Natürlich, 2020, es wird einem in diesem Jahr wohl jede einfache Freude genommen: Just als eine Retrospektive auf Der Richter und sein Henker geschrieben werden soll – ein Text über die Dürrenmatt-Verfilmung von 1975 mit Jon Voight in der Hauptrolle des Berner Polizisten Walter Tschanz –, erscheint der gealterte Schauspieler in einem bizarren Video auf Twitter. Im religiösen Rausch erahnt er darin die Apokalypse, seinen Wahnsinn absurderweise von Karten off-screen ablesend; den gewählten Demokraten Joe Biden fürchtet er als einen von Satan Gesandten. Nun stehe den Konservativen ein Kampf bevor – im Ausmass eines Civil War.
Nun gut, man kann heute also höchstens noch erahnen, welch ein New-Hollywood-Star Voight war, als er 1974 nach getaner Arbeit vom Set von The Odessa File lief und nach Bern kam, um hier den Schweizer Detektiv zu mimen. Davor hatten ihn etwa Midnight Cowboy (1969), Catch 22 (1970) und Deliverance (1972) dem internationalen Publikum bekannt gemacht. Und als Produkt der Siebzigerjahre ist er immerhin für eine aktualisierte Variante der Männlichkeit in Hollywood gestanden – passend zu seinen damals noch liberalen Ansichten und aktiven Protesthandlungen gegenüber dem Vietnamkrieg. Aufregend also, sollte er nach Bern kommen und der Bundesstadt etwas Hollywoodglamour verleihen. Beim Dreh des britischen Odessa-Thrillers hatte er ausserdem den österreichisch-schweizerischen Schauspieler Maximilian Schell getroffen, der sich fürs Dürrenmatt-Projekt im darauffolgenden Jahr in den Regiesessel setzen sollte.

«Leiche zur Verfügung gestellt von Donald Sutherland»
Schell bearbeitete gemeinsam mit Dürrenmatt das Drehbuch dieser deutsch-italienischen Koproduktion. Von seiner Romanvorlage liessen sie die Filmversion an einigen Stellen abweichen: Zum Beispiel setzt der Film in geänderter Ordnung, einige Jahre vor dem eigentlichen Geschehen, 1948 in Istanbul, an, um die verhängnisvolle Wette zweier Freunde zu zeigen, die den Plot erst ins Rollen bringt. Gastmann wettet mit Bärlach, dass er vor seinen Augen einen Mord begehen könnte, und Bärlach nicht in der Lage wäre, ihm diesen zu beweisen. Daran erinnert sich Kommissar Bärlach (nun gespielt vom Amerikaner Martin Ritt) auch Jahrzehnte später, als erneut eine Leiche auftaucht, diesmal ein auf einer Berner Landstrasse erschossener Polizist.
Bereits jetzt, wenige Minuten nach Filmbeginn, wirds etwas absurd, auch grotesk, und es verrät sich, weshalb man den Kriminalfilm wohl selten zu den ganz grossen seiner Kategorie zählt: Der Getötete wird auf einem Foto im Film von Donald Sutherland – damals, kurz nach M*A*S*H (1970) und Don’t Look Now (1973) ebenfalls auf der Höhe seiner Bekanntheit – verkörpert; noch in den Schlusscredits ist zu lesen: «Leiche zur Verfügung gestellt von Donald Sutherland». Wer sich an dieser Stelle fragt, weshalb dafür ein Schauspieler von Format auf den Plan gerufen wurde (es mutet nach einer verlorenen Wette an), wird zugleich abgelenkt vom genremässigen Sprung des Films, der für einen Moment lang zur Slapstickkomödie wird. Denn die Leiche, die nun im Polizeiauto abtransportiert werden soll, erhält plötzlich ein Eigenleben: Sie rutscht über die Sitze des Autos, kippt nach vorne, erschreckt dabei Passanten und bleibt dann mit offenem Mund knien. In einem Film, der Minuten zuvor noch mit dem episch anmutenden Originalsoundtrack von Ennio Morricone ansetzte, und in dem sonst die Schauspieler_innen melancholisch durch dicken Nebel waten, vermag die Szene mehr als nur überraschen.

