Filmbulletin: Vergleicht man Wir sind jung. Wir sind stark., Ihr Film von 2014, mit Berlin Alexanderplatz, könnte man sagen, dass Sie wohl ein Regisseur mit Sinn für Sozialkritik sind – aber genau so viel Sinn für eine experimentierfreudige Bildsprache und einen spielerischen Umgang mit Narration haben.
Burhan Qurbani: Man könnte mir als Filmemacher vorwerfen, dass ich stets zwischen Arthouse und Pop mäandere und meine Filme darum nie den Cannes- oder Venedig-Stallgeruch haben, weil sie nie entschieden genug das eine oder das andere sind. Aber ich bin selbst mit Arthouse und New American Cinema aufgewachsen, das hatte mich geprägt. Mein filmisches Erweckungserlebnis hatte ich mit fünfzehn, als ich eine Raubkopie von Quentin Tarantinos Pulp Fiction in die Hände kriegte. Da war ich völlig baff, dass man mit Film so etwas machen kann; wie frech Tarantino mit Raum und Zeit umgeht.
Hinzu kommt mein Arbeitsprozess, der meine Filme wohl auch noch stilisierter erscheinen lässt: etwa filme ich immer mit dem gleichen, brillanten Kameramann, Yoshi Heimrath, und ich fände es fast verwerflich, seine Bilder nicht in ihrer Grösse stehen zu lassen. Auch langweile ich mich schnell mit meinem Material und im Schnitt tendiere ich dazu, noch Schlaufen und Umwege in die Geschichten einzubauen.

Welche Themen sind Ihnen wichtig?
Da bin ich konsistent; ich greife eigentlich immer wieder die gleichen Themen auf. Das sind auf der einen Seite die Fremden in der Fremde: In meinem ersten Film, Shahada (2010), ging es um die muslimische Community, die in Berlin gestrandet ist, in Wir sind jung. Wir sind stark. um rechtsradikale Jungs; wohl um Deutsche, aber um solche, die nun in einem neuen Deutschland sind und nicht mehr dazugehören. Und in Berlin Alexanderplatz geht es um jemanden, den es wortwörtlich angespült hat im fremden Land. Ein zweites Thema sind für mich Männer, die in ihren Rollen scheitern. Meine männlichen Figuren sind immer gebrochen und funktionieren in dem, was sie tun sollen, nicht wirklich.
Worin lag der Reiz, einen – zumindest seinem Ruf nach – nicht verfilmbaren Grossstadtroman von 1929 ins heutige, migrantische Milieu Berlins zu verpflanzen?
Es war wohl mein Grössenwahn, mich auf einen Stoff zu werfen, der bereits von einem der wichtigsten Filmemacher Deutschlands, von Fassbinder, verfilmt wurde. Eigentlich ist es eine Idiotie, sich an den gleichen Stoff zu setzen, und dann noch einer, der unter Filmschaffenden zum Kult geworden ist.
Und zum migrantischen Milieu: Ich lebe am Berliner Volkspark Hasenheide und sehe die dortige Community täglich; über sie wollte ich eine Geschichte erzählen. Aber ich wusste, dass das in unserem System übergangen wird. Das Mediensystem funktioniert nach ungleichen Aufmerksamkeitsprinzipien: Wenn man einen Film über eine solche Gemeinschaft dreht, kriegt er wohl etwas Achtungsapplaus, verschwindet aber zugleich wieder aus öffentlichen Gesprächen. Aber wenn man einen Roman nimmt wie Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz», kann der Kulturbetrieb und die Gesellschaft ihn nicht ignorieren. Der Roman ist also auch so etwas wie ein trojanisches Pferd für ein Thema, das mir am Herzen liegt.

