Viele Tage sind das seltsame Quintett und sein bärbeissiger Kapitän bereits auf offener See unterwegs, als endlich Land in Sicht ist. Doch für die fünf Burschen an Bord des Segelschiffes ist die pittoresk aufragende, überwucherte Insel nicht das eigentliche Ziel ihrer Reise. Es muss schon einige Zeit her sein, seit sie den elterlichen Hafen hinter sich gelassen haben, doch wie sie, die gefangenen Passagiere, hat man auch als Zuschauer_in in Les garçons sauvages bereits nach wenigen Minuten jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren.
Der Grund dieser Reise in eine andere Welt ist ein grausamer: Weil sie sich in der Zivilisation nicht zivilisiert benommen haben, wurden die Jungmänner von ihren dekadent reichen Familien auf eine Strafexpedition entsandt. Sie sollen für den kollektiven Lustmord an ihrer Literaturprofessorin – ausgerechnet bei einer Theaterprobe von «Macbeth» – büssen und auf der geheimnisvollen Insel resozialisiert werden. Der okkulte Wahn, dem die Dandys in ihren dunklen Hosen und weissen Hemden anhängen, würde ihnen damit ausgetrieben, so die Meinung der feinen Elterngesellschaft. Tatsächlich wird ihre Tortur nur eine andere Form annehmen und andere Opfer fordern. Ein eigenes eingeschlossen.

Les garçons sauvages, das späte Langfilmdebüt des 49-jährigen Experimentalfilmers Bertrand Mandico, hat sich zu Recht als einer der verstörendsten französischen Filme der jüngsten Vergangenheit einen Namen gemacht. Mandicos Film ist ein visueller Parforceritt, weniger eine Erzählung als Halluzination; ein Film, der aber auch aus jenen Arbeiten herausragt, die das Zurich Film Festival in seinem diesjährigen, dem französischen Kino gewidmeten Länderfokus «Neue Welt Sicht» versammelt. Dass Mandico für seine albtraumartige, mit sexuellen Metaphern befeuerte Reiseerzählung sich nicht nur unzähliger literarischer und filmhistorischer Referenzen und Reverenzen bedient, sondern auch auf das anhaltend produktive Subgenre des Coming-of-Age-Films zurückgreift, ist kein Zufall: Wer das Leben als metaphorische Fahrt ins Ungewisse versteht, sieht dorthin, wo die Strömung oft am stärksten ist.
Gebrochene Zuversicht
Dass sich eine stattliche Anzahl an Filmen dieser Sektion dem Thema des Erwachsenwerdens widmet, hat wohl auch damit zu tun: In einer Welt, die dermassen intensiv vom Gefühl eines rasanten Wandels bestimmt ist, bildet der Coming-of-Age-Film besser denn je eine ideale Projektionsfläche für Ängste, Nöte und Hoffnungen. Das war zwar schon vor Jahrzehnten nicht anders, mit der Herausbildung einer originären Jugendkultur und dem gesellschaftspolitischen Umbruch nach 1968, doch was die aktuellen Coming-of-Age-Filme des europäischen Autorenkinos von ihren historischen Vorgängern unterscheidet, ist das Gefühl des unbestimmbaren Verlusts.
Revolution oder Anpassung können nur dann zu Erfolg oder schlimmstenfalls lebenslangem Misserfolg führen, wenn man weiss, wo man (nicht) hingehören will. Doch was geschieht, wenn es einen solchen Platz nicht mehr gibt? Wenn die Suche nach der «richtigen» Identität zum Ergebnis führt, dass eine solche nicht mehr zu finden ist?
In Seize printemps von Suzanne Lindon, in dem die Filmemacherin auch die Hauptrolle spielt, mutet die Erzählung zwar vergleichsweise klassisch an – junge Frau verliebt sich in älteren, kunstsinnigen Mann –, doch Lindon nähert sich in ihrem Spielfilmdebüt dem «Frühlingserwachen» einer Sechzehnjährigen auf behutsame, nahezu lyrische Weise. Der Alltag von Suzanne als Schülerin – Lindon schrieb das Drehbuch bereits vor einigen Jahren noch als Teenagerin – ist geprägt von französchem Ennui, von erzwungenem Nichtstun angesichts der für Suzanne beschränkten Möglichkeiten, die ein junges Leben selbst in Paris mit sich bringt.
Im Gegensatz zu einer konventionellen Romanze mit bittersüssem Ende richtet Lindon das Interesse indes auf die Ambivalenz dieser ungewöhnlichen Affäre: Selbst in den Momenten des Glücks, von denen in Seize printemps durchaus viele zu finden sind, fühlt Suzanne immer das in diese Beziehung bereits eingeschriebene Ende.

