innen, die Produzent_innen. Es gab zwar Möglichkeiten, dies online zu tun, aber das ist einfach nicht das Gleiche. Selbst für Festivals, die im Sommer 2021 stattfinden, hat die Pandemie bereits Auswirkungen, denn jeder muss in Betracht ziehen, dass die Reisemöglichkeiten weiterhin stark eingeschränkt sein werden. Das Sundance Film Festival, das im Januar stattfindet, stellt sich auf eine hybride Version ein …
… teils online, teils physisch …
… weil sie wissen, dass die Anreise schwierig wird. Das Virus wird die Festivals noch das ganze nächste Jahr beschäftigen, so zumindest lautet meine Prognose. Prognosen sind allerdings wie Luft: schwierig, sich daran festzuhalten.
Aber wie arbeitet man, wenn alles so unsicher ist?
Naja, zumindest Filmeschauen ist kein Problem. Vermutlich haben wir mehr Filme gesehen als zum selben Zeitpunkt im letzten Jahr. Was uns fehlt, ist der persönliche Austausch: mit den anderen Programmer_innen, mit Produzent_innen, Filmemachenden. Das vermissen wir sehr. Es ist eine andere Art, das Programm zusammenzustellen. Ob sich daraus dann auch ein anderes Programm ergibt, ist schwer zu sagen. Sollen wir andere Filme auswählen, weil sich die Art, wie man die Filme sieht, vielleicht verändert?
Sie meinen, falls die Filme am Ende online zu sehen sein sollten.
Ich versuche, nicht zu viel darüber nachzudenken, weil der Gedanke sonst einen immer stärkeren Einfluss auf die Programmation nehmen würde. Was ich allerdings weiss: Wir können ein Jahr lang ohne Reisen auskommen, aber mehr als ein Jahr wird schwierig. Denn die Filme, die wir jetzt gerade schauen, das sind vielfach Filme, die wir in der Vergangenheit auf unseren Reisen aufgestöbert haben. Das «Scouting» ist enorm wichtig für uns. Also falls nächstes Jahr weiterhin kaum Reisen möglich sein sollten – das hätte dann wirklich grosse Auswirkungen.
Werden Sie für die kommende Ausgabe mehr oder weniger Filme eingereicht bekommen?
Schwer zu sagen. Hätten Sie mir die Frage vor zwei Monaten gestellt, ich hätte gesagt: klar mehr. Denn die anderen Festivals in diesem Jahr haben schlichtweg weniger Filme aufgenommen. Inzwischen bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher, da die Pandemie sich nicht so verhält, wie viele Leute dachten. Es kommt darauf an, wie optimistisch die Leute die Entwicklung für 2021 einschätzen und entsprechend Filme lancieren.
Dass im Moment wenig gedreht wird, hat das einen Einfluss auf die kommende Ausgabe?
Nicht wirklich, denn die Filme, die wir uns anschauen, sind Filme, die schon länger abgedreht sind. Die Postproduktion nimmt ja gerne Monate oder sogar ein Jahr in Anspruch. Natürlich gibt es auch Filme, die jetzt im Sommer unter besonderen Bedingungen entstehen und für die Berlinale fertiggestellt werden sollen, aber die grosse Mehrheit der Arbeiten ist abgedreht, da wirkt sich die Pandemie nur noch auf die Postproduktionsphase aus und zieht diese in die Länge.
Die Dürre bei den Drehs wird sich aber irgendwann bemerkbar machen, oder nicht?
Ganz ehrlich, das weiss ich nicht. Die Nachfrage nach Inhalten ist jedenfalls da, das hat man ja auch während der ersten Phase der Pandemie gemerkt. Welche Art von Inhalten noch möglich sein wird, ist die andere Frage: Manche Filme lassen sich jetzt drehen, andere nur mit grossen Mehrkosten. Sicher ist: Produktionen leiden und es gibt Filme, die rundweg verunmöglicht worden sind durch die Pandemie. In Europa gibt es immerhin zum Teil Ausfallentschädigungen für Produzent_innen, in anderen Gegenden der Welt nicht. Dafür ist es andernorts vielleicht einfacher, Produktionen wieder hochzufahren.