Too Much of a Good Thing?
Morricone und Sutherland in Bern, Drama und Groteske Hand in Hand: Schon wird klar, dass man es hier mit einem Gemisch an grossartigen Sachen zu tun hat, die für manch puristischen Geist nicht hätten zusammenkommen sollen. Redet man darum so selten über Der Richter und sein Henker, über das Sutherland-Cameo, Voights hübsch eingeübten Schweizer Akzent? Den zeitgenössischen Kritiker_innen aus Übersee zumindest war dies schlicht zu viel des Guten: 1976, als der Film im Little Carnegie Theater in New York gezeigt wurde, urteilte der «New York Times»-Kritiker Richard Eder, Der Richter und sein Henker (der dort unter dem wenig aussagekräftigen Titel «End of the Game» anlief) sei eine filmische Kuckucksuhr, «full of talent and fog». Aber die Mechanik der Uhr sei kaputt, denn anstelle jeder halben Stunde springe der Kuckuck hier alle anderthalb Minuten aus dem Häuschen. Es sei von allem zu viel: zu viele Symbole, zu viele Paradoxe, zu viele signifikante Kameraeinstellungen.
Man könnte es auch – etwas netter – eine europäische Sensibilität nennen, die Schell an seine dritte Regiearbeit vielleicht hat herantragen wollen und die ihn flexibel mit Tonalitäten und geistreich mit Blickwinkeln umgehen liess. Aber Nebel und Talent, davon gibt es in Der Richter und sein Henker unumstritten genug. Dafür stehen auch die nächsten Filmminuten, in denen, zurück im Polizeipräsidium, Bärlach einmal mehr über den Fall grübelt. Da tritt der Star durch die Tür: Der junge Voight, lange bevor er «gecancelled» wurde, mit blonder Pilzfrisur, strahlend. Er spielt den Detektiv Tschanz wissbegierig, eifrig, mit sofortigen Theorien, wie der Kollege Schmied wohl erschossen wurde – sein breites Lachen dabei keine Sekunde lang verlierend. Das perfekte Gegengewicht zu Ritts Bärlach, der, stets Zigarre rauchend, zynisch, eben alte Schule ist. Todkrank auch – was Voights rosige Wangen für seinen Tschanz so gar nicht suggerieren. Alleine der Clash dieser beiden Figuren macht den Film doch sehenswert.
Dürrenmatt selbst gibt’s gleich zweifach zu geniessen, einmal als geistiger Vater dieser Geschichte, die so perfekt verwoben ist, wie es eben nur einem Meister und – laut dem Buchumschlag des Sechzigerjahredrucks – dem Enfant terrible der Schweizer Literatur aus der Feder zu kommen vermag. Im Plot gibt er eine Szene lang den Buchautor Friedrich, mit randvollem Rotweinglas gegen sich selbst Schach spielend, und dem jungen Tschanz nochmals erzählend, was damals in Istanbul passiert ist. Es spricht für das Enfant terrible, in was für eine wunderbar selbstironische Mise en abyme er sich in seinen eigenen Krimi einschrieb. Denn auch im Film erzählt er die Geschichte so, als wäre sie eben nur das: eine Geschichte. Tschanz versucht zu entwirren, sich gegen seine eigene Fiktionalität zu sperren, während er langsam realisiert, dass auch er nur ein Figürchen im Schachspiel ist.

Too Much of a Good Thing is Wonderful!
Zugegeben, für vollen Genuss darf man auch als Zuschauer_in nicht allzu stier nur der Geschichte folgen, sondern sollte sich an allen Ausschmückungen erfreuen: Da wäre zum Beispiel das – für Standards narrativer Filme zugegebenermassen etwas lang gehaltene – Close-up von Weimarer-Kino-Liebling Lil Dagover, die im Film zwar nur die Mutter von Antagonist Richard Gastmann spielt, davor und danach keine signifikante Rolle im Plot innehat, aber mit Tränen in den Augen und scheinbar bis auf die Knochen erschüttert hier auch im hohen Alter Schauspieltalent beweist. Ein Exzess. Und natürlich Robert Shaw als ihr Sohn, der Bösewicht Gastmann: Im gleichen Jahr noch war Shaw als der kauzige Seebär Quint in Jaws zu sehen, und nun steht er da, am Zürcher Flughafen, perfekt die Imagination des Schweizer Grossindustriellen/Kriminellen mimend, grinsend mit Fellmütze, und von bodenloser Kaltherzigkeit.
Das Schönste an diesem wunderbar überladenen Film ist aber, wie nahtlos Hollywood vor dem Berner Backdrop aufgeht; man will beinahe vergessen, dass Voight, Ritt und Shaw hier mitspielen und eben nicht Müller und Meier. Besonders in der deutschen Sprachversion, die damals für die Auswertung im deutschsprachigen Raum gleich mitproduziert wurde, und in der die Schauspieler_innen mit sympathischem Schweizerhochdeutsch synchronisiert sind. Die Schweiz erscheint hier plötzlich nicht mehr als das Schoggi-Paradies, sondern zeigt sich von der düsteren Seite, als perfekte Spielwiese dieser Geschichte um Mord und Totschlag, auf der alles ständig bedrohlich erscheint, der Humor morbide ist und die Dialoge so wortgewandt daherkommen, dass es für Freund_innen des Genrekinos ein seltenes Vergnügen ist. Hier baut sich ein Schweizer Imaginäres auf, das wohl so falsch wie verführerisch ist: Gepards streichen da durch eine Schweizer Villa, in der zugleich Jacqueline Bisset im Morgenmantel aus den Daunen steigt. Wieso eigentlich nicht.
Wohl wegen dieses «too much» wird Der Richter und sein Henker wahrscheinlich auch im kommenden Jahr, anlässlich des 100. Geburtstags des Schriftstellers, allzu gerne vergessen werden, wenn von Dürrenmatts Werken die Rede ist. Gerade deswegen soll einem der Film aber nahe beim Herzen sein: Selten erschien die Schweiz so hollywoodreif, Dürrenmatts Protagonist_innen so wendig. Daran kann 2020 auch ein Trump-liebender Voight nicht rütteln.
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