Als ob man auf das Ablaufdatum blicken würde, ehe man die Verpackung geöffnet hat, weiss sie, dass ihr Alltag eigentlich anders auszusehen hätte: Spass und Zerstreuung mit gleichaltrigen Freundinnen, die Halt bieten und Zugehörigkeit vermitteln. Der Welt die sechzehnjährige Stirn bieten und ihr mit Selbstbestimmung begegnen. Doch dieses Bild ist genauso ein imaginäres Konstrukt wie die ewige Liebe zu einem erwachsenen Mann. In Wahrheit richtet sich Suzannes Kampf nicht gegen die Erwartungshaltung der anderen, sondern gegen die eigene; nicht gegen die Welt der Erwachsenen, sondern gegen die eigene Vorstellung vom Leben als junge Frau.
Erwachsene Gewalt
Wie eine solche Beziehung hingegen völlig anders aussehen kann, davon erzählt Charlène Favier mit ihrem aussergewöhnlichen Regiedebüt und Wettbewerbsbeitrag Slalom. Und davon, was geschieht, wenn diese Beziehung zwischen junger Frau und erwachsenem Mann von Abhängigkeit, struktureller Gewalt und Machtverhältnissen bestimmt ist.
Die fünfzehnjährige Schülerin Lyz (Noée Abita) ist Skifahrerin und steht unter der Aufsicht ihres Trainers Fred (Jérémie Renier). Sie soll vom Ex-Champion in den französischen Alpen zu einem neuen Skirennstar aufgebaut werden. Sie solle aufhören, sich wie ein Kind zu benehmen, fordert Fred einmal von seiner Schülerin, und meint damit nicht nur ihr Verhalten, sondern dass er in Lyz nicht länger das Kind sehen möchte, sondern eine verfügbare und fügsame Frau. In Slalom geht es, anders als in Seize printemps, um den Schmerz, den seelischen wie körperlichen. Und um die sichtbaren und die unsichtbaren Wunden, die dieser zufügt und hinterlässt.
Dass Favier nicht direkt auf die regelmässig bekannt werdenden Missbrauchsvorwürfe im europäischen Spitzensport reagiert, versteht sich; es genügt zu wissen, dass Kontrolle immer mit Ausbeutung einhergeht – der Gefühle ebenso wie der des Körpers. Und dafür findet Favier wiederholt grossartige Bilder, etwa wenn die Kamera, von der Geschwindigkeit scheinbar berauscht, neben Lyz über die schneeweisse Piste mit ihren kaltblauen Begrenzungsstrichen rast, als ob das Ziel nicht die Bestzeit, sondern ein Entkommen wäre.
Slalom steht diesbezüglich – anders als der andere französische Coming-of-Age-Wettbewerbsfilm Gagarine über den Fluchttraum eines Burschen aus der Pariser Cité Gagarine – auch der realistischen Tradition des Genres am nächsten. Es ist jene motivische Linie, die Ende der Neunzigerjahre mit dem Kino von Jean-Pierre und Luc Dardenne (Rosetta) ihren Ausgang nahm, sich in die Berliner Schule, etwa bei Valeska Grisebach (Mein Stern), einschrieb und über Andrea Arnold (Fish Tank) bis zum aktuellen rumänischen Kino wie Alice T. von Radu Muntean reicht.

Dass das Coming-of-Age-Thema im europäischen Autorenkino – aber auch im US-Independentkino – seit Jahrzehnten auf Interesse und Resonanz stösst, hat nicht nur damit zu tun, dass es von jugendlichen Gefühlen erzählt, die jede_r kennt. Sondern auch damit, dass Jugend als Zustand des Wandels an sich wahrgenommen wird. Dass mit Céline Sciamma die augenblicklich wichtigste Stimme des europäischen Coming-of-Age-Films in Frankreich zu Hause ist (siehe Filmbulletin 6/2019), lässt sich am nachhaltigen Einfluss ihrer Arbeiten wie Bande de filles, Tomboy oder ihrem Drehbuch zu André Techinés Quand on a 17 ans eindeutig ablesen.
Schein und Werden
In Une fille facile von Rebecca Zlotowski, ebenfalls in der Sektion «Neue Welt Sicht» zu sehen, steht für die sechzehnjährige Naïma (Mina Farid) eine Entscheidung an, die darauf hinausläuft, sich der eigenen Weiblichkeit zu vergewissern und damit im gleichen Atemzug die erste einschneidende Erfahrung von Einsamkeit zu machen. Naïma wohnt mit ihrer in der Gastronomie arbeitenden Mutter am Stadtrand von Cannes, dort, wo die Stadt längst nicht mehr so glamourös aussieht, wie man sie zu kennen glaubt.
Die grossen Ferien haben begonnen, als ihre 22-jährige Cousine Sofia (Zahia Dehar) aus Paris für den Sommer bei ihr einzieht. Sofia liebt den Luxus, gibt sich verführerisch und verkörpert auf den ersten Blick jenes «leichte Mädchen», das Zlotowski ihrer eigentlichen Protagonistin Naïma gegenüberstellt. Das wird besonders deutlich, wenn es auch in Une fille facile einmal mehr zu einer Bekanntschaft der jungen Frauen mit zwei älteren Männern, einem südamerikanischen Kunsthändler (Nuno Lopes) und seinem intellektuellen Freund (Benoît Magimel), kommt, deren protzige Yacht im Hafen vor Anker liegt. Die flirrende Atmosphäre erinnert an die Sechzigerjahre und legt sich schwer über eine für Naïma anziehende und zugleich fremde Welt.
Doch der mondäne Schein von Reichtum und Schönheit hat längst seine Blendkraft verloren, auch weil Zlotowski geschickt die wechselseitigen Vorurteile hinterfragt. So wie die Männer keineswegs nur die bösen Verführer sind, so wenig lässt sich die unablässig posierende Sofia mit Luxus tatsächlich kaufen. Und Naïma? Sie landet dort, wo jeder Coming-of-Age-Film endet: beim nächsten Schritt.
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