In diesen Zeiten, da alles sehr grundsätzlich in Frage gestellt wird: Welche Bedeutung haben Filmfestivals wirklich?
Darauf gibt es nicht eine Antwort. Es sind viele Antworten, die auch davon abhängen, wer es ist, der oder die antwortet. In meiner Position gilt es, vieles im Blick zu haben: Ich denke an das Publikum, ich denke an andere Festivals, auch an Filmeinkäufer_innen, an Verleihfirmen. Man kann sich ausmalen, was die Wichtigkeit eines Festivals für diese jeweiligen Gruppen ausmacht; manches kann online wettgemacht werden, Anderes nicht. Für die Zuschauer_innen sind Festivals zuerst einmal aufregend, es ist ein «Thrill»,
Teil von etwas Besonderem zu sein. Für Einkäufer_innen geht es darum, Filme unter bestimmten Bedingungen zu sehen, mit Publikum, Presse auch. Für sie sind Festivals ein Testlauf, denn sie investieren viel Geld. Aus der Sicht der Festivals gesprochen: Wir sind Teil eines grösseren Kreislaufs, der einem Film Möglichkeiten eröffnet, die er mit einem Kinoverleih vielleicht nicht hätte.
Es gibt Filme, die eigentliche Festivalkarrieren hinlegen und auf keinen Kinostart mehr angewiesen sind.
Genau, und das System ist gut austariert, es gibt die unterschiedlichsten Kategorien von Festivals für die unterschiedlichsten Filme und Publika. Die Anzahl Festivals ist schon extrem. Vielleicht ändert sich das in Zukunft, aber heute haben die Festivals ihre Daseinsberechtigung. Denn der gewöhnliche Weg eines Films über den Verleih ins Kino funktioniert vielfach nicht mehr, und Festivals können hier einspringen.
Es gibt also nicht zu viele Festivals?
Nein, denn es gibt offensichtlich eine Nachfrage. Ich weiss allerdings nicht, ob man dasselbe für Filme sagen kann.
Es gibt zu viele Filme?
Es gibt zumindest Filme, die in der Masse verloren gehen.
Wenn die grossen Festivals wie Cannes oder die Berlinale in den nächsten, sagen wir, zwei oder drei Jahren nicht stattfinden könnten, was würde das für die Filmindustrie bedeuten?
Das würde vor allem etwas für uns Menschen bedeuten. Das würde ja heissen, dass auch viel Anderes nicht stattfinden könnte, es wäre wirklich ein apokalyptisches Szenario.
Müsste man den Zeitpunkt aber nicht nutzen, um Festivals neu zu denken?
Festivals müssen immerzu neu gedacht werden. Schauen Sie sich die Geschichte der Berlinale an und wie sehr sie sich über die Jahrzehnte verändert hat! Nur realisiert man das als Aussenstehende_r vielleicht weniger. Vor 20 Jahren war ein grosses Festival ohne Filmmarkt die Regel, heute kommt man kaum mehr ohne einen solchen aus. Das Kino ist ein lebendiger Organismus, alles bewegt sich, immer. Die Art, wie Filme gemacht werden, verändert sich, die Art wie sie präsentiert werden, verändert sich. Die Art, wie wir audiovisuelle Inhalte konsumieren, verändert sich. Das ist nun mal so. Es ist auch so, dass es die Ausnahme darstellt, einen Film an einem Festival zu sehen. Aber vielleicht ist gerade diese Ausnahme mit ein Grund dafür, dass ein Film existiert. Denn die Bedingungen, die ein Festival bietet, sind Voraussetzung dafür, dass gewisse Filme überhaupt erst gemacht werden. Auch wenn die Mehrheit der Leute sie später in einem anderen Setting sieht.