Im Originalroman von Alfred Döblin tritt Franz Biberkopf nach vier Jahren Isolation über die Schwelle der Strafanstalt Tegel und in eine – für ihn veränderte – Berliner Gesellschaft. Bei Ihnen kommt Francis von Westafrika an. Ist das als direkte Parallele gemeint?
Beide Figuren, mein Francis/Franz und Franz Biberkopf aus dem Original, verbindet einiges: Biberkopf kommt traumatisiert aus dem Schützengraben des Ersten Weltkriegs, mein Franz hat eine Reise gemacht, die ihn traumatisiert hat. Nun sitzen beide Männer mit posttraumatischem Stresssyndrom in Berlin, sind Teil der Gesellschaft, aber nicht in der Gesellschaft; sind nicht sichtbar, leben in einer kriminellen Unterwelt, für die wir uns nicht interessieren. Und beide haben diese grosse Hybris, dass sie in die Mitte der Gesellschaft vordringen wollen. Daran arbeiten sie sich ab. Auch ihr gemeinsamer Anspruch, gut zu sein, ist ja der Anspruch des moralischen Bürgertums.
Mit einer Hauptfigur mit Migrationshintergrund (grossartig gespielt von Welket Bungué), verschieben sich die Konstellationen. Sie selbst meinten, dass ihr Vorbild Scarface gewesen sei. Hat Berlin Alexanderplatz die Dramaturgie eines klassischen Gangsterfilms?
Wir haben den Roman komplett «nackt» gemacht, nach der eigentlichen Geschichte und den Plot Points gesucht. Dabei hat sich herausgestellt, dass Döblin selbst einen Gangsterroman geschrieben hat: Es ist die Geschichte von Aufstieg und Niedergang. Aber es stimmt, auch Scarface war Vorbild, und in meinen nächsten Arbeiten habe ich vor, erneut zu Werken wie denen Martin Scorseses oder Brian de Palmas zurückzugehen.

Verfilmt man nach Rainer Werner Fassbinders mehrteiliger Fernsehminiserie von 1980 die gleiche Romanvorlage, stellt man sich automatisch dem Vergleich mit dem wohl wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films. Hat Sie das beeinflusst bei ihrer Arbeit?
Für den Prozess war die erste Romanverfilmung von 1931 unter der Regie von Phil Jutzi die wichtigere Grundlage. Am Drehbuch hatte Döblin damals selbst noch mitgeschrieben. Mit der Vorlage von Fassbinder haben wir hingegen so radikal und bewusst gebrochen, dass sich der Vergleich nicht mehr wirklich anbietet; mit ihm in den Ring zu steigen, wäre ohnehin selbstmörderisch. Ich würde auch nie Katzelmacher oder Die bitteren Tränen der Petra von Kant verfilmen. Für uns ist «Berlin Alexanderplatz» die Geschichte einer Menschwerdung; Francis/Franz ist über das Mittelmeer geflüchtet, hat dabei seine Menschlichkeit verloren, die er dann wieder zurückerobern will. Ich glaube, Fassbinder erzählte 1980 eine andere Geschichte.
Wie erging es Ihnen nach der Uraufführung an der Berlinale, wo der Film wohl nicht im erwarteten Ausmass prämiert wurde, er aber doch zu den meistdiskutierten Screenings gehörte?
Das war ein unglaubliches Erlebnis. Wir hatten während sieben, acht Jahren am Projekt gearbeitet. Bis zum Zeitpunkt der Premiere hatten wir Berlin Alexanderplatz erst ungefähr sechzig Leuten präsentiert. Wir wussten also nicht, was passieren wird, wenn wir den Film in einem Raum mit 2000 Zuschauer_innen zeigen und sie durch diese drei Stunden schicken. Zehn Minuten Standing Ovations gab es nach dem Screening; für uns war das unwahrscheinlich. Auch für die Schauspieler_innen, die viel Mut bewiesen hatten, war das eine Erleichterung. Schon beim Dreh war uns nämlich klar, dass die Figurenzeichnung stets kippen könnte, sie nicht unbedingt sympathische Figuren sind: Welket Bungués Francis etwa, der ein halbkrimineller Migrant ist oder Jella Haase, die eine Frau spielt, die irgendwo zwischen der Heiligen und der Hure mäandert, was schnell in das Klischee der Sexworkerin mit Herz abrutschen könnte. Oder Albrecht Schuch als Reinhold, der halb Rumpelstilzchen, halb Mephisto mimt. Alle haben viel investiert, waren zeitweise unsicher, doch an dem Abend wurde das Risiko ihrer Arbeit belohnt.

Wie kann man an eine überwältigende und einnehmende Produktion wie Berlin Alexanderplatz anschliessen – auf was dürfen wir uns als Nächstes freuen?
Ich sitze an einer Deutschland-Trilogie: Schwarz, Rot, Gold. Seit einigen Monaten bin ich dran, Schwarz ist geschrieben, diese Produktion wird schon vom ZDF begleitet, Gold ist auf dem Weg, da schriebe ich gerade am Buch. Und für Rot habe ich bereits eine Idee. Ich möchte mich weiter abarbeiten an diesem Land, das wohl meine Heimat ist, in dem ich aber doch nie ganz einheimisch sein kann: Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben, werde aber doch nie ganz ankommen.
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