Sex und Nazis ziehen immer. Die ungeschriebene Maxime des Boulevardjournalismus gilt für einmal auch für das Schweizer Fernsehen. Wobei sich die 8,4 Millionen teure und von Arte mitproduzierte SRF-Miniserie Frieden nicht gerade bemüht, sich reisserisch zu verkaufen. Im Gegenteil – Drehbuchautorin Petra Volpe legt mit dem Titel, wie schon bei ihrem Erfolgsfilm Die göttliche Ordnung, eine falsche Fährte: Eine fiktionale Miniserie über den Frieden nach dem Ende des verheerendsten Kriegs aller Zeiten? Über eine Schweiz, die im Gegensatz zu Europa intakt erstrahlte? Der Titel scheint schon alles zu erzählen, was man vom Staatssender erwarten kann: Eine patriotische Wohlfühlwelt, die die redlichen Bemühungen eines von den grossen Umwälzungen weitestgehend verschonten Binnenstaats beleuchtet.

Schmutzige Geschichte
Aber eben, es geht ja um Sex und Nazis. Also hauptsächlich um Nazis, Sex spielt in den jugendfreien Vierzigerjahren und im SRF-Hauptprogramm nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Die gefallenen Herrenmenschen sind dafür der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung. Über sechs Episoden tischt die Serie grosszügig Konflikte auf, die sich im Grunde um drei Exponent_innen einer Familie und ihre Verbandelungen mit den Ruinen des Dritten Reichs drehen: den jungen Unternehmer, der sich die Zukunft seiner vom Schwiegervater übernommenen Spinnerei mit dreckigem Geld und Personal aus Nazibeständen kauft (Max Hubacher), seine Frau, die ihr ganzes Herz in ein Heim mit Kindern aus dem KZ Buchenwald steckt (Annina Walt), und seinen Bruder, den gebrochenen Soldaten, den seine Erlebnisse an der Grenze wiederum zur Nazijagd antreiben (Dimitri Stapfer). Im Verlauf wird der moralische Kompass dieser Figuren auf dem Spektrum zwischen skrupellosem Onkel/Nazianwalt und perspektivenlosen KZ-Überlebenden, die einmal mehr zum Spielball der Politik werden, auf die Probe gestellt.
Frieden wirbelt in diesem dichten Set-up gleich in mehreren dunklen Ecken der Schweizer Nachkriegszeit Staub auf. Angeprangert werden nicht nur die unrühmliche Grenzpolitik und die fragwürdigen «humanitären Gesten» von Bund und Schweizerischem Rotem Kreuz, sondern auch die zuvorkommende Behandlung gefragter Naziwissenschaftler zum Wohl der Schweizer Wirtschaft und die schützende Hand, die man trotz internationalem Druck über finanzstarke Kriegsverbrecher hielt. Eine Polemik, wie 1976 noch Richard Dinos und Niklaus Meienbergs Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S., löst Frieden damit freilich nicht mehr aus. Auch an Markus Imhoofs emotionales Schwergewicht Das Boot ist voll aus dem Jahr 1980 kommt die Serie nicht heran. Doch das ist auch nicht das Ziel.
SRF bettet die fiktionale Verarbeitung der Nachkriegszeit dafür umsichtig in einen Schwerpunkt ein: Mit dem Start der Serie Anfang November strahlte der Rundfunk mit je einem Dok über die Verwicklungen der EMS-Chemie mit nazideutschen Chemikern und dem Umgang mit den echten Buchenwald-Kindern die gewichtigen Hintergründe zu Frieden aus. Mit einer Sendung, in der junge Leute, die laut Anmoderation «fame sind und sonst als Reporterinnen oder Rapper glänzen, zusammen ein Frieden-Brettspiel spielen, versuchte man die historischen Themen auch einem jungen Publikum schmackhaft zu machen. Die Sendung wirkt leider etwas bemüht cool, doch vielleicht ist sie nötiger denn je. Schon im Mai, zum eigentlichen Anlass des 75. Jubiläums des Kriegsendes, gab es zudem einen Kulturplatz zum Schwerpunkt und im Radio konnte man den Erzählungen der Kinder von Auslandschweizer_innen und ihrer Erlebnisse zu Kriegs-
ende horchen.
Die pädagogische Komponente dieses Megaprojekts ist also nicht zu unterschätzen. Selbst die Schauspieler_innen erwähnen im Making-of mehrmals, wie wenig man doch in der Schule über die Schweizer Rolle im und nach dem Zweiten Weltkrieg gelernt habe.