Müssen Festival wie die Berlinale kleiner werden?
Kleiner? Wie kleiner? Weniger Zuschauer_innen, weniger Filme?
Was man sich gerade schwer vorstellen kann: 1600 Leute in einem Berlinale-Palast.
Bei den Kinos geht es in diese Richtung: kleinere Säle, weniger Leute. Aber zur Festivalerfahrung gehört eben gerade auch, Teil von etwas Grösserem zu sein. Grundsätzlich habe ich über die Zahl der Zuschauer_innen in einem Saal bis jetzt nicht nachgedacht. Falls die Bedrohung durch die Pandemie zur Konstante wird, ergeben sich ohnehin fundamentalere Fragen für das gesellschaftliche Zusammenleben. Andernfalls wüsste ich nicht, weshalb man langfristig gesehen weniger in einen Saal lassen sollte, der mehr Leute fassen würde. Natürlich, bei der nächsten Ausgabe wird so etwas ein Thema sein. Wir werden alle Massnahmen ergreifen, um die Gesundheit der Zuschauer_innen zu gewährleisten. Aber nein, ich sehe nicht, dass die Berlinale an sich kleiner werden sollte. Nicht, was die Zuschauer_innenzahlen betrifft, und auch nicht, was die Anzahl Filme betrifft.
Ich vermute, Sie sind kein Fan von Online-Festivals?
Wer ist denn bitte ein Fan von Online-Festivals?
Punkt für Sie.
Wenn man zwischen einer physischen Ausgabe und einer Online-Ausgabe entscheiden kann, entscheidet sich kein Mensch für die Online-Ausgabe. Ich würde übrigens nicht von Online-Festivals sprechen, denn da fehlt schlicht etwas, was zur Festivalerfahrung gehört. Man kann aber natürlich Filme auswählen und eine Online-Kollektion daraus machen, das ist nichts Neues. Nein, dass gewisse Festivals auf ein Online-Format ausgewichen sind, hat handfeste Gründe, da geht es um Budgets, um Verpflichtungen.
Den Kinos ging es schlecht vor der Pandemie, jetzt geht es ihnen noch schlechter. Machen Sie sich Sorgen, dass der Berlinale
die Spielstätten abhandenkommen?
Wir sind im Austausch mit den Kinobetreiber_innen, gleich nach dem Lockdown im Sommer haben wir Treffen gehabt. Es ist für uns wichtig, zu wissen, wie es ihnen geht und wie sie mit den momentanen Restriktionen umgehen. Natürlich sind wir besorgt. Ein Festival braucht Infrastruktur. Wenn Sie mich nach der nahen Zukunft fragen, bin ich noch nicht übermässig alarmiert, denn ich glaube, dass die Kinos erst einmal bestehen bleiben. Der grundsätzliche Trend beschäftigt mich aber. Die Krise des Kinos scheint hier in Deutschland zudem grösser zu sein als in anderen Ländern. Ich habe keine Lösung parat. Was ich weiss: Die Berlinale wird die Kinos unterstützen, wo sie nur kann. Die Berlinale ist enorm erfolgreich. Wir könnten für die meisten Filme mehr Tickets verkaufen, als wir zur Verfügung haben. In den Kinos ist das selten der Fall. Die Frage ist, wie man hier eine Brücke bauen könnte.
Sie waren im September beim Filmfestival in Venedig – wie war Ihr Eindruck? Hat es sich gelohnt, das Festival durchzuziehen?
Venedig gab allen, die da waren, einen enormen Energieschub. Obwohl die Besucher_innenzahlen tief waren, hatte ich nie ein schlechtes Gefühl. Im Gegenteil: Ich habe in den Augen der Zuschauer_innen – weil die Masken den Rest der Gesichter verdeckten – die Freude gesehen, wieder zurück an einem richtigen Festival zu sein. Auch San Sebastián, Zürich und London werden diese Botschaft weitertragen.
Bild: © Alexander Janetzko / Berlinale 2019
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