Weinende Männer, heulende Trolls
Pädagogisch wertvoll sind auch die Darstellungen der Geschlechterrollen in Frieden. Mehr als einmal ergeben sich nämlich Sichtweisen, die noch nicht so lange Mainstream sind. Die an die amerikanische Kriegsreporterin Lee Miller erinnernde Journalistin (Lou Strenger) etwa läuft dem Schweizer Ermittler, der eher nahe am Wasser gebaut ist, in Sachen Toughness leicht den Rang ab. Und statt seiner Frau weint sich auch der junge Patron in den Schoss seiner Gattin, als ihre Beziehung kriselt. Dass es nicht andersrum sein muss, sollte zwar im Jahr 2020 nicht mehr erwähnenswert sein, in einem historischen Drama ist die Umkehrung der Rollenklischees aber umso gewichtiger. Frieden ist klar für ein heutiges Publikum geschrieben, das mit der Erfahrung der emanzipatorischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Zwänge und Lebensumstände zurückblickt, die nach Rebellion schreien.
Nichtsdestoweniger füllten sich die Kommentarspalten im «Blick» mit dem Vorwurf, die Serie sei nichts als «linke Propaganda», und dass man die Geschichte doch endlich ruhen lassen solle – die Macher_innen wird die Polemik gefreut haben, erhofft man sich doch wohl insgeheim von der kritischen Heimatserie doch eine gesellschaftliche Diskussion über die angerissenen Themen.
Das zeigt sich auch an dem Verweis ganz zum Schluss der Serie: Nachdem ihm der Nazischerge Wilhelm Scholz (Stephan Bissmeier) mit seinen Millionen gewaschener Reichsmark durch die Lappen und ab nach Argentinien gegangen ist, hält der verbissene, junge Ermittler ein Dossier zu Friedrich Kadgien in der Hand. Die rechte Hand des Reichswirtschaftsministers Göring, der beste Verbindungen zur Schweizer Wirtschaft und Politik hatte und nach Kriegsende für fast vier Jahre im aargauischen Baden gemeldet war, ist zweifellos Pate für die Figur Scholz gestanden – hierzulande aber kaum bekannt.

Ein moralisches Nebelmeer
Aber: Alles historische Gewicht nützt nichts, wenn die Fiktion nichts taugt. Lohnt es sich also, sich durch sechs Stunden Familiendrama mit moralischen Schlaglöchern zu bingen? Frieden ist alles in allem eine sorgfältig durchkomponierte Erzählung, das Arrangement der Figuren wirkt auf den ersten Blick dennoch etwas prototypisch verfilzt, doch in der Schweiz, wo die Wege vom scheinbar heilen Land bis hin zum Polit- und Wirtschaftsfilz bekanntlich kurz sind, wirkt dies glaubwürdig genug. Überzeugend ist aber vor allem die Figurenentwicklung, hier hat man einiges von zeitgenössischen Serien aus Übersee gelernt: Die traumatisierende Backstory des ehemaligen Grenzsoldaten und bundesanwaltschaftlichen Ermittlers wird gemächlich aufgedeckt, langsam und in Schlaufenbewegungen driftet auch der gutmütige Bruder und junge Patron erst in den moralischen Sumpf hinab. Selbst seine empathische Frau lügt und betrügt, obwohl sie doch nur Gutes will. Die Hauptfiguren reagieren auf Zwänge und Umstände, gehen mit guten Absichten ihren Interessen nach und kompromittieren sich in der Folge.
Die drei Millennials, von denen sie gespielt werden, bewegen sich souverän durch die Lebenswelt ihrer Grosseltern. Dimitri Stapfer etwa, als Ermittler und verlorene Seele, geht geradezu auf in seiner Rolle und im verrauchten Dekor, ausgestattet mit Trenchcoats, Oldtimern, Bakelit-Telefonhörern und der Flasche Schnaps zum Frühstück. Es sei ihm nach seiner etwas unglücklichen Rolle als homosexueller Lover in Beyto vergönnt. Annina Walt hatte die schwere Balance zu finden zwischen emanzipierter Industriellentochter und naiver Weltverbessererin. Das glückt ihr auf der emanzipierten Seite etwas besser als auf der naiven, dennoch verfolgt man ihre Dilemmata über die sechs Folgen hinweg gespannt mit. Alles in allem harmoniert der Cast sehr gut, Anziehung und Antipathie wachsen natürlich und erklären sich aus der Erzählung heraus; die schweizerdeutschen Dialoge fliessen mit den Emotionen der Darsteller_innen und schleudern einen als Muttersprachler_in nur ganz selten auf die verwirrende Metaebene der Fremd- und Selbstscham.
SRF hat mit Frieden also einiges richtig gemacht: ein gutes Drehbuch, glaubwürdige Konflikte, ein guter Cast und ein scheinbar bekanntes Thema, das überraschend neu daherkommt. Das Medienecho war denn auch überwiegend positiv. Man darf sich unter diesen Vorzeichen auf weitere fiktionalisierte Geschichtslektionen freuen. Wie wär’s zum Beispiel mit der Crypto AG